Der Regierungspräsident Wiesbaden berichtet
Der Regierungspräsident Wiesbaden berichtet am 27. Dezember 1934 über November und Dezember:
An zahlreichen jüdischen Geschäften wurden häufig in den Nachtstunden Aufschriften, die sich gegen den Einkauf bei Juden richten, angebracht. Z.B. ''Ein Deutscher kauft nicht beim Juden''. Auf Straßen und Bürgersteigen wurden Inschriften ''kauft nicht bei Juden'' in meterhoher Balkenschrift angebracht.
In einem anderen Falle wurden Posten an und in die Eingänge zu einem jüdischen Kaufhaus aufgestellt, die das Publikum am Betreten des Kaufhauses hinderten. Auch wurde das Photographieren dieser Leute vorgetäuscht, um so einen Druck auf das kaufende Publikum auszuüben. Man schritt weiter zur Bildung von Sprechchören, die zum Nichteinkauf in jüdischen Geschäften aufforderten. Am 23. Dezember wurden in Frankfurt am Main vor gewissen Geschäften Sperrketten gebildet. In Verfolgung des Eingreifens des Feldjägerkorps kam es zu Zusammenstößen mit der SS , wobei die Feldjäger von der blanken Waffe Gebrauch machten (Sonderbericht ist erstattet).
In den letzten Tagen wurde beobachtet, daß sich teilweise auch Angehörige der SA und HJ in Uniform an dem Boykott beteiligten.
Die parteiamtliche Presse enthielt Aufrufe im Inseratenteil: ''Bist du wirklich Christ? Dann lege unter den Weihnachtsbaum nur Geschenke aus christlichen Geschäften. Siehe die judenfreien Anzeigen des Frankfurter Volksblattes.''
Als Antwort auf den Boykott deutscher Waren im Ausland hat Otto Fischer, Frankfurt am Main-Rödelheim, Dreispitzstraße 6 im Verlag des ''Frankfurter Volksblattes'' ein Buch unter dem Titel ''Eine Antwort auf die Greuel- und Boykotthetze der Juden im Ausland'' herausgegeben, das die jüdischen Geschäfte darunter auch, wie das Volksblatt mitteilt, irrtümlicherweise leider einige arische Firmen namentlich und branchenmäßig alphabetisch geordnet enthält. Die Herausgabe dieses Buches ist Gegenstand längerer Zeitungsausführungen gewesen, z.B. Frankfurter Zeitung vom 13. Dezember 1934 ''Rassenunterschiede und Wirtschaft''.
Auf Grund von Beschwerden, die durch den Boykott hervorgerufen wurden, bin ich vom Reichswirtschaftsminister durch Erlaß vom 10. Dezember 1934 - IV 9217/34 - zum Eingreifen aufgefordert worden gegen Maßnahmen, die nach den Erlaßausführungen als unzulässige Boykottmaßnahmen anzusehen sind.
Die Durchführung dieser Anordnungen bringt die Provinzialinstanz in die unangenehme Lage, sich möglicherweise in einen gewissen Gegensatz zur Bewegung zu setzen. Anläßlich eines Einzelfalles (Vermietung staatlicher Verkaufsläden an Juden in Bad Ems) habe ich bereits in meinem Bericht vom 25. Juni 1934 III 2 P I 7 an den Herrn Preußischen Finanzminister zum Ausdruck gebracht, daß die Behandlung der Judenfrage an dem Widerspruch der Judenpolitik der Ministerien und der Bewegung kranke. Wenngleich der Gauleiter mit mir darin übereinstimmt, daß Boykottmaßnahmen grundsätzlich unzulässig sind, so kommt die Verwaltungsbehörde doch sofort in Schwierigkeiten, wenn zu entscheiden ist, welche Maßnahmen unzulässige Boykottmaßnahmen sind. Die bekannten Schilder ''Deutsches Geschäft'', die infolge ihrer parteiamtlichen Ausgabe und allgemeinen Verbreitung zweifellos eine boykottähnliche Wirkung erzeugen, hält der Herr Gauleiter für zulässig, weil man es niemandem verwehren kann, sich als deutsches Geschäft zu bezeichnen. Ich kann mich dieser Auffassung nicht ohne weiteres verschließen und habe gegen diese Schilder nichts unternommen. Eine Klarstellung dieser Frage ist jedoch dringend erwünscht. Sollte sie in dem Sinne erfolgen, daß die Schilder unzulässig sind, bitte ich zu beachten, daß die Verwaltung in eine außerordentlich schwierige Lage kommt, wenn sie durch Polizeiorgane die parteiamtlich gestellten Schilder entfernen soll. Die Regelung kann deshalb nur über die Partei erfolgen.
Wenn im übrigen gewisse Maßnahmen als im allgemeinwirtschaftlichen Interesse unterbleiben sollen, so bitte ich zu beachten, daß dies durch die Polizeiinstanzen nur in beschränktem Umfange bewirkt werden kann. Das Postenstehen oder die Beschriftung des Straßenpflasters kann wohl unterbunden werden. Was darüber hinausgeht und die Organe der Presse der Bewegung angeht, ist dem Einfluß der Verwaltung entzogen. Hier zur Erreichung wirtschaftlicher Ziele die Organe der Verwaltung einzusetzen, ist nicht angängig. Die Regelung des gesamten Fragenkomplexes muß bereits in der Zentralinstanz erfolgen. Die Klärung des Gegensatzes zwischen den Grundsätzen der Bewegung im Kampf gegen die Juden und der Forderung des Wirtschaftsministeriums nach ihrer Duldung im Wirtschaftsleben kann nicht der Provinzialinstanz überlassen bleiben.