„Lagebericht“ des SD-Hauptamtes
Im Mai/Juni 1934 erstattet das SD-Hauptamt in Berlin folgenden „Lagebericht“:
Eintreten für das Judentum
Der nationalsozialistische Staat hat durch seine Gesetzgebung den Kampf gegen den übermäßigen Einfluß des Judentums im gesamten Kultur- und Wirtschaftsleben Deutschlands aufgenommen. Gegen diese Maßnahme wird von katholischer Seite zwar nicht offen Stellung genommen, aber aus zahlreichen Äußerungen geht deutlich die Sympathie für das Judentum hervor.
Besonders bemerkenswert war in dieser Beziehung die Wirkung der Adventspredigten des Kardinals Faulhaber über das Judentum. Obwohl Faulhaber in seinen Predigten betont, daß es sich für ihn ''nur um das vorchristliche Judentum'' handle, mußte doch die Themenstellung im gegenwärtigen Augenblick als eine Verteidigung des jüdischen Einflusses (Altes Testament!) erscheinen; schließlich hat sich ja doch die rassische Anlage des jüdischen Volkes in christlicher Zeit nicht verändert.
Selbst wenn der Kardinal dies nicht beabsichtigt hätte, hätte er doch die Wirkung voraussehen müssen. In der jüdischen und Auslandspresse werden Faulhabers Ausführungen als Verteidigung des Judentums aufgefaßt. Der ''Pester Lloyd'' vom 29.1.34 berichtet, daß sich Faulhaber ''gegen die Judenverfolgung'' wandte.
Die ''CV-Zeitung für das Judentum'' (Januar 1934) bringt einen Aufsatz ''Neue Begeisterung für unsere Heilige Schrift. Zu den Adventspredigten des Kardinals von Faulhaber'' von Rabbiner Dr. Baerwald , München. Zu der Äußerung des Kardinals, daß der Sturm gegen die Judenbücher, ''ein heiliges Feuer neuer Begeisterung für die heiligen Bücher entzünden'' werde, wird bemerkt: ''Wir können diese Worte nur mit Dankbarkeit und Befriedigung erwähnen''; und weiter: ''Wir haben den demütigen Stolz, daß der Welt durch uns die Offenbarung geschenkt ward.''
In einem Bericht der CV-Zeitung vom 29.3.34 über einen Vortrag von Dr. H. Frankenstein heißt es u.a.: ''Erzbischof Faulhaber hat in seinen Adventspredigten einen Trennungsstrich zwischen den biblischen und heutigen Juden gezogen. Das Judentum hat aber immer... an den Ewigkeitswerten festgehalten, die dem alten Volke Israel verkündet worden sind und vor denen sich auch das Christentum verneigt''.
Auch sonst wird mehrfach von Äußerungen katholischer Geistlicher gegen den Antisemitismus berichtet. In einzelnen Diözesen wurde gleichzeitig mit Rosenbergs ''Mythus des 20. Jahrhunderts'' das ''Handbuch der Judenfrage '' von Theodor Fritsch als für Katholiken verbotene Lektüre bezeichnet. […]
Die Judenfrage
Allgemeines
Die einzelnen Juden legen sich in ihrer politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Betätigung eine für ihre Rasse ungewöhnliche Zurückhaltung auf.
Politisch betätigen sie sich nur noch in ihren eigenen Belangen.
In ihrer wirtschaftlichen Betätigung sind sie durch das Ablaufen des Boykotts der jüdischen Geschäfte freier geworden. Der Geschäftsrückgang in den Warenhäusern , der bis Ende 1933 anhielt, ist durch Besserung des Umsatzes fast aufgeholt. Käufer sind hauptsächlich die Erwerbslosen, der verarmte Mittelstand und die Landbevölkerung. Bedauerlicherweise werden aber auch wieder Beamte und sogar Angehörige der Partei oder ihrer Nebenorganisationen festgestellt. Fast ungebrochen ist der Einfluß der Juden im Viehhandel .
