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Chronik und Quellen
1943
November 1943

Angst vor Erschießung

Margarete Pedde schildert in ihrem Tagebuch am 12. November 1943 die Angst der Gettobewohner, während des Zählappells im Bauschowitzer Kessel erschossen zu werden:

Meine zwei; bald hätte ich auch nie mehr geschrieben, d. h., wenn meine Ahnungen erfüllt wären. Am 10. Abends hieß es: „Morgen wird nicht gekocht.“ Unsere Menagekommission faßte um 8 Uhr abends pro Kopf: 375 g Brot, V2 [...], 100 g Zucker und 40 g Margarine. Um 10 V2 Uhr ging ich zu Bett, um gegen 1V2 Uhr von Rosenberg wieder geweckt zu werden. Unser Arzt, Dr. Große, Herr Herrmann und ich gingen durch das Haus, schrieben in den Zimmern alle Kranken auf und sagten den Gesunden an, daß sie um 5 V2 Uhr aufstehen sollten, sich warm anzuziehen hätten und sich Brote machen sollten, denn in der Frühe gingen wir zur Zählung ins Bauschowitzer Tal. Ab 6 Uhr früh am 11. d. M. ging das Theater los. Die Kranken wurden abgeholt und in die Hamburger Kaserne gebracht. Wir anderen stellten uns in Fünferreihen auf die Straßen, die mittlerweile angefüllt waren. Langsam ging der Aufmarsch vor sich. Gegen 12 Uhr waren die 40 000 Menschen auf dem ehemaligen Exerzierplatz in Gruppen von 100 aufgezogen. So standen wir um 6 Uhr abends noch. Die S-S zählte uns, und tschechische Gendarmerie hielt an den bergigen Rändern des Platzes Wache. Toiletten waren nicht vorhanden, und man mußte sich seitlich in die Büsche schlagen, Fliegen umkreisten den Platz, und wir waren ängstlich, denn als wir den Platz betraten, wurde in Leitmeritz gesprengt und wir dachten schon, unser letztes Stündlein hätte geschlagen. Es war verflixt kalt und auch fiel etwas Schnee. Um 6 Uhr abends drehte sich die ganze Welt um und drängte zum Ausgang, trotzdem kein Kommando zum Abmarsch gegeben war. Stelle Dir vor, 40 000 Menschen kamen in Reih u. Glied unter Aufsicht an - um ohne jede Leitung nur durch einen Ausgang wieder fortzugehen. Wir drei - Frau Richter, Frau Friedrich und ich - hakten uns unter und ließen uns mit der Masse fortdrängen. Es war entsetzlich. Einmal mußte man über einen Holzberg, dann über einen Graben, dazu regnete es noch. Aber last not least bewahrte jeder Disziplin und um 9 Uhr abends waren wir todmüde und halberfroren in unserem Bau. Die kleine Stadt, die wie ausgestorben war, belebte sich, und um 12 Uhr abends hörten wir Stimmen auf der Straße, die sonst schon um 8 Uhr still sind. Heute dröhnt mir der Kopf, sämtliche Muskeln tun mir weh, und ich befürchte, daß eine Grippe im Anzug ist. Aber - Mutti läßt sich nicht unterkriegen. Betet weiter für mich.

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