Gründe für Freilassung aus Theresienstadt
Im „Aufbau“ stellt Kurt Grossmann am 16. Februar 1945 Vermutungen über die Gründe für die Freilassung von Theresienstädter Häftlingen in die Schweiz an:
Wege der Rettung, von Kurt R. Grossmann
Keine Nachricht hat mehr Fragen, Hoffnungen und Illusionen ausgelöst, als die „New York Times“-Meldung aus Bern, wonach 1200 Juden aus Theresienstadt (Tschechoslowakei) entlassen worden und in der Schweiz angekommen sind. So erfreulich diese Nachricht ist, weil wir längst gelernt haben, angesichts der jüdischen Massentragödie von nahezu 5 Millionen ermordeten Juden zufrieden zu sein, wenn nach unsäglichen Mühen ein in Dezimalwerten kaum ausdrückbarer Prozentsatz aus Nazihänden befreit ist, so sehr muß davor gewarnt werden: 1. an eine Verallgemeinerung zu glauben oder mit ihr zu rechnen. Etwa, daß Hitler und seine Bande im Zeichen der nun sicheren militärischen Niederlage bereit seien, die noch in ihrer Macht befindlichen 600 000 europäischen Juden freizugeben, um sich ein Alibi zu verschaffen oder sie als Tauschobjekt zu benutzen; 2. auch nur eine Sekunde zu vergessen, daß 5 Millionen Juden in der grausamsten Weise von diesem Regime hingemordet worden sind. So wundervoll die Rettung dieser 1200 Juden aus Theresienstadt ist, so darf uns dieser Vorgang nicht von der Aufgabe abhalten, an der Rettung der noch in Nazihänden befindlichen Juden zu arbeiten und zu gleicher Zeit kompromißlos für die Sühne der Massenmorde und der Massenverbrechen zu wirken.
Wie war es möglich?
Die Frage, die mir in diesen Tagen von vielen immer wieder gestellt wurde, lautete: „Wie war es möglich?“ Die Nachricht über das Eintreffen der genau 1210 Juden aus Theresienstadt ist inzwischen bestätigt worden. 58 von der Gruppe sind Kinder unter 12 Jahren, 600 figurieren als holländische Juden. Als interessantes Symptom muß die Tatsache erwähnt werden, daß Männer im militärpflichtigen Alter offenbar nicht dabei sind; die Gruppe ist auch nicht aus Inhabern von Palästinazertifikaten oder amerikanischen Dokumenten zusammengesetzt. Die in der Schweiz Angekommenen fallen ferner auch nicht unter die Preference-Quota-Regulations der Vereinigten Staaten, für die Verwandte die Formulare 575 oder 633 bei den verschiedenen Organisationen hier im Lande früher ausgefüllt haben. Vielmehr scheint diese Gruppe von den Nazis ausgesucht worden zu sein, und der entscheidende Gesichtspunkt scheint gewesen zu sein, durch Befreiung der Gruppe nicht dem Kriegspotential der Alliierten zu nützen.
An der Befreiung dieser und ähnlicher Gruppen (wenige Wochen zurück wurden aus Bergen-Belsen zwei Gruppen von 1673 ungarischen Juden nach der Schweiz entlassen) haben die wichtigsten jüdischen Organisationen ihren Anteil, aber die Durchführung solcher Aktionen wäre nicht ohne die Unterstützung alliierter und Schweizer amtlicher Kreise denkbar.
Warum die Nazis zu dieser späten Stunde begonnen haben, Bruchteile der vernichteten europäischen Judenheit herauszulassen, kann nur andeutungsweise beantwortet werden:
a) Deutschland würde bei einer günstigen Entwicklung der Kriegslage selbstverständlich keine solchen Entlassungen vorgenommen haben.
b) Etwaige Kreise in Deutschland geben sich der Illusion hin, daß durch solche Freilassungen ein Alibi geschaffen wird, welches sich zu einen späteren Zeitpunkte als nützlich erweisen kann.
c) Deutschland mag gegen die befreiten Juden Augenblicksvorteile eintauschen, die es angesichts der militärischen und politischen Situation besonders notwendig braucht. Mit diesen Mitteilungen habe ich einige der wichtigsten und kompliziertesten Methoden angedeutet, Juden aus Naziländern in dieser zwölften Stunde zu befreien. Mehr darüber zu sagen ist zu dieser Zeit nicht möglich.
Die Methode des „Austausches“
Bei den Versuchen, so viel Juden wie möglich aus Nazihänden zu retten, hat naturgemäß die Anwendung der Methode des Austausches der Juden gegen deutsche Staatsbürger im alliierten Machtbereich eine große Rolle gespielt. Um dieses komplexe Problem zu verstehen, darf man nicht vergessen, daß die Nazis - in bewußter Verletzung aller internationalen Gesetze - die in den Konzentrationslagern befindlichen Juden lediglich als „detained civilians“ betrachten und daß daher diese Internierten nie den Status von Zivilinternierten erlangten, soweit sie Bürger von Deutschland, Österreich, Tschechoslowakei, Holland, Polen, Belgien und Frankreich waren.