Die Anordnungen des Reichswirtschaftsministeriums und des Reichsarbeitsministeriums über die Gleichstellung von Ariern und Nichtariern in der Wirtschaft haben neue Hoffnungen in der Judenschaft hervorgerufen.
Das Gefühl der Sicherheit, das die Juden erlangt haben, ist so groß, daß sie hier und da bereits wider den Stachel zu löken [sic] versuchen. Hier und da probiert einer, durch die Maschen der Gesetze zu schlüpfen. Durch geschickte Umgründungen, durch Scheinverkäufe, durch Bestellung von arischen Teilhabern oder Geschäftsführern sucht man seiner Firma einen deutschen Anstrich zu geben. Im Betrieb versucht man mit den Angestellten wieder nach den alten Methoden umzuspringen.
Diese Versuche wurden von den Behörden und den Parteistellen rasch abgestellt. Von unserer Presse wurden sie aufgegriffen und meist auch recht geschickt ausgewertet. Die Veröffentlichung solcher Fälle ist aber auch dringend notwendig, um im Volke das schwindende Bewußtsein um die Judenfrage wach zu halten.
Auch im öffentlichen Leben, in den Gaststätten, Theatern usw. und bei ihren eigenen Veranstaltungen halten sich die Juden im allgemeinen entsprechend zurück. Einzelfälle ungeschickten Auftretens, von unpassenden Ankündigungen eigener Veranstaltungen usw. werden von ihren Rassegenossen, von einer Organisation oder durch die Presse sofort aufgedeckt und beanstandet.
Unter dem Druck der deutschgewordenen Umwelt haben die Juden ihr eigenes Vereinswesen stark entwickelt und sich fast ausschließlich auf dieses zurückgezogen.
Das jüdische Organisationswesen
Die allgemeinen Organisationen der Juden lassen sich in drei Hauptgruppen einteilen, die Zionisten, die Mittelgruppe und die Nationaldeutschen.
Die Zionisten
Uns erscheint am klarsten die Stellung der Zionisten , die nicht nur der Religion nach Juden sein wollen, sondern sich auch zu ihrer jüdischen Eigenart bekennen und zu einem eigenen völkischen Staat kommen wollen.
Ihre Parolen: Studiert jüdische Geschichte, treibt verstärkte Bibelstudien, pflegt jüdisches Brauchtum, lernt wieder Hebräisch und: Wandert aus nach Erez Israel , der gelobten Heimat.
Organisationen dieser Gruppe:
Die zionistische Vereinigung für Deutschland , allgemein-politisch; die staatszionistische Organisation , allgemein-politisch; die unabhängige Misrachi -Landesorganisation Deutschlands, religiös-orthodox; die Agudas Jisroel , religiös-orthodox; der jüdische Nationalfonds e.V. ''Keren Kajemeth Lejisrael '', wirtschaftlich; das jüdische Palästinawerk e.V., ''Keren Hajessod '', wirtschaftlich.
Die Mittelgruppe
Hierher gehören der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens ; der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten e.V.
Diese Richtung braucht in ihren Veröffentlichungen und bei den Neugründungen von Neben- und Hilfsorganisationen gern das Wort ''deutsch-jüdisch '' (wobei die beiden Wortstämme gleichwertig sein sollen!) In vielen Aufsätzen versuchen sie dieses Zweiseelentum zu erklären, wobei sie natürlich um den Begriff Rasse gern herumgehen, und von der Religion auf der einen Seite, von der mit dem Wirtsvolk gemeinsamen Sprache Geschichte usw., kurz, der Kulturgemeinschaft auf der anderen Seite sprechen. Die bisher kürzeste Formulierung: Wir sind bestimmt durch Glaube und Heimat.
Die Nationaldeutschen
Der Verband nationaldeutscher Juden e.V. ist noch ''deutscher'' als der CV und betont das in seinem Programm und in allen möglichen Äußerlichkeiten.
