Bericht der Gestapo Kassel
Am 1. Juni 1934 erstattet die Gestapo Kassel folgende „Übersicht über die politische Lage“ im Mai 1934:
Juden und Freimaurer
Im Judentum liegen die Verhältnisse noch so, wie ich sie in meinen letzten beiden Lageberichten und in dem ausführlichen Bericht über die politische, wirtschaftliche und kulturelle Betätigung des Judentums vom 16.4.34-1430- geschildert habe. Die wirtschaftliche Machtstellung des Judentums wächst immer mehr. Zahlreiche halbamtliche und amtliche Stellen machen mit Juden Geschäfte. Insbesondere spielen bei der Kurhessischen Eierverwertung zwei jüdische Großhändler eine ausschlaggebende Rolle. Seine Einschaltung in den Viehhandel und in die Eierverwertung hat bei der Bevölkerung berechtigten Zorn und erhebliche Mißstimmung erregt, und es droht zu Ausschreitungen zu kommen.
Die ganze Judenfrage krankt an dem Widerspruch zwischen der Judenpolitik der Wirtschaftsministerien und der Bewegung. In allen Veranstaltungen der Bewegung wird entsprechend dem Parteiprogramm gegen das Judentum mit aller Schärfe Propaganda gemacht. Das ist besonders auch z.Zt. bei der gegen die Meckerer und Miesmacher gerichteten Handlung zu beobachten. Dadurch wird die Stimmung gegen die Juden in der Bevölkerung, insbesondere in den Reihen der SA , so gereizt, daß immer wieder, besonders in kleineren Orten, Ausschreitungen vorkommen. Auf der anderen Seite wird von Staats wegen die wirtschaftliche Gleichstellung der Juden verkündet, und es muß gegen Übergriffe eingeschritten werden. Die gesamte Öffentlichkeit steht diesem Mißverständnis in der Judenpolitik völlig verständnislos gegenüber. Der einfache Kämpfer versteht nicht, daß er für Handlungen, die aus der Propaganda der Bewegung erwachsen sind, zur Rechenschaft gezogen wird. Sie sind ja auch nicht die geistigen Urheber dieser Ausschreitungen! Außerdem kamen bei mehreren Übergriffen gegen Juden im Verlaufe der Ermittlungen angesehene Mitglieder der NS-HAGO in den Verdacht, die SA bzw. HJ zu den Ausschreitungen veranlaßt zu haben, und zwar letzten Endes lediglich zu dem Zweck, die jüdische Konkurrenz zu schädigen. Diese Drahtzieher können jedoch fast nie gefaßt werden, da sie es verstehen, im Hintergrund zu bleiben, so daß der einsatzbereite Kämpfer hernach als der Verantwortliche dasteht. Auf die SA muß immer wieder eingewirkt werden, daß sie sich nicht für die Zwecke solcher Leute, die nur vom Eigennutz ausgehen, einspannen läßt.
Der Jude strebt danach, sich landwirtschaftliche Kenntnisse anzueignen. Der Verein ''Jüdische Landwirtschaft e.V.'' in Berlin besitzt im Kreise Fulda in der Gemarkung Hattenhof das Gut Gehringshof, das er als Lehrgut eingerichtet hat, um dort junge Juden als Landwirte umzuschulen und angeblich auf die Auswanderung nach Palästina vorzubereiten. Die Schülerzahl schwankt z.Zt. zwischen 30 und 40, die Kurse dauern 1/2 bis 1 Jahr. Leiter des Lehrgutes ist ein polnischer Staatsangehöriger namens Salomon Goldmann. Ein Teil der Schüler ist Ausländer. Politisch hervorgetreten sind die Bewohner des Gutes bisher nicht. Sie werden laufend beobachtet, und es sind z.Zt. noch Ermittlungen nach der Herkunft, Staatsangehörigkeit und politischen Vergangenheit der Kursusteilnehmer im Gange, damit gegebenenfalls weitere Maßnahmen ergriffen werden können. Wie der Landrat in Fulda berichtet, sind in den letzten Wochen von der zionistischen Bewegung verschiedene deutsche und sogar ausländische Juden bei Landwirten in der Nähe Fuldas als Knechte untergebracht worden. Die Erhebungen über die besonderen Umstände sind noch nicht zum Abschluß gekommen. Ich werde darüber demnächst besonders berichten. Die Beschäftigung ausländischer Juden in der deutschen Landwirtschaft halte ich für durchaus unerwünscht.
Eine größere staatspolizeiliche Aktion (Durchsuchung usw.) gegen den Gehringshof in ähnlicher Form, wie sie vor einigen Monaten gegen die edelkommunistische Bruderhofgemeinde im Kreis Fulda von der Staatspolizeistelle mit hervorragender Beteiligung von 120 SS -Männern unter Mitwirkung des Sturmbannführers durchgeführt wurde, wird voraussichtlich nicht nötig sein.
Wenn die landwirtschaftlich ausgebildeten deutschen Juden tatsächlich auswandern und eine staatsfeindliche Einstellung der Leitung des Lehrgutes nicht festgestellt wird, so beabsichtige ich, den Betrieb zu schützen und zu fördern. [...]
Wirtschafts- und Sozialpolitik
Allgemeines
Der Devisenmangel der deutschen Wirtschaft sowie die damit zusammenhängenden Schwierigkeiten bei der Einfuhr von Rohstoffen und der fortdauernde Rückgang der Ausfuhr erfüllen weite Kreise der Bevölkerung mit ernster Sorge. Der feste Glaube, daß die Arbeitsbeschaffung und die sonstigen wirtschaftlichen Maßnahmen der Regierung eine stärkere Initiative der Privatindustrie zur Folge haben und zu einer allgemeinen Belebung der Konjunktur führen würden, verliert an Boden. Es sind nicht nur Meckerer und Miesmacher, die diese Dinge besprechen, vielmehr sehen gerade die treuesten Nationalsozialisten der weiteren wirtschaftlichen Entwicklung sorgenvoll entgegen. Im Gegensatz zu den Miesmachern halten sie aber Disziplin und besprechen solche Dinge nur in sachverständigen und zuverlässigen Kreisen. Gerüchte über eine Abwertung der Reichsmark, über eine geplante Zwangswirtschaft in der Textilindustrie usw. finden leider überall offene Ohren. Ich halte es für erforderlich, die Bevölkerung mehr als bisher über die wirtschaftliche Lage aufzuklären und völlig schiefen Beurteilungen der Sachlage in der Öffentlichkeit entgegenzutreten. Weit verbreitet ist die Ansicht, daß die Zurückdrängung Deutschlands auf dem Weltmarkt nur auf Machenschaften des internationalen Judentums zurückgeht.