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Chronik und Quellen
1945
April 1945

Scham über Zustände in Lager

Mignon Langnas beschreibt am 16. April 1945 die Erschießung von neun Juden durch die SS in der Leopoldstadt unmittelbar vor der Befreiung Wiens:

Inferno

Wir schreiben den 17. April 1945. Es war mir einfach unmöglich, das, was ich in den letzten Tagen erlebt und vor allem gesehen habe, gleich niederzuschreiben. Es ist wohl auch das Entsetzlichste, was Menschenaugen erblicken konnten.

Es stehen in unserer Chronik sehr viele leidvolle Dinge über Pestilenz, Feuersbrünste, öffentliche Verbrennungen und Quälereien aus dem Dreißigjährigen Kriege, aber keiner meiner Vorgänger war gezwungen, über solche Verbrechen von Menschen seines Volkes zu schreiben wie ich.

Am 13. April erschien hier im Pfarramte gegen neun Uhr vormittags die Bäuerin, Frau Elisabeth Abel, eine Witwe, deren Mann kurz vor dem Kriege gestorben war und deren beide Söhne jetzt im Felde standen. Sie ist ausgebildete Rote-Kreuz-Schwester und hat als solche im ersten Weltkriege Dienst getan. Hin und wieder vertritt sie auch unsere betagte Gemeindeschwester. Sie hat auch heute wieder ihre Tracht angelegt, aber ihr Gesicht, sonst gerötet vor Dienstbereitschaff, war bleich vor Schrecken. Im ersten Augenblick glaubte ich an einen schweren Unglücksfall.

„Ein Unglück ist es gewiß, Herr Pfarrer!“ stieß sie hervor. „Die Amerikaner haben das KZ-Lager entdeckt und geöffnet. Es muß unbedingt jemand von unserer Gemeinde dorthin gehen. Die amerikanischen Truppen sind wild vor Empörung. Wir müssen versuchen, sie zu beschwichtigen, deswegen wollte ich Sie herzlich bitten mitzukommen.“ Ich bewunderte diese Frau, bat sie, doch lieber zurückzubleiben, und schlug vor, gemeinsam mit dem Bürgermeister nach dem Lager zu gehen. Sie zögerte mit der Antwort und sagte dann etwas verlegen: „Der Bürgermeister ist nicht zu bewegen mitzukommen. Er ist wohl im Augenblick auch nicht fähig dazu.“

„Ist er krank?“ fragte ich.

„Wie gelähmt vor Angst und Sorge.“

„Und Sie, haben Sie keine, liebe Frau Abel? Ich könnte mir denken, daß auch die Häftlinge, soweit sie noch vorhanden sind, sehr heftige Rachegedanken haben könnten. Der Mensch überlegt da nicht lange, an wem er sich rächt.“

„Natürlich“, erwiderte sie, „habe ich Angst. Aber sie nützt ja keinem etwas. Da hilft nun alles nichts, wir müssen die Sache schon in die Hand nehmen.“

„Sagen Sie bitte zunächst keinem etwas, und warten Sie einen Augenblick. Ich muß mich wohl zu diesem Unternehmen ein wenig umziehen.“ So holte ich denn meinen alten Gehrock hervor, meine Frau fertigte mir in aller Eile eine weiße Armbinde und nähte ein violettes Kreuz darauf, neben welches ich noch das Kirchensiegel setzte. Dann begaben wir uns schleunigst auf den Weg nach dem Lager in den Zwiebergen.

Wir legten ihn in einer knappen Stunde zurück. Gesprochen haben wir kaum miteinander und waren froh, als wir diesen Pfad des Herzklopfens hinter uns hatten und die weit geöffneten Gittertore des Lagers vor uns sahen. Der breite umwaldete Talkessel war von einem hohen Stacheldrahtzaun umgeben, den alle hundert Meter hölzerne Wachttürme überragten, von denen die langgestreckten Baracken und der sogenannte Appellplatz gut zu übersehen waren. Zwischen diesen Holzbehausungen standen erregte Gruppen amerikanischer Soldaten, eilten Sanitäter mit ihren Tragbahren hin und her, schlichen scheu und verstört ein paar völlig abgemagerte Häftlinge in ihren breitgestreiften groben Kitteln vorüber. Vor einer der Baracken, an deren Giebelseite wir zögernd stehenblieben, hockten einige dieser geplagten Menschen, um ihre Notdurft zu verrichten. Einer lehnte an einer Kiefer und erbrach sich. Wahrscheinlich hatte er sich bei der jetzt einsetzenden besseren Verpflegung übernommen.