''Unser im Jahr 1921 gegründeter Verband ist die nationalpolitische Kampforganisation derjenigen jüdischen Deutschen, die mit ihrem deutschen Vaterland und dem deutschen Volke auf Gedeih und Verderb verbunden und zu jeder Zeit vorbehaltlos zum vollen Einsatz für Vaterland und Nation bereit sind. Unsere Kundgebungen, mit denen wir in allen Teilen des Reiches an die Öffentlichkeit treten, enthalten stets das Bekenntnis zum deutschen Volke, zu dem wir gehören, gleichviel, wie unser persönliches Schicksal sei oder werden mag.''
Sie haben einen ''Führer'', der als ''Verbandsführer'' unterschreibt.
Sie haben auch das Führerprinzip:
''Die Vorstände (Ortsgruppenführer) und Mitglieder der Führerräte werden hierdurch ... abberufen, da sie es nicht verstanden haben, die Ortsgruppen trotz eines an sich ausreichenden Mitgliederbestandes zu einer den Verbandsgrundsätzen entsprechenden Form zusammenzuhalten und auszubauen. Bestimmungen über die zunächst kommissarischen Einsetzungen anderer Führer der Ortsgruppen werden von mir demnächst getroffen werden ... Die bisherigen Ortsgruppenführer haben unverzüglich über die von ihnen eingezogenen Mitgliederbeiträge mit der Geschäftsstelle abzurechnen ...'' (Es handelt sich um die Ortsgruppen Hamburg und Frankfurt a. Main.)
Auf jeder Versammlung bringen sie ein Hoch auf ihren Führer und auf Deutschland aus, singen das Deutschlandlied und ihre Bundeshymne. Man grüßt mit erhobenem rechten Arm. Es gibt einen Saalschutz, der weiße Armbinden und einheitliche Mützen trägt usw. usw.
Wichtiger als diese Kopiererei ist die Tatsache, daß der Verein n[ational]d[eutscher] J[uden] zu seinen Versammlungen alle möglichen Behördenvertreter einlädt mit dem Hinweis, daß diese anderswo auch teilgenommen hätten. Es macht auch fast den Eindruck, als ob mehr als nur Horchposten zu den Veranstaltungen der Nationaldeutschen gegangen seien.
Besonders bemerkenswert aber sind ihre Eingaben an die Reichsleitung des Arbeitsdienstes, dort zugelassen zu werden und ihr Gesuch an den Stabschef der SA , für ihren Wehrsport einen Inspekteur zu erhalten.
Von den beiden anderen jüdischen Gruppen wird das Verhalten der Nationaldeutschen als würde- und instinktlos abgelehnt, nämlich als der Versuch einer kleinen Gruppe, sich Sondervorteile auf Kosten der ganzen deutschen Judenheit zu verschaffen.
Gesamtorganisationen
Durch diese Zersplitterung des jüdischen Organisationswesens darf man sich nicht täuschen lassen, weil neben diesen drei Säulen verschiedene Möglichkeiten zu einer einheitlichen Willensbildung vorhanden sind.
Als erstes ist hier die gemeinsame Religion zu nennen, die den Juden durch Jahrhunderte hindurch ihre völkische Existenz erhalten und gesichert hat.
Im Herbst vorigen Jahres haben sich die Juden durch die Gründung der ''Reichsvertretung der deutschen Juden'' ein weiteres Instrument zur Wahrung ihrer gemeinsamen Belange geschaffen.
Allerdings ist das von der Mittelgruppe schon lange angestrebte Einigungswerk noch nicht ganz geglückt. Vorbehaltlos wird dieser Dachverband nämlich nur von ihr selbst anerkannt, während die Zionisten die Tätigkeit der Reichsvertretung abwarten und die Nationaldeutschen zunächst ablehnend gegenüberstehen.
