Bericht aus Frankfurt/M.
Die Feldjägerbereitschaft 1/V Frankfurt/M. erstattet am 25. Dezember 1934 folgenden Bericht für den 23. Dezember 1934:
Am Sonntag, den 23.12.34 fanden in Frankfurt a. Main erhebliche Ausschreitungen gegen jüdische Geschäfte statt.
Der Boykott wurde anscheinend von der NS-Hago unter Zuhilfenahme von Angehörigen nationaler Verbände, insbesondere der SS durchgeführt.
Da sich bei [sic] den Menschenansammlungen, die hauptsächlich auf der Zeile vor den Geschäften Ehrenfeld und Kaufhof AG und an der Hauptsache [sic] vor dem Geschäfte Salberg zu stattfanden, auch SA und SS Männer in Uniform befanden, wurden von der diesseitigen Bereitschaft Streifen mit der Weisung eingesetzt, die Uniformierten von diesen Ausschreitungen fernzuhalten; um 16.40 Uhr wurde die in der Gutleutkaserne liegende F[eld]J[äger]-Wache nach der Zeil gerufen, wo Passanten versuchten, das Geschäft von Ehrenfeld zu stürmen und die Schaufenster zu zertrümmern. Da die Menschenmenge sowohl aus Zivilisten als auch aus Uniformierten bestand, rückte die FJ -Wache, bestehend aus O[ber]F[eld]J[äger] Becker, FJ Rüttinger und Weil zusammen mit 2 Beamten des Schutzpolizei-Überfallkommandos aus. Beim Verlassen des Überfallwagens wurden die FJ und die Polizeibeamten von den Demonstranten mit lauten Schmährufen empfangen. Dem einen Polizeibeamten wurden die Achselklappen und der Schulterriemen heruntergerissen. Da bei diesem Vorfall nur Zivilisten beteiligt waren, wurden die ersten fünf Personen, die sich besonders hervorgetan hatten, auf den Überfallwagen gebracht, um zwecks Feststellung der Personalien zum nächsten Polizeirevier gefahren zu werden. Als sich der Wagen in Bewegung setzte, versuchten Zivilpersonen, die Festgenommenen zu befreien, indem sie sich auf die Trittbretter des Wagens schwangen. Die FJ und die Polizeibeamten versuchten, die letztgenannten Zivilpersonen vom Wagen wegzustoßen, was jedoch infolge der großen Übermacht nicht gelang. Die Menge ging vielmehr zum Angriff über. FJ Rüttinger und OFJ Becker wurden von mehreren Personen am Schulterriemen und am Ringkragen gefaßt, um so aus dem Wagen gezogen zu werden. Die genannten Feldjäger sahen keine andere Möglichkeit der Rettung, als die, durch Ziehen des Hirschfängers sich der Angreifer zu erwehren. Zusammen mit den Polizeibeamten, welche ebenfalls blank gezogen hatten, gelang es dann dem FJ -Überfallkommando, den Wagen frei zu bekommen und weiter zu fahren. Da sich die festgenommenen Zivilpersonen während der Fahrt als Angehörige der SS zu erkennen gaben, wurden sie in die FJ -Unterkunft verbracht und bis zum Ladenschluß inhaftiert. Eine Feststellung der Personalien derjenigen Personen, welche gegen die Feldjäger tätlich vorgegangen sind, war nur in einem Falle möglich. Die FJ Schäfer und Glässer kamen in dem Augenblick vor das Geschäft Ehrenfeld, in dem das Überfallkommando abfahren wollte. Der FJ Schäfer konnte gerade noch die Person, welche den OFJ Becker tätlich angegriffen hatte, stellen. Da der Überfallwagen mittlerweile weggefahren war, wollten die FJ Schäfer und Glässer die betreffende Person zu Fuß nach der FJ Unterkunft bringen. An der Konstablerwache, etwa 300 m von dem vorherigen Tatort entfernt, versuchte eine größere Menschenmenge, den Festgenommenen zu befreien. Der FJ Schäfer konnte sich der Angriffe dieser großen Übermacht nur dadurch erwehren, daß er ebenfalls blank zog. Schäfer übergab den Festgenommenen einer inzwischen mit dem Dienstkraftrad herbeigeeilten FJ Streife, die ihn zur FJ Unterkunft brachte. Die FJ Schäfer und Glässer setzten darauf ihren Streifengang fort. Kurze Zeit später erschienen auf Kraftwagen und Motorrädern etwa 30-40 Angehörige der SS-Standarte M 11, größtenteils mit umgeschnallter Pistole. Diese SS-Männer nahmen sofort gegen die beiden FJ eine drohende Haltung ein, wobei ein SS-Mann, der der diesseitigen Bereitschaft bereits aktenmäßig bekannt ist, hinter dem Rücken der FJ seinen Dolch zog und nur durch das Dazwischentreten eines besonnenen Kameraden von einem tätlichen Angriff zurückgehalten wurde. Die beiden FJ , die dieser großen Übermacht fast wehrlos gegenüberstanden, wurden durch die inzwischen zurückgekehrte Kraftfahrstreife befreit. Gegen 19 Uhr erschienen, ebenfalls mit Pistolen ausgerüstet, etwa 30-40 SS-Männer in Uniform auf dem 4. Polizeirevier in der Ziegelgasse und verlangten die Personalien des Führers des Überfallkommandos, des OFJ Becker. Als sie von den Beamten des 4. Polizeireviers abgewiesen wurden, entfernten sich die SS-Männer unter Drohungen gegen die FJ .
Daß die Vorgänge von der FJ -Bereitschaft 1/V keineswegs übertrieben dargestellt werden, geht schon daraus hervor, daß einem Angestellten der Kaufhof AG von einem Demonstranten die Schädeldecke eingeschlagen wurde, und daß es an diesem Tage eine ganze Reihe von Verletzten gab.
Unverständlich ist der diesseitigen Bereitschaft die Einstellung der Gauleitung. Der Adjutant des Gauleiters Sprenger, Pg . Stöhr, versuchte fernmündlich, der FJ -Bereitschaft 1/V wegen ihres Vorgehens Vorhaltungen zu machen.
VSTL [Vernehmungsstellenleiter] Jäger wies diese Versuche der Gauleitung zurück.
Am Montag, den 24.12.34 kam es abermals an verschiedenen Stellen der Stadt zu Zusammenrottungen, die aber ruhig verliefen.
Es hat den Anschein, als ob bei dieser Aktion lediglich die SS eingesetzt worden ist, da Angehörige der SA nicht als Beteiligte festgestellt werden konnten. Nach Aussagen von FJ haben SA-Männer sich sogar zur Hilfeleistung erboten.
Da die FJ -Bereitschaft 1/V ein derartiges Verhalten der SS in keiner Weise ruhig hinnehmen kann und will, wird um Stellungnahme des Kommandos zu diesen Vorgängen gebeten. Die diesseitige Bereitschaft wird gegen die festgestellten Schuldigen Anzeige erstatten.