Juden dagegen, die die amerikanische Staatsbürgerschaft oder die eines der lateinamerikanischen Staaten besaßen, wurden teilweise als Zivilinternierte behandelt oder wenigstens nicht der generellen Behandlung der Masse der europäischen Juden unterworfen. Wir wissen - und die Deutschen wußten es auch -, daß eine Anzahl der lateinamerikanischen Staatsbürgerschaften irregulär zustande gekommen war. Sie waren Produkte dieser unnormalen Zeit. Die Deutschen begannen im Anfang des Vorjahres solche Juden von Lagern im Camp Vittel teilweise abzutransportieren.
Bis heute ist z. B. nicht klargestellt, was aus einer Gruppe von 212 Juden mit lateinamerikanischen Dokumenten geworden ist, nachdem sie im April und Mai 1944 nach Camp Drancy (Frankreich) gebracht wurden und ihr Aufenthalt seit dieser Zeit nicht festgestellt werden konnte, was zu den schlimmsten Befürchtungen Anlaß gibt. Es war daher von größter Bedeutung, daß das „Emergency Advisory Committee for Political Defense“ am 31. Mai 1944 eine Resolution annahm, die zur Richtschnur in der Behandlung dieses Komplexes seitens der Regierungen der amerikanischen Republiken geworden ist. Die Resolution spricht die Anerkennung der nahezu 2000 Personen aus, die Dokumente oder Zertifikate amerikanischer Republiken besitzen.
Der Erfolg dieser Stellungnahme (übrigens auf Grund von Vorschlägen des World Jewish Congress) war, daß nach dem 31. Mai 1944 die Inhaber solcher lateinamerikanischen Dokumente unbehelligt blieben und die deutsche Regierung nach Überwindung großer Schwierigkeiten 646 solcher lateinamerikanischer Dokumenteninhaber für einen Austausch anerkannt hat. Etwa 160 von diesen Anerkannten sind von Bergen-Belsen bei Celle in der Provinz Hannover in der Schweiz zum vorübergehenden Aufenthalt eingetroffen. Weitere Austauschaktionen mit einer Gruppe von 600 Juden gegen deutsche Staatsbürger in Paraguay und Kolumbien ist in Vorbereitung.
In Deutschland befinden sich - wie wohl allgemein bekannt - viele tausend Juden mit Palästina-Zertifikaten. Juden mit solchen Zertifikaten sind im Juni 1944 in der Anzahl von 285 gegen 111 Deutsche nach Palästina ausgetauscht worden. Warum kein Massenaustausch?
Ein Massenaustausch hat sich praktisch als unmöglich erwiesen, und zwar aus folgenden Gründen;
a) Die alliierten Regierungen haben es bisher abgelehnt, einen Zwang zur Rückwanderung auf deutsche Bürger in ihrer Gewalt auszuüben.
b) Eine Anzahl der Regierungen, insbesondere der von Lateinamerika (wo etwa 272 000 deutsche Staatsbürger leben), ist nicht interessiert, eine Rückwanderung ihres kolonial wichtigen Menschenmaterials zuzulassen.
c) Angesichts der kommenden Niederlage verspüren die Deutschen immer weniger Lust, heimzukehren.
d) Andere Deutsche, die zurückgehen wollen, weil ihnen wegen ihrer politischen Tätigkeit der Boden unter den Füßen zu heiß geworden ist, können die Alliierten aus Sicherheitsgründen nicht „heimkehren“ lassen.
e) Bei den Austauschverhandlungen ergeben sich weitere Schwierigkeiten, selbst bei der kleinen Gruppe von 1500 bis 2000 Deutschen, die als Austauschmaterial zur Verfügung steht. Solche Schwierigkeiten sind: 1. Austauschrate; 2. Personenkreis; 3. Austauschbedingungen; 4. Transportprobleme.
Schutzdokumente und Schutzpässe
In dem Kampf um Leben und Tod ist versucht worden, den ungarischen Juden dadurch zu helfen, daß Schweden, die Schweiz und das Internationale Rote Kreuz Schutzbriefe gegeben haben. Man schätzt die Zahl der Juden, die in Budapest durch diese Maßnahmen plus der Palästina-Zertifikate, die sich ebenfalls als Schutz erwiesen haben, gerettet wurden, auf 15 000.
Schweden hat sich besonders dadurch ausgezeichnet, daß es durch Mietung einiger Häuserblocks die Exterritorialität seiner Gesandtschaftsgebäude künstlich erweiterte. Die Juden mit Palästina-Zertifikaten wurden ebenfalls in bestimmten Distrikten Budapests untergebracht. Die jüngsten Nachrichten, daß trotzdem die Deutschen solche Schutzdokumenteninhaber ermordeten, sollte uns nicht davon abhalten, wo immer es noch möglich ist, die neutralen Regierungen zu bitten, so viel Juden wie möglich mit solchen Schutzdokumenten auszustatten. Darüber hinaus aber sollten die neutralen Regierungen gebeten werden, für solche Gruppen, die mit Schutzdokumenten versehen sind, freien Abzug zu fordern. Auf diese Weise würden Massaker vermieden werden, wie sie augenscheinlich in Budapest stattgefunden haben, als die Deutschen aus den betreffenden Bezirken zum Rückzug gezwungen wurden.