Trotz dieser Ablehnung sind sie aber offensichtlich bemüht, etwas Tuchfühlung zu halten für den Fall, daß die Reichsvertretung von der Regierung oder der Bewegung einmal als solche anerkannt werden könnte. Außerdem ist zu beachten, daß die Zionisten und die CV-Gruppe zwangsläufig einander näher kommen, weil die ersteren jetzt ihr Augenmerk nicht mehr auf Palästina allein richten können, sondern auch der Situation in Deutschland Aufmerksamkeit schenken müssen, während der CV den Auswanderungsgedanken - vor allem unter dem Druck seiner Jugend - nicht mehr unbedingt ablehnen kann.
Neuerdings haben die zionistischen Gruppen, weil die Reichsvertretung den Assimilationsgedanken noch relativ zu stark betonte, als Gegenorganisation die ''jüdische Aktion '' gegründet. Es bleibt abzuwarten, wie weit sich diese durchsetzen wird. Es scheint aber nicht der Fall zu sein, denn bei einem tiefgehenden Konflikt zwischen den zionistischen und deutsch-jüdischen Sportverbänden wurde die Reichsvertretung zur Vermittlung angerufen.
Ob und wann die restlose Einigung des deutschen Judentums erfolgt, ist in erster Linie abhängig vom Verhalten der deutschen Gegenseite.
Eine Förderung der in diese Richtung drängenden Entwicklung bringt aber bei dem augenblicklichen Stand des Problems eine sehr große und noch nicht genügend erkannte Gefahr mit sich. Es kann nämlich sein, daß es uns nicht gelingt, unsere Juden zur Auswanderung zu bringen, weil die ganze bisherige Entwicklung sozusagen erstickt wird. Unsere Nachbarländer werden sich mit der Zeit weigern, nach den ersten 50.000 Juden noch die übrigen 550.000 aufzunehmen (von den Mischlingen ganz zu schweigen!). Die bisherigen Siedlungsversuche der Juden sind unzureichend, wie weiter unten gezeigt werden wird. Dann werden wir sie nicht mehr als vorübergehende unwillkommene Gäste in Deutschland behandeln können, sondern werden den augenblicklichen Zwischenstand legalisieren müssen. Wir werden die Juden vielleicht sogar als Minderheit anerkennen müssen und sie ewig auf dem Halse haben. Diese Gefahr rückt um so näher, je mehr sich die Juden in Deutschland als Minderheit fühlen. Wir leisten diesem Denken selbst Vorschub, wenn wir die Juden um der leichteren Verhandlungstechnik und der besseren Überwachung willen als Gesamtheit anerkennen und mit ihren Reichsvertretungen, Reichsausschüssen usw. verhandeln, statt mit ihren einzelnen Gruppen.
Die jüdischen Logen
Das stärkste Mittel zur Durchsetzung einer gemeinsamen jüdischen Linie dürfte jedoch der ''Unabhängige Orden Bne Brith '' sein. Mit seinen 20.000 Mitgliedern umfaßt er fast die gesamte jüdische Intelligenz. Bezeichnend ist, daß sein Großpräsident gleichzeitig Präsident der Reichsvertretung der deutschen Juden und Präsident des deutschen Rabbinerverbandes ist. Infolgedessen liegen die drei Klammern des deutschen Judentums in einer Hand.
Sonstige Organisationen
Die Sportorganisationen
Infolge der Einführung des Arierprinzips in allen bedeutenden Sportverbänden haben die Juden ihr eigenes Vereinswesen stark ausgebaut.
Die bestehenden Vereine konnten ihre Mitgliederzahl außerordentlich erhöhen. Sie haben sich neue Sportarten angegliedert. Zahlreiche neue Vereine wurden gegründet. In Einzelfällen war sogar zu beobachten, daß aus ursprünglich gemischten Vereinen rein jüdische geworden sind.
Eine Einheitsorganisation des jüdischen Sportes gibt es noch nicht. Bei den Zionisten ist führend der deutsche Maccabi-Kreis. In der Mittelgruppe die Sportabteilungen des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten e.V.
Die Nationaldeutschen scheinen keine nennenswerte Sportgruppe zu haben.
Jugendorganisationen
Womöglich noch bedeutender als beim Sport ist der Aufschwung des Vereinslebens in der jüdischen Jugend. Es war eine zeitlang fast ausgeschlossen, den zahlreichen Neugründungen und Zusammenschlüssen zu folgen.
