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Chronik und Quellen
1934
Dezember 1934

Bericht aus Wiesbaden

Der Regierungspräsident Wiesbaden erstattet ab 24. Dezember 1934 folgende Berichte für Dezember 1934:

Die jüdische Vereins und Versammlungstätigkeit ist rege. Es ist zu beobachten, daß die geschäftliche Lage der Juden, so der jüdischen Viehhändler auf dem Lande und auch verschiedener Geschäfte sich bessert. So beschäftigen die Firmen Saalberg (ein größeres Filialunternehmen in Wiesbaden) und Blumenthal (großes Konfektions und Warenhaus ebenda) mehr Angestellte als 1933. Es wird die Beobachtung gemacht, daß die Kundschaft der jüdischen Geschäfte vielfach vom Lande stammt.

Die Juden Boykott Propaganda seitens der Bewegung hat sich wesentlich verstärkt. Ich verweise in dieser Beziehung auf die Ausführungen in meinem Sonderbericht betr. Fragen im Verhältnis der Staatsverwaltung und NSDAP.

Die Nachforschungen nach den Tätern der Verwüstungen auf dem israelitischen Friedhof in Bad Homburg sind noch immer ergebnislos geblieben. Im Zusammenhang mit dieser Angelegenheit sind, in der Nacht vom 30. November auf den 1. Dezember 1934 ein SS Sturmführer mit 5 SS Männern in das Haus Luisenstraße 35 gewaltsam eingedrungen, um bei dem dort wohnenden jüdischen Kaufmann Richard Rotschild Fotografien der zerstörten jüdischen Grabmäler zu beschlagnahmen. Nachdem Rotschild ihnen gesagt hatte, daß die fraglichen Bilder bereits durch die Polizei beschlagnahmt worden seien, haben sich die SS Männer wieder entfernt. Der durch das Aufbrechen verschiedener Türen entstandene Sachschaden wird auf 50 RM geschätzt. Durch den Hauseigentümer Becker, Bad Homburg wurde Strafanzeige erstattet.

Diese sowie die übrigen Vorgänge sind der Feldjägerbereitschaft in Frankfurt am Main übersandt, die sie ihrerseits über die Staatspolizeistelle der Staatsanwaltschaft übergeben hat.

 

An zahlreichen jüdischen Geschäften wurden häufig in den Nachtstunden Aufschriften, die sich gegen den Einkauf bei Juden richten, angebracht, z.B. ''Ein Deutscher kauft nicht beim Juden''. Auf Straßen und Bürgersteigen wurden Inschriften ''kauft nicht bei Juden'' in meterhoher Balkenschrift angebracht.

In einem anderen Falle wurden Posten an und in die Eingänge zu einem jüdischen Kaufhaus aufgestellt, die das Publikum am Betreten des Kaufhauses hinderten. Auch wurde das Fotografieren dieser Leute vorgetäuscht, um so einen Druck auf das kaufende Publikum auszuüben. Man schritt weiter zur Bildung von Sprechchören, die zum Nichteinkauf in jüdischen Geschäften aufforderten. Am 23. Dezember wurden in Frankfurt am Main vor gewissen Geschäften Sperrketten gebildet. In Verfolg [sic] des Eingreifens des Feldjägerkorps kam es zu Zusammenstößen mit [der] SS , wobei die Feldjäger von der blanken Waffe Gebrauch machten. (Sonderbericht ist erstattet).

In den letzten Tagen wurde beobachtet, daß sich teilweise auch Angehörige der SA und HJ in Uniform an dem Boykott beteiligen.

Die parteiamtliche Presse enthielt Aufrufe im Inseratenteil:

''Bist Du wirklich Christ? Dann lege unter den Weihnachtsbaum nur Geschenke aus christlichen Geschäften. Siehe die judenfreien Anzeigen des Frankfurter Volksblattes.''

Als Antwort auf den Boykott deutscher Waren im Ausland hat Otto Fischer, Frankfurt am Main Rödelheim, Dreispitzstraße 6 im Verlag des ''Frankfurter Volksblattes'' ein Buch unter dem Titel ''Eine Antwort auf die Greuel und Boykotthetze der Juden im Ausland'' herausgegeben, das die jüdischen Geschäfte, darunter auch, wie das Volksblatt mitteilt, irrtümerlicherweise leider einige arische Firmen namentlich und branchenmäßig alphabetisch geordnet enthält. Die Herausgabe dieses Buches ist Gegenstand längerer Zeitungsausführungen gewesen, z.B. Frankfurter Zeitung vom 13. Dezember 1934 ''Rassenunterschiede und Wirtschaft''.

