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Chronik und Quellen
1945
April 1945

Geheimverhandlung mit Himmler

Norbert Masur vom Jüdischen Weltkongress schildert am 23. April 1945 den Verlauf geheimer Verhandlungen mit Himmler über das weitere Schicksal der europäischen Juden:

Bezug nehmend auf verschiedene Gespräche zwischen Mr. Storch vom World Jewish Congress Relief & Rehabilitation Department in Stockholm und Dr. F. Kersten. Im vergangenen März übergab Mr. Storch an Dr. F. Kersten eine Liste unserer Wünsche in Bezug auf die in Deutschland internierten Juden. Dr. Kersten sollte nach Deutschland reisen und besagte Liste, zusammen mit einer anderen Liste, die Dr. Kersten vom F. O. erhalten hatte, an die Behörden in Deutschland übergeben, und zwar zuerst an Himmler. In seinem Gespräch mit Himmler wurde ein Teil von Dr. Kerstens Forderungen akzeptiert, aber um die vorgeschlagenen umfangreichen Pläne umzusetzen, regte Dr. Kersten an, Himmler solle die Fragen mit einigen jüdischen Vertretern aus Stockholm erörtern. Himmler willigte ein und lud über Dr. Kersten einen Repräsentanten ein, [nach Berlin] zu kommen, sein Schutz sei garantiert. Am Morgen des 19. April, einem Donnerstag, wurde mir mitgeteilt, dass die Gespräche mit Himmler am Freitag, dem 20. April stattfinden sollten. Da mittlerweile die Kriegslage für Deutschland kritisch geworden war, hatte ich Zweifel, ob die Reise sinnvoll sein würde. In einem Telefongespräch mit Staatssekretär Engzell wurde mir mitgeteilt, das F. O. sei der Meinung, dass die Reise einen gewissen Wert habe und dass ich, wenn möglich, zusammen mit Dr. Kersten reisen solle. Das F. O. hatte bei dieser Gelegenheit eine Liste mit verschiedenen Punkten vorgelegt, die sich sowohl auf internierte Juden als auch auf schwedische Staatsbürger sowie einige niederländische, französische und andere internierte Zivilisten bezog. Das F. O. war vorab detailliert über alle Verhandlungen informiert worden, ebenso wie die hiesigen Vertreter der alliierten Mächte. Am Freitagmorgen hatte ich eine lange Unterredung mit General Schellenberg auf Kerstens Landgut in der Nähe von Berlin. Als Erstes sagte ich ihm, mit der Bitte, diese Information an Himmler weiterzugeben, dass ich als Privatmann gekommen sei. Ich würde zwar der schwedischen Sektion des World Jewish Congress angehören, diese sei aber nicht berechtigt, in einem Fall wie dem jetzigen zu entscheiden, denn dies sei das ausschließliche Recht der Leitung in Amerika. Wir hätten allerdings die Leitung nicht von unserem Vorgehen informiert, da diese aufgrund des Krieges nicht in der Lage sei, eine Angelegenheit wie eine Reise nach Deutschland zu beurteilen. Aus diesem Grund sei ich nur als Privatperson gekommen, wie Dr. Kersten bereits erwähnt hatte. Anschließend ging ich mit Schellenberg unsere verschiedenen Forderungen durch. Er meinte, er habe durchaus Verständnis für alle unsere Forderungen, und versprach, sich bei Himmler für diese einzusetzen.

Die Unterredung mit Himmler fand in der Nacht von Freitag auf Samstag, am 20./ 21. April, statt. Unsere Forderungen waren im Großen und Ganzen folgende:

Alle Juden, die in Deutschland noch am Leben sind, sollten bleiben dürfen, wo sie sind, und es dürften keine neuen Evakuierungen erzwungen werden.

Sollte es möglich sein, sie mit Hilfe des Roten Kreuzes oder anderer neutraler Instanzen in neutrale Länder zu schaffen, sollten solche freiwilligen Evakuierungen gestattet werden. Die Lagerkommandanten sollten Anweisungen erhalten, die Juden gut zu behandeln und die Lager den Alliierten (den amerikanischen, sowjetischen oder englischen Truppen) zu übergeben, wenn die Front das jeweilige Lager erreichen sollte.

Zudem übergab ich detaillierte Listen des F.O. mit Personen, deren Freilassung erwünscht war. Die Gespräche dauerten 2 Vi Stunden, wobei sich auch herausstellte, dass einige Tage zuvor ein Lager - Flossenbürg, irgendwo in der Nähe von Plauen - evakuiert worden war, als amerikanische Panzereinheiten vorrückten. Die Internierten wurden nach Süden gebracht und werden - nach Auskunft eines Offiziellen am folgenden Tag -zum Teil nach Dachau überstellt werden und zum Teil in andere Lager nahe Innsbruck und der Grenze in Südbayern. Was die Lager in Deutschland betrifft, erklärte Himmler, dass in den letzten Wochen Bergen-Belsen mit 50 000 Juden und Buchenwald mit 6000 Juden an die Alliierten übergeben worden seien. In den noch von den Deutschen kontrollierten Gebieten gebe es noch folgende Lager;

Mauthausen in der Nähe von Linz mit 20 000 bis 30 000 Juden,
Ravensbrück, etwa 100 1cm nordwestlich von Berlin, mit etwa 20 000 jüdischen Frauen,
Theresienstadt mit etwa 25 000 Juden.