„Ob es keine Toiletten gibt?“ fragte mich Frau Abel verstört. „Ich habe mehr den Eindruck, die Leute sind einfach zu schwach, um dafür vorgesehene Orte aufzusuchen“, antwortete ich.

Wir sahen uns suchend nach einer zentralen Kommandostelle um, als unsere Blicke entsetzt auf zwei kreisrunde Löcher fielen, die etwa einen Durchmesser von je zehn Metern hatten, angefüllt mit kreuz und quer hineingeworfenen Leichen. Ein schreckenerregendes Gehäuf von verrenkten Gliedern, in die Luft starrenden Armen und Beinen, weißen pergamentenen Schädeln mit starren erloschenen Augen bot sich uns beiden Lebenden dar und offenbarte uns das ganze höllische Inferno dessen, was sich hier abgespielt hatte. Ich fühlte die Hände der Schwester Elisabeth auf meinem Arm und mußte schnell zugreifen, um die Schwankende zu halten. Behutsam führte ich sie einige Schritte zur Seite, aber da richtete sich diese tapfere Frau schon wieder energisch auf. „Entsetzlich“, sagte sie. „Ganz entsetzlich. Wir müssen sofort dafür sorgen, daß die Leichen anständig beigesetzt werden. Was soll man sonst von uns denken!“ Ich selbst bekam kein Wort heraus. Da trat ein amerikanischer Offizier zu uns und nickte einige Mal in tiefem Ernst. Er stellte sich kurz als Feldgeistlicher der katholischen Kirche vor. „Was ich in diesem Lager gesehen habe, ist das Furchtbarste, was mir je im Leben begegnet ist“, sagte er in recht gutem Deutsch. Ich selbst fand immer noch keine Worte. „Sie sind der evangelische Geistliche des Dorfes?“ Ich nickte kurz. „Sie wollen die kranken Häftlinge besuchen?“ „Ja, wenn das möglich ist?“ „Konnten Sie das denn nicht schon früher einmal tun?“ Ich verneinte; „Wir durften uns ja nicht einmal dem Lager nähern. Zwar ahnten wir nichts Gutes, aber so fürchterlich haben wir es uns nicht vorgestellt. Die Wachtmannschaften müssen wohl sehr überstürzt abgezogen sein, daß sie die Toten nicht mehr anständig beerdigt haben.“ „Haben Sie“, fragte er, „die roten rechtsseitigen Wunden an manchen Leichen gesehen? Man hat die Menschen so zu Tieren herabgewürdigt, daß es Fälle von Kannibalismus gegeben haben muß. Wir haben festgestellt, daß einige Häftlinge unter der Hand Leber verkauften. Im Revier liegen einige schwer an Leichengift Erkrankte. Übrigens sind alle Häftlinge, die wir hier vorfanden, erkrankt, wenn auch nicht aus diesen teuflischen Gründen.“

Er deutete auf eine der Baracken und ging uns voran. Ein langer Gang tat sich vor uns auf, rechts und links flankiert von regalartigen Holzgestellen mit dreistöckig übereinander gefügten Liegestätten, an denen Holzständer angenagelt waren. In diesen harten, teilweise mit Stroh versehenen sogenannten „Betten“ lagen ausgezehrte Menschen, atmeten die übelriechende Luft, zu schwach, um aufzustehen. Der eine fieberte in Typhus-Delirien, der andere litt an der Ruhr, viele wohl auch an Tuberkulose.

Die Eßgeschirre auf den Ständern waren zum Teil mit Exkrementen angefüllt. In einigen der Holzfächer blickte man in die erloschenen Augen und auf die herabgesunkenen Kiefer bereits hinübergeschlummerter Menschen. Andere wieder hatten sich aufgerichtet und wohl staunend bemerkt, daß da eine deutsche Rote-Kreuz-Schwester und ein deutscher Pfarrer standen. Wie Hilferufe erklang es in den verschiedenen Sprachen: „Monsieur le Pasteur!“ „Mister Reverend, water, please water!“ „Jest mnje chleb!“ Wo sollte man da anfangen?! Der Amerikaner schob uns aus der Baracke: „Vorsicht“, sagte er, „schwere Ansteckungsgefahr!“ Daran hatten wir beide vor Erregung kaum gedacht. Als wir wieder ins Freie traten, kam ein amerikanischer Cäpten auf uns zu. Er sprach nicht so gut Deutsch wie der Feldgeistliche, der aber einen guten Dolmetscher abgab.