Bemerkenswert und verständlich ist, daß die Jugend zu einem viel größeren Prozentsatz im Lager der Zionisten steht, als die Generation der älteren Juden. Die stärkste zionistische Jugendgruppe ist ''Der Hechaluz ''. Seine Haupttätigkeit erstreckt sich auf die Umschulung jüdischer Jugend in handwerkliche und landwirtschaftliche Berufe. Die für später geplante Auswanderung fördert er durch hebräische Sprachkurse.
Die früher außerordentlich zersplitterte Jugend der Mittelgruppe hat sich zu einem ''Bund deutsch-jüdischer Jugend '' zusammengeschlossen. Daneben gibt es aber auch noch eine Anzahl selbständiger kleinerer Verbände.
Über die Nationaldeutschen ist auch hier wenig zu berichten.
Besonders hervorgehoben werden muß aber, daß es einen ''Reichsverband der jüdischen Jugendverbände'' gibt, der als erste jüdische Reichsorganisation anerkannt worden ist und in direkten Verhandlungen mit der Reichsjugendführung , z.B. über die Frage der Uniformierung von einzelnen seiner Teilverbände steht. Hier ist es ganz offensichtlich, daß die Anerkennung als Verhandlungspartner die Reichsorganisation erst wirksam gemacht und ihr Macht und Autorität gegeben hat.
Die jüdische Presse
Ebenso wie die jüdischen Organisationen hat auch die jüdische Presse eine fast ungeahnte Entwicklung erfahren. Sowohl die Vereinszeitungen als auch die örtlichen Gemeindeblätter haben ihre Leserzahl vervielfacht, ihren Inhalt ausgestaltet, ihren Umfang vergrößert.
Als einziges Beispiel sei die Entwicklung der CV-Zeitung angeführt. Vor einem Jahre noch war sie ein kleines Nachrichtenblatt im Kleinformat. Im Herbst ging sie zum normalen Zeitungsformat über. Sie hat den politischen Teil ausgebaut und sich nacheinander einen Rechts- und Wirtschaftsteil angegliedert, dann eine Seite der Jugend, eine Kinderbeilage, ein Blatt der deutschen Jüdin und einen umfangreichen Anzeigenteil.
Den Platz auf der Titelseite haben meist Aufsätze über die geistige Situation der Juden, über die Auseinandersetzungen mit den anderen Gruppen, über die gesamtjüdischen Aufgaben usw. Der politische Teil scheint etwas dünn, trotzdem aber enthält er alles, was für den Juden wichtig ist. Die Zeitung bringt schnellstens alle neuen Verordnungen und Gerichtsentscheidungen im Wortlaut, häufig mit Ausführungen über ihre Bedeutung und Tragweite. Sie bringt alle einschlägigen Stellen aus Ministerreden usw., meist wörtlich, ohne auffällige Schlagzeile, aber doch an hervorgehobener Stelle. Daß sich die Schriftleitung hierzu meist der eigenen Stellungnahme enthält, ist nicht verwunderlich, die Juden wissen ja ohnedies, wie die Sache gemeint ist. Ebenso versteht es jeder Leser ohne Kommentar, warum seine Zeitung verhältnismäßig viel Nachrichten über die Auseinandersetzungen in und mit den christlichen Kirchen, Predigtauszüge usw., bringt. Spielen doch diese Dinge auch in seinen Unterhaltungen eine große Rolle. Hier ist vielleicht die einzige Stelle, wo die sonst so vorsichtigen Judenzeitungen etwas aus ihrer Zurückhaltung herausgegangen sind, die sie den ganzen Winter hindurch bewahrt haben.
