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Chronik und Quellen
1938
November 1938

Bericht über den Pogrom

Eine unbekannte Person berichtet über den Pogrom in einer Mittelstadt, einem Dorf und einem landwirtschaftlichen Lehrgut:

12. November 1938

Nachstehend berichten wir ausschnittweise von den Ereignissen vom 10. und 11. November 1938 in A., einer deutschen Stadt mit 30000 Einwohnern, davon 300 Juden, in B., einem Dorf mit 700 Einwohnern, davon 25 Juden, in C., einem abseits gelegenen jüdischen Bauernhof mit Landwirtschaftsschülern. - Einen Gesamtüberblick haben wir heute, am 12. November, noch nicht. - Unserem Bericht liegen Tatsachen zu Grunde, die wir mit eigenen Augen gesehen haben oder uns von den Betroffenen mitgeteilt wurden.

In A. begann die Aktion am 10. November damit, dass in der Früh um 6.30 Uhr einige prominente Juden, auch Frauen, aus den Betten geholt wurden. Sie wurden vor die Synagoge geführt, mussten sie aufschließen und waren Zeugen des Nachfolgenden: Uniformierte SS-Leute drangen in die Synagoge ein, verließen sie jedoch schnell wieder. Gleich danach explodierten mehrere Bomben, und die Synagoge stand in Flammen. Die Fensterscheiben der benachbarten Wohnungen gingen in Trümmer. (Die christlichen Bewohner der umliegenden Häuser waren bereits am Abend vorher ersucht worden, ihre Möbel aus der Fensternähe wegzustellen.) Die Feuerwehr stand mit den Händen in der Tasche dabei und beschränkte sich auf das Abspritzen der anliegenden Häuser. Von der Synagoge stehen nur noch die vier Mauern.

Zur gleichen Stunde wurden alle männlichen Juden zwischen 20 und 70 Jahren, etwa 60 an der Zahl, und auch einige Frauen verhaftet. Die Frauen wurden gegen 9 Uhr wieder freigelassen und an der brennenden Synagoge vorbei nach Hause geführt. - Die Männer wurden unter Anwendung gröbster Mittel in das Heim der Gestapo verbracht, auch körperlich und geistig schwer behinderte Menschen. Einige, so ein 70- jähriger Mann, wurden schwer misshandelt, verprügelt, dass sie geschwollen sind und blutüberströmt dalagen. Einer wurde dann noch ins Wasser geworfen und „durfte“ heimgehen. - Die anderen wurden zum Teil in einen Kellerraum gesperrt, den sie auch zum Verrichten der Notdurft nicht verlassen durften, andere mussten stundenlang mit [dem] Gesicht gegen die Wand stehen. Gegen Abend wurden einige wenige, vor allem ältere, entlassen. Von den anderen wurde ein Teil auf Lastautos zur Bahn geführt und mit Fußtritten in Eisenbahnwagen befördert. Wohin sie verbracht wurden, wissen wir nicht. Ein Teil wurde ins Lokalgefängnis abgeführt.

Die aus der Haft Entlassenen sind fast nicht zum Sprechen zu bewegen; doch ihre Wunden und das Grauen in ihren Augen sprechen. - Die in ihren Wohnungen Belassenen, deren Verlassen ihnen zum Teil verboten worden ist, sind der Verzweiflung nahe. Völlige Ungewissheit über das Schicksal der Männer und Angst vor der nächsten Zukunft beherrscht sie. Von Verwandten in anderen Orten erhalten sie Telefonanrufe und Telegramme, ob sie zu ihnen zum Wohnen kommen könnten. - Die wenigen noch bestehenden jüdischen Geschäfte wurden von der Polizei geschlossen.

In B. spielten sich die Ereignisse wie folgt ab: Um 6.30 Uhr wurden sämtliche Männer und ein „Judenknecht“ von einem von auswärts gekommenen SS-Trupp vor die Synagoge geführt. Nachdem der Thoraschmuck von der SS abtransportiert war, wurde die Synagoge in die Luft gesprengt. - Die Männer wurden dann ins Rathaus abgeführt. Dort wurden sie, aber erst nachdem die einheimische Gendarmerie ausgeschaltet war, ausnahmslos auf das fürchterlichste malträtiert; jeder erhielt mit zwei Prügeln ungefähr 80 Schläge und schwere Fußtritte. Einem Kriegsteilnehmer, Frontkämpfer, der seine Ordensbänder angesteckt hatte, wurde besonders schwer zugesetzt und seine Teilnahme am Weltkrieg von den jungen Burschen bezweifelt und verhöhnt.

Während dieser Zeit wurden die Häuser durchsucht, der Schmuck beschlagnahmt und Geldbeträge entwendet. - Gegen 18 Uhr wurden die Männer wieder entlassen. Sie kamen in bejammernswertem Zustand nach Hause. Um 20 Uhr wurden sie von neuem verhaftet. Wohin sie dann abtransportiert worden sind, wissen wir nicht.

Die christliche Dorfbevölkerung war bei allen Vorgängen völlig anteillos.

Aus C., dem isoliert gelegenen Bauerngut, erhalten wir den Bericht, dass alles demoliert worden sei und der Hof einem Lazarett gleiche.

Wir haben hier nur Tatsachen berichtet. - Das Entsetzen und die Angst, die über die betroffenen Menschen gekommen sind, vermögen wir nicht zu schildern. Die Trauer um die zerstörten heiligen Stätten, der Verlust so vieler Werte und der Existenz werden schweigend hingenommen. Nur bange Sorge um das Leben ihrer Angehörigen beherrscht die Menschen.

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