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Chronik und Quellen
1944
September 1944

Abschied von den Eltern

Die Brüder Leopold und Hans Werner Mayer verabschieden sich im September 1944 von ihren Eltern:

Meine lieben, lieben Eltern!

Es fällt mir sehr schwer, Euch diesen Brief zu schreiben. Wenn er in Euere Hände kommt, bin ich auf dem Wege nach einem unbekannten Ziel. Zwar ist es nicht das erste Mal, daß ich von Euch Abschied nehme, aber die Umstände machen diese Trennung zu einer solchen, die darüber hinaus eine Beendigung einer Etappe meines und unseres Lebens bedeutet. Wenn ich nun versuche, Euch nochmals zu danken für all die Liebe, Güte und Nachsicht, für die Erziehung und für all das Gute und Schöne, das Ihr mich habt erleben lassen, so versuche ich damit etwas in Worte zu fassen, was tief innen in mir lebt und was so selbstverständlich und Euch auch so bekannt ist, daß es bei dem schwachen Versuch bleiben muß. Gebe Gott, daß es nur ein Abschied für kurze Zeit ist und daß wir fünf uns mit unseren anderen Lieben recht bald und in Gesundheit Wiedersehen.

Ich bin mir darüber klar, daß ich in dem Moment, in dem ich in den Zug steige, den letzten Schritt zu meiner Verproletarisierung tue und damit eine Entwicklung vollende, die mit der Abreise von Westerbork begann. Aber wohlgemerkt, es kann dies nur eine materielle Verproletarisierung sein, geistig werde ich immer der bleiben, der ich bin. Und das kann Euch die Garantie sein, daß ich, Zwangsläufigkeiten ausgenommen, durchkommen werde. Ich habe die Eigenschaft, mich mit meinen Gedanken so vollständig von der Außenwelt abzusperren, daß ich einem Igel zu vergleichen bin, der sich zusammenrollend gegen ihm feindliche Umwelten zu schützen sucht. Ferner bin ich sehr bedürfnislos, und so gerne ich mich auch gut kleide, so gut kann ich auch mit weniger guter Kleidung auskommen, da mein tiefstes Streben doch immer nur darauf gerichtet ist, „Ruhe zu haben“, d. h., daß ich immer nur darauf bedacht sein werde, meine geistige Unabhängigkeit zu behalten. Aus allem, was ich bisher erlebt habe, sei’s Gutes - sei’s Schlechtes, habe ich immer noch lernen können. Und ich hoffe, auch aus diesem neuen Erlebnis, dem ich nun entgegenfahre, Erfahrungen sammeln zu können, die ich dann später, wenn ich von dem passiven in den aktiven Kampf für unser jüdisches Volk übertreten werde, werde gebrauchen können. Denn das ist die Aufgabe und das Ziel, das mir, wie ich glaube, Gott für dieses Leben gestellt hat: auf meine Art mitzuhelfen, daß sich eine solche Tragödie, wie sie das jüdische Volk im besonderen und darüber hinaus alle Völker dieser Erde jetzt durchmachen, nicht wiederholt. Auf welche Art ich das tun kann, liegt noch im Schöße der Zukunft verborgen. Für jetzt kann es nur unsere Aufgabe sein, eisern durchzuhalten und alles Widerwärtige abprallen zu lassen, das Gute jedoch tief einzusaugen und zu warten und zu hoffen, daß sich das Tor in die Freiheit öffnet.

Glaube und Hoffnung - Mut und Wille

Sie werden uns allen helfen, diese Zeit zu durchstehen, um nachher an unsere Arbeit gehen zu können.

Nun möchte ich Euch, liebe Eltern, bitten:

nur ja nicht mutlos zu werden und Euch
nicht in Weinen und Klagen zu begraben.
Ihr könnt es dadurch nicht nur nicht ändern,
sondern macht es mir dadurch nur schwerer.
Bleibt stark, sagt Euch nicht gegenseitig,
wie es hätte sein können, sondern
Glaubt an die Wiedervereinigung
Hofft auf die Zukunft, haltet
Mut durchzusetzen und habt den
Willen zu leben für uns, Euere Söhne
Chisku we imzu lanu.
Seid stark und standhaft, uns ist die Zukunft.

Habt Dank!
Leopold

Meine lieben Eltern,

auch ich möchte einige Zeilen des Dankes in diesem Briefe beifügen. Ich danke Euch für all das Gute, was Ihr mir gegeben habt. Ich verspreche Euch hier nochmals, in allen Dingen Leopold zu gehorchen. Auch ich hoffe mit Leopold und Euch zusammen, daß wir uns bald Wiedersehen werden.

Laßt Euch nochmals von mir danken für all das, was Ihr für mich getan habt.

Seid herzlichst geküßt von Eurem Euch liebenden
Hans Werner

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