Himmler sagte, er wisse nicht, welche weiteren Lager es noch gebe, aber tags darauf erfuhr ich von Schellenbergs engstem Mitarbeiter Franz Göring, dass es im Süden Deutschlands und in der Nähe von Innsbruck noch diverse kleinere Lager gibt.

Das Ergebnis der Verhandlungen könnte man wie folgt zusammenfassen:

1. 50 norwegische Juden von der F. O.-Liste sollen freigelassen und von den deutschen Behörden in Norwegen zur schwedischen Grenze gebracht werden.

2. Die Freilassung der schwedischen Staatsbürger, die laut F. O.-Liste in Grini und in anderen Orten in Norwegen in Gefangenschaft sitzen, soll wohlwollend erwogen und wenn möglich gestattet werden.

3. 1000 jüdische und einige französische Frauen, die laut F. O.-Liste in Ravensbrück interniert sind, sollen freigelassen und unverzüglich vom Schwedischen Roten Kreuz abgeholt werden.

4. Die Freilassung einer gewissen Anzahl von Personen, die sich laut einer Liste der Niederländischen Gesandtschaft insbesondere in Theresienstadt befinden, soll gestattet werden, aber wahrscheinlich kann dieser Befehl nicht ausgeführt werden.

5. Ein endgültiger Befehl, dass keine Juden mehr erschossen werden.

6. Ein Versprechen, dass möglichst keine weiteren erzwungenen Evakuierungsmaßnahmen stattfinden werden, selbst wenn die Fronten den Lagern nahe kommen.

7. Nahrungs- und Arzneimittel können über das Rote Kreuz an alle Internierungslager geschickt werden.

8. Nach Personen, die in verschiedenen weiteren Listen erwähnt werden, solle gesucht werden, aber eine solche Suchaktion ist derzeit nahezu unmöglich.

9. Eine Klausel, wonach unser Besuch und unsere Unterredung mit Himmler absolut geheim bleiben müssen und wonach nichts über freigelassene Juden und die Ankunft von Nicht-Juden in den neutralen Ländern verlautbart werden darf.

Zur Vervollständigung von Punkt 9 möchte ich anmerken, dass Hitler - wie ich in einer Unterhaltung mit Personen aus Himmlers Umgebung erfahren habe - noch immer absolut gegen jegliche Ausreise von Juden aus Deutschland ist. Er sei außer sich gewesen, als er vor ein paar Monaten von den ungefähr 2700 Juden hörte, denen man erlaubt hatte, in die Schweiz zu gehen. Selbst wenn Himmler derzeit womöglich mächtiger als Hitler ist, muss man befürchten, dass Himmler weitere Freilassungen stoppen wird, falls Hitler etwas darüber aus der Presse erfährt. Am Samstagvormittag sprachen wir in Berlin mit Franz Göring, Schellenbergs engstem Mitarbeiter, der viel mit der Evakuierung in die Schweiz und nach Schweden zu tun hatte. Er berichtete, die Transporteinheit des Schwedischen Roten Kreuzes befinde sich angeblich in Friedrichsruh und sei im Begriff, nach Schweden zurückzukehren. Er war sich allerdings sicher, dass er berechtigt sei - obwohl es ihm nicht gelungen war, sich mit Graf Bernadotte zu treffen, der sich zu diesem Zeitpunkt im Norden Deutschlands aufhielt -, die Mitglieder der Einheit anzuweisen, sich direkt nach Ravensbrück zu begeben, um die 1000 Frauen abzuholen. Er machte einen sehr durchsetzungsfähigen Eindruck, und nach Informationen von Staatssekretär Engzell vom Sonntagmorgen hatte die Gesandtschaft in Berlin auf Aufforderung von Graf Bernadotte bereits am Samstagabend mitgeteilt, dass sich die Transporteinheit auf dem Weg nach Ravensbrück befinde. Man geht davon aus, dass dieser Transport mit 1000 Frauen am Mittwoch in Schweden eintreffen wird.

Sollte es der Einheit gelingen, die 1000 Frauen aus Ravensbrück herauszuholen, sind wir sicher - falls die Zeit dazu noch ausreicht -, dass noch mehr Frauen freigelassen und abgeholt werden. Wenn die Transporteinheit aus Schweden beziehungsweise Kopenhagen nach Ravensbrück zurückkehrt, ist es von allergrößter Bedeutung, dass sie Nahrungsmittel und Medikamente mitbringt. Dies ist selbst für den Fall wichtig, dass das Lager inzwischen von einer der alliierten Armeen übernommen worden sein sollte. In diesen Lagern wird die Situation, was Nahrungsmittel und Medikamente betrifft, ganz sicher außerordentlich schlecht sein.