Wir boten beide unsere Hilfe an. Die Augen des Cäpten musterten uns eisig. Er ließ uns sagen: „Sie werden wohl einsehen, daß diese Verbrechen hier geahndet werden müssen! “ Der Augenblick, den wir beide gefürchtet hatten, war gekommen. „Soll denn das Leid noch größer werden?“ fragte die Schwester. Ich warf ein: „Die Einwohner von Langenstein können Sie unmöglich für das verantwortlich machen, was hier geschehen ist!“ Der Cäpten wies auf die gegenüberliegende Felskante: „Dort oben haben Frauen aus ihrem Ort gestanden, zugesehen und gelacht, wenn die Häftlinge ausgepeitscht oder dort“, er wies auf eine hochragende Kiefer, „aufgehängt wurden!“   „Das können unmöglich Langensteiner Frauen gewesen sein, die kenne ich. Wir haben aber zahllose Flüchtlinge, auch aus den Großstädten aufgenommen, darunter natürlich auch allerlei fragwürdige Elemente.“ „Dann nennen Sie uns diese!“ „Verzeihung, Herr Hauptmann, das ist unmöglich! Ich habe viele Orte zu versorgen, deren Einwohnerzahl von Woche zu Woche angewachsen ist. Ich schätze, es werden jetzt über sechzehntausend Menschen sein. Über die in den letzten Wochen und Monaten hinzugezogenen Fremden kann ich keine Auskunft geben!“ Da durchbrach endlich ein Lächeln sein starres Gesicht. Er schlug mir leicht mit der Hand auf die Schulter und meinte nebenhin: „Wie es scheint, sind Sie ein anständiger Kerl und wollen etwas für Ihr Volk tun. Wir werden diese Weiber schon selbst finden! Eines können Sie mir glauben, wenn im umgekehrten Falle Ihre SS-Truppen solch ein Lager gefunden hätten, stünde Ihr Dorf schon nicht mehr. In der Tschechei wurde wegen des Attentats eines einzelnen eine ganze Gemeinde buchstäblich ausgelöscht. Hier sind Hunderte und Tausende gemordet worden. Das muß und wird geahndet werden. Soviel müssen Sie einsehen!“

Meine Blicke suchten verzweifelt in der Ferne. Da sanken sie auf die rauchenden Trümmer von Halberstadt, die in einer Feldlücke sichtbar waren. Ich weiß nicht mehr, wie es geschah und wer mir in diesem Augenblick die rechten Worte gab, aber ich werde dieser höheren Macht ewig dankbar sein. Zu langen Überlegungen war keine Zeit. Aus meinem Verstände war die Erwiderung bestimmt nicht geboren, als ich mit der Hand nach Halberstadt wies und betonte: „Vor fünf Tagen haben Ihre Geschwader diese Stadt dort bombardiert. Tausende von Frauen und Kindern sind dabei in kurzer Zeit ums Leben gekommen. Ist Ihnen das nicht Ahndung genug?“ Die Schwester und ich erwarteten einen Zornesausbruch, aber die beiden Amerikaner schwiegen betreten. Der Cäpten warf einen raschen Blick nach der Rauchfahne, dann wandte er sich kurz entschlossen ab und ließ uns sagen: „Warten Sie hier, ich will mit dem General sprechen!“ Der Feldgeistliche erklärte weiter: „Der General ist heute morgen gekommen. Er ist schon ein alter Mann, aber so etwas wie hier hat er noch nie gesehen, wie er mir selbst sagte.“ Während wir auf den Cäpten warteten, kamen immer mehr Häftlinge, die uns umdrängten, Fragen und Wünsche vorbrachten, aber bei keinem von ihnen spürte man irgendeinen Rachegedanken. Einer zupfte mich dauernd am Ärmel. Er trug über dem linken Auge eine schwarze Klappe. Über die hagere Wange darunter rann der Eiter. Ich trat mit ihm beiseite. Er verbeugte sich leicht: „Ridder ist mein Name, Doktor Ridder. Ich war zweiter Bürgermeister von Düsseldorf und bin zum Teil jüdischer Abkunft, aber getaufter Christ. Bitte, bitte, telegraphieren Sie doch meiner Frau! Die holt mich hier raus. Sie ist findig.“ „Aber Sie sind doch frei. Sie können doch, wenn Sie einigermaßen bei Kräften sind, nach Hause reisen!“ erwiderte ich. „Ja, ja“, sagte er, „jaja, aber ..." „scheu sah sein freies Auge zu den Amerikanern, „glauben Sie, daß die uns so ohne weiteres freilassen?“ Ohne Zweifel begriffen die ehemaligen Häftlinge ihre neue Freiheit noch nicht, konnten nicht glauben, daß es keinen Appell mehr gab, keine Prügelstrafen, keine über das Maß ihrer Kräfte hinausgehende Steinbrucharbeit im Inneren der Zwieberge, um bombensichere Maschinenhallen zu schaffen. Er konnte auch nicht begreifen, daß Telefon- und Telegraphenleitungen unterbrochen waren. Ich versprach ihm kurzerhand alles und versuchte, ihm klarzumachen, daß die Haft wirklich vorbei sei und sie alle nur gesundgepflegt werden sollten, ehe sie nach ihren Heimatorten geschafft würden.