Auf Grund von Beschwerden, die durch den Boykott hervorgerufen wurden, bin ich vom Herrn Reichswirtschaftsminister durch Erlaß vom 10. Dezember 1934 IV 9217/34 zum Eingreifen aufgefordert worden gegen Maßnahmen, die nach den Erlaßausführungen als unzulässige Boykottmaßnahmen anzusehen sind.

Die Durchführung dieser Anordnungen bringt die Provinzialinstanz in die unangenehme Lage, sich möglicherweise in einen gewissen Gegensatz zur Bewegung zu setzen. Anläßlich eines Einzelfalles (Vermietung staatlicher Verkaufsläden an Juden in Bad Ems) habe ich bereits in meinem Bericht vom 25. Juni 1934 III 2 P I 7 an den Herrn Preußischen Finanzminister zum Ausdruck gebracht, daß die Behandlung der Judenfrage an dem Widerspruch der Judenpolitik der Ministerien und der Bewegung kranke. Wenngleich der Gauleiter mit mir darin übereinstimmt, daß Boykottmaßnahmen grundsätzlich unzulässig sind, so kommt die Verwaltungsbehörde doch sofort in Schwierigkeiten, wenn zu entscheiden ist, welche Maßnahmen unzulässige Boykottmaßnahmen sind. Die bekannten Schilder ''Deutsches Geschäft'', die infolge ihrer parteiamtlichen Ausgabe und allgemeinen Verbreitung zweifellos eine boykottähnliche Wirkung erzeugen, hält der Herr Gauleiter für zulässig, weil man es niemandem verwehren kann, sich als deutsches Geschäft zu bezeichnen. Ich kann mich dieser Auffassung nicht ohne weiteres verschließen und habe gegen diese Schilder nichts unternommen. Eine Klarstellung der Frage ist jedoch dringend erwünscht. Sollte sie in dem Sinne erfolgen, daß die Schilder unzulässig sind, bitte ich zu beachten, daß die Verwaltung in eine außerordentlich schwierige Lage kommt, wenn sie durch Polizeiorgane die parteiamtlich gestellten Schilder entfernen soll. Die Regelung kann deshalb nur über die Partei erfolgen.

Wenn im übrigen gewisse Maßnahmen als im allgemeinwirtschaftlichen Interesse unterbleiben sollen, so bitte ich zu beachten, das dies durch die Polizeiinstanzen nur in beschränktem Umfange bewirkt werden kann. Das Postenstehen oder die Beschriftungen des Straßenpflasters kann wohl unterbunden werden. Was darüber hinausgeht und die Organe und Presse der Bewegung angeht, ist dem Einfluß der Verwaltung entzogen. Hier zur Erreichung wirtschaftlicher Ziele die Organe der Verwaltung einzusetzen, ist nicht angängig. Die Regelung des gesamten Fragenkomplexes muß bereits in der Zentralinstanz erfolgen. Die Klärung des Gegensatzes zwischen den Grundsätzen der Bewegung im Kampf gegen die Juden und der Forderung des Wirtschaftsministeriums nach ihrer Duldung im Wirtschaftsleben kann nicht der Provinzialinstanz überlassen bleiben.

 

In Frankfurt a.M. kam es nach einem Bericht der Staatspolizeistelle für den Regierungsbezirk Wiesbaden im Laufe des Nachmittags des 23. Dezembers vor jüdischen Geschäften und Warenhäusern bis zum Geschäftsschluß zu Ansammlungen, die dadurch entstanden, daß junge Leute in Zivil Sperrketten vor den Geschäftshäusern bildeten und die Kauflustigen darauf hinwiesen, nicht beim Juden, sondern in christlichen Geschäften zu kaufen. Da durch die Schutzpolizei festgestellt wurde, daß es sich um Angehörige der Partei und der hinter ihr stehenden Formationen handelt, wurde das Überfallkommando z.b.V. zum Einschreiten veranlaßt. Hierbei kam es zu einem Zusammenstoß zwischen den Beamten des Feldjägerkorps und SS -Männern, welche die von den Feldjägern festgenommenen SS-Kameraden befreien wollten. Nach Mitteilung der Feldjägerbereitschaft mußte von der blanken Waffe Gebrauch gemacht werden.

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