Es wäre wichtig, wenn die Schweiz versuchen würde - genau wie es in Schweden geschieht -, so viele Juden wie möglich aus den Lagern herauszuholen, die von der Schweiz aus am leichtesten zu erreichen sind, sowohl aus Bieberach in Württemberg und Mauthausen nahe Linz als auch aus den kleineren Lagern in der Nähe von Innsbruck und im S[üden] von Bayern. Wir glauben, dass die Schweiz es schaffen könnte, sich die entsprechende Erlaubnis zum Herausholen der Gefangenen zu besorgen. Aus diesem Grund hat das F. O. versprochen, diesen neuen Vorschlag den Schweizer Behörden via schwedische Gesandtschaf t in Bern zu übermitteln, so dass die nötigen Schritte von dort aus unternommen werden können.

Aus der Unterredung mit Himmler würde ich gern nur auf einen Punkt aufmerksam machen, den dieser besonders wichtig fand: Himmler sagte, die Übergabe der Konzentrationslager (Bergen-Belsen, Buchenwald) an die Alliierten sei übel vergolten worden durch Presseberichte über die Zustände in besagten Lagern, wobei er diese Berichte als „Greuelmärchen“ bezeichnete. Das lasse ihn zweifeln, ob es ratsam sei, auf dieselbe Weise weiter zu verfahren. Ich sagte ihm ins Gesicht, niemand könne leugnen, dass fürchterliche Dinge passiert sind, und dass zudem die freie Presse in freien Ländern nicht einmal von den Regierungen besagter Länder zensiert werden könne. Gleichwohl ist es möglich, dass diese Berichte Himmler und Konsorten dazu bringen könnten, alle Spuren zu beseitigen, indem sie ganze Lager abtransportieren oder zerstören, statt sie den Alliierten zu übergeben. Am Samstag sahen wir lange Kolonnen von Häftlingen aus den Konzentrationslagern von Oranienburg in Richtung Norden marschieren. Zusammenfassend möchte ich Folgendes festhalten: Himmlers Wort ist natürlich absolut nicht zu trauen. Selbst in der Unterredung mit uns hat er viele offenkundige Unwahrheiten gesagt. Offensichtlich wollte er jedoch im letzten Moment noch irgendetwas tun, so dass ich glaube, er wird die versprochenen Befehle geben. Auf der anderen Seite sind seine ganzen Gedanken voll von kruden Zusammenbruchsphantasien. Wenn der Nazismus schon untergehen müsse, dann sollte wenigstens so viele Menschen wie möglich in Europa und in anderen Teilen der Welt dasselbe Schicksal ereilen. Deshalb halte ich es für nicht ausgeschlossen, dass Himmler - oder einige der anderen Nazi-Führer, falls die Macht nicht in den Händen Himmlers verbleibt - im letzten Moment noch den Befehl erteilt, alle Juden zu ermorden. Aus diesem Grund ist es außerordentlich wichtig, so viele Juden wie möglich in neutrale Länder oder hinter die Linien der Alliierten zu schaffen, selbst wenn wir in Betracht ziehen müssen, dass ihre militärische Befreiung kurz bevorsteht. Die Gefahr für Nichtjuden ist erheblich geringer, und es ist unwahrscheinlich, dass irgendein Nazi-Führer es wagen würde, den Massenmord an Nichtjuden anzuordnen, die einem der Feindstaaten von Deutschland angehören.

Unsere Verhandlungen mit Schellenberg, Franz Göring und Himmlers Sekretär Dr. Brandt waren von großem Wert. Diese Herren werden für die Ausführung von Himmlers Befehlen zuständig sein. Sie sind junge Menschen, die leben wollen. Sie sagen offen, sie würden sehr wohl verstehen, dass jede Gräueltat - selbst gegen Juden - ein Verbrechen am künftigen Deutschland ist. Wir sind entschieden der Meinung, dass sie mögliche Befehle Himmlers, sollten sie Gewaltaktionen betreffen, nicht ausführen werden. Solche Sabotage von ihrer Seite ist leicht zu bewerkstelligen und kann nicht aufgedeckt werden, weil die Auflösung der Organisationen bereits so weit fortgeschritten ist und die Verbindungen zwischen den verschiedenen Städten und Teilen von Deutschland so schlecht sind, dass jede Meldung ohne weiteres unterwegs verloren gehen kann, ohne dass irgendjemand den Grund dafür ermitteln könnte.

Die oben dargestellten Verhandlungen und die erreichten Ergebnisse wären nicht möglich gewesen ohne die aktive und rückhaltlose Kooperation von Medizinalrat Kersten. Wir sollten ihm wahrhaftig dafür dankbar sein, dass er mich, ohne Rücksicht auf seine eigene Sicherheit, auf dieser gefährlichen Reise im Dienste der Rettung der Menschheit begleitet hat.

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