Über die Zwischenfälle in Pommern, der Grenzmark, im Rheinland und in Franken im Februar bis März haben sie vorsichtigerweise gar nichts gebracht. (Bis auf den Zwischenfall in Gunzenhausen waren diese verhältnismäßig harmlos; eingeschlagene Fensterscheiben von Wohnungen, Synagogen usw.) Dafür aber sind diese von den jüdischen ausländischen Zeitungen ausgeschlachtet worden und sind von diesen aus natürlich auch in die übrige Presse gekommen und haben der Greuel- und Boykottpropaganda im Ausland einen nicht unbedeutenden Auftrieb gegeben. Hier arbeitet die jüdische wie die katholische Presse. Alles, was sie im Inland nicht schreiben dürfen, bringen sie in ihren Auslandszeitungen.
Als Beispiel sei die ''Wiener Neue Welt'' angeführt. Diese schreibt am 5.4.34 über den Zwischenfall in Gunzenhausen in Franken:
Das Pogrom im Gunzenhausen
...Das Signal zum Pogrom wurde in einer wüsten Wirtshausszene gegeben. Ein jüdischer Gast, der das Wirtshaus betrat, wurde von den christlichen Gästen schwer verprügelt und auf die Straße geworfen. Die Wirtshausgäste, verstärkt durch Nationalsozialisten, die an dem seit mehreren Tagen einhergehenden Judenboykottrummel beteiligt waren, gingen nun zum allgemeinen Angriff auf die von Juden bewohnten Häuser über.
Die Insassen, auch Frauen, wurden brutal aus ihren Wohnungen geschleppt, auf die Straße geworfen und unbarmherzig mißhandelt. Man zweifelt daran, ob der 20-jährige Jude Rosenfeld, der, nachdem er furchtbare Quälereien hat erleben müssen, an einem Gartenzaun erhängt aufgefunden wurde, Selbstmord begangen hat, wie die offizielle Version lautet. Rosenfeld hatte gewiß nicht mehr die Kraft zum Selbstmord. Man nimmt vielmehr an, daß er von seinen Peinigern aufgehängt worden ist. Bei dem Mann, der mit 4 Herzstichen tot auf der Straße aufgefunden wurde, handelt es sich um den 60-jährigen Gunzenhausener jüdischen Bürger Rosenau. Obwohl seitens der Behörden strengste Untersuchung der Mordfälle zugesichert wurde, hat man die beiden Todesopfer am Dienstag, den 27. März, auf Anordnung der Behörden beerdigt, ohne daß vorher eine gerichtliche Obduktion der Leichen stattgefunden hätte. Die verletzten Gunzenhausener jüdischen Bürger werden ärztlich behandelt. Alle jüdischen Einwohner, soweit sie nicht geflüchtet sind, leben in unendlicher Panik...
Das kulturelle und gesellschaftliche Leben
Der im Herbst mit Genehmigung des Reichsinnenministeriums gegründete Kulturbund der deutschen Juden hat sich in der Berichtszeit noch weiter entwickelt. Er und seine landschaftlichen Unterorganisationen sind mit einer großen Anzahl von Konzerten, Vortragsabenden und Theateraufführungen hervorgetreten.
Neuerdings ist ihm die Jüdische Buchvereinigung gefolgt, die bereits ihren ersten Jahresband: Georg Hermann ''Eine Zeit stirbt'', herausgebracht hat.
Die Geselligkeit pflegen die Juden fast ausschließlich in ihren Wohnungen oder aber in geschlossenen Gesellschaften. Das jüdische Schulwesen wurde bisher nur von den Zionisten gefördert und beschickt. Nunmehr ist auch die Mittelgruppe dazu übergegangen, ihre Kinder in rein jüdische Schulen zu schicken. Nur die Nationaldeutschen lehnen sie noch wie alles ''Ghetto in jeder Form'' ab. Demzufolge sind Ostern einige neue Schulen gegründet worden, die bestehenden haben ihre Schüler- und Klassenzahlen erhöht. Abschließende Zahlen liegen hier noch nicht vor.
Berufsumschichtung und Auswanderung
Berufsumschichtung
Das Problem der Berufsumschichtung der Juden ist bis 1932 fast ausschließlich akademisch erörtert worden. Nur geringe Teile der zionistischen Jugend haben sich an Lösungsversuche gewagt. Seit der Umwälzung ist aber für die Juden die ''Berufsnormalisierung'', wie sie es nennen, kein theoretisches Problem mehr, sondern eine drängende Aufgabe der Gegenwart. Man muß feststellen, daß sie sich der Lösung dieser Aufgabe mit großer Energie und beträchtlichem finanziellen Aufwand zugewandt haben. Der Zentralausschuß der Deutschen Juden für Hilfe und Aufbau hat für das erste Halbjahr 1934 einen Etat von 900.000 RM! Dazu kommen noch die Aufwendungen der Zionisten und die Gelder, die direkt für die Auswanderung aufgewandt worden sind.
In der CV-Zeitung vom 29.3.34 gibt der Zentralausschuß bekannt, daß sich zur Zeit 6.069 Juden in der Berufsumschichtung befinden. Von diesen wollen 3.331 in handwerkliche Berufe und 2.738 in die Landwirtschaft (von den letzteren sind 900 zur Ausbildung im Ausland, der Rest lernt in Deutschland in Kollektivwerkstätten oder aber in Volontärstellen). Einer großer [sic] Teil von ihnen hat die Absicht, nach Palästina auszuwandern.
Daß die Zahlen der Juden für ihre Umschulung zur Landwirtschaft nicht übertrieben sind, geht daraus hervor, daß sie im Ausland (Palästina, Frankreich, Holland) und im Inland eine ganze Anzahl landwirtschaftlicher Schulungskollektive eingerichtet haben. Darüber hinaus waren zahlreiche Juden als Volontäre bei deutschen Bauern tätig. Sie zahlten monatlich 30-60 RM und waren natürlich auch als Arbeitskraft wertvoll. Meldungen darüber liegen aus allen deutschen Gauen vor. Im Regierungsbezirk Frankfurt a.d.O. allein waren es mindestens 150! Gegen eine solche Umschulung ist nichts einzuwenden, wenn sie in geschlossenen Gruppen und im Hinblick auf eine spätere Auswanderung geschieht. Sie muß verhindert werden, wenn sie einzeln in deutschen Dörfern erfolgt und eine Ansiedlung in Deutschland vorbereiten soll.
Für den April erwartete man 9.000 Schulentlassene, von denen aber doch wieder 3.000 in kaufmännische Berufe gehen sollten, ''da berufene Fachleute vor einem hemmungslosen Einströmen in den handwerklichen und landwirtschaftlichen Beruf warnen''.
Interessant ist in diesem Zusammenhang ein ''Mahnwort an Eltern und Erzieher'' in der CV-Zeitung, das sich gegen den vorzeitigen Abbruch der Ausbildung an höheren Lehranstalten wendet. ''Wir brauchen auch Akademiker'' ist die Überschrift eines zweiten Aufsatzes in der gleichen Nummer.
Die Zahl und Lage der Emigranten
Die Kommission des Völkerbundes für Flüchtlinge aus Deutschland schätzte deren Zahl und Verteilung im April 1934 folgendermaßen:
Frankreich 21.000
Palästina 10.000
Polen 8.000
Tschechoslowakei 3.500
Holland 2.500
England 2.000
Belgien 2.300
Schweiz 2.500
Skandinavien 2.500
Österreich 800
Saar und Luxemburg 1.000
Spanien 1.000
Italien 800
USA 2.500
Andere Länder 2.000
Von diesen insgesamt 62.400 Emigranten dürften etwa 50.000 Juden sein, die uns hier interessieren.
Die Auswanderung der Juden ist nun durchaus nicht gleichmäßig, sie war stärker in den landwirtschaftlichen Bezirken, schwächer in den Großstädten. Dazu kommt eine innerdeutsche Wanderung vom Lande in die Stadt.34 Abschließende Zahlen liegen hier nicht vor. Es seien aber drei bezeichnende Beispiele über die Abnahme der Mitgliederzahlen der jüdischen Religionsgemeinden gegeben.