„Was ist mit Ihrem Auge?“ Da begann er heftig zu schluchzen und stieß mühsam hervor: „Ehe die SS-Mannschaften abmarschierten, hat mir noch einer den Gummiknüppel über den Schädel geschlagen und das Auge getroffen. Es ist verloren, hat mir der Arzt gesagt.“ „Haben Sie einen Arzt?“ „Ja, einen Tschechen, auch ein Häftling und der einzigste Arzt im Lager. Bei ihm ist man sicher.“ „Es sind gewiß jetzt auch amerikanische Ärzte im Lager, Herr Dr. Ridder.“ „Ach Gott“, sagte er, „wie lange hat mich keiner so angeredet.“ Wieder der scheue Blick zu den uniformierten Amerikanern hinüber und seine vorsichtige Frage: „Hoffentlich geben sie uns nicht auch Spritzen. Ich kann nämlich schlecht laufen. Man ist doch zu nichts mehr nütze.“ Ungestüm griff ich nach seiner Hand: „Aber Herr Doktor, das ist doch alles vorbei. Man wird Sie pflegen und Ihre Familie werden Sie bestimmt Wiedersehen.“

Er nickte versonnen und dann erklärte er: „Ich habe nämlich noch vor vierzehn Tagen die übliche Lagerstrafe bekommen, sechsundzwanzig Hiebe mit dem Gummiknüppel von den Nieren herunter bis zu den Kniekehlen. Dazu wurde man auf einen Bock geschnallt. Es ist alles noch sehr blutunterlaufen. Ich kann es Ihnen zeigen.“

„Bitte nicht hier“, wehrte ich ab, „nicht vor den Amerikanern!“ Plötzlich legte er beide Hände auf meinen rechten Arm und sah mich flehend an: „Sie sind doch ein Geistlicher, bitte, bitte, besorgen Sie mir ein Neues Testament! Ich bin ja ein Christ!“ Dann schlug er die Hände an seinen dunkelhaarigen Kopf und schluchzte immer wiederholend: „Liebet eure Feinde! Liebet eure Feinde!“ Erschüttert legte ich ihm den Arm um die Schultern: „Morgen bringe ich Ihnen eins! Der Cäpten kommt eben zurück.“ Ich spürte, wie es selbst in mir zuckte. Ich mußte mich gewaltsam zusammenreißen und trat wieder rasch neben die Schwester. Gespannt blickten wir auf den amerikanischen Offizier, in dessen starrem Gesicht kein Muskel verriet, ob er gute oder schlechte Nachricht für uns bringen würde.

„Ich habe mit dem General gesprochen“, erklärte er knapp. „Holen Sie den Bürgermeister, aber schnellstens, wenn ich bitten darf!“ Die Schwester und ich grüßten knapp und verließen so schnell wie möglich das Lager. Lange bekamen wir beide kein Wort heraus. Dann stöhnte meine Begleiterin: „Was wird nur daraus werden? Es ist fürchterlich! Diese Schande! Diese unglaubliche Schande! Einer der Häftlinge hat mir erzählt, daß man seinen vierzehnjährigen Jungen, der hier in der Küche Kartoffeln schälte und eine davon in die Tasche verschwinden ließ, durch das Fenster hindurch erschossen hat. Ein SS-Mann hat das getan. Begreifen Sie, wie deutsche Männer, denken Sie doch, unsere Soldaten, so etwas tun können?“ Unaufhörlich wischte sich die Schwester ihre Augen. Sie hatte ja so recht. Daß man einen Krieg verlieren kann, ja. Aber diese unehrenhaften verbrecherischen Handlungen, das griff schwer ans Herz. Es sollte nicht unsere einzige Trauer bleiben.

Eine halbe Stunde später stand ich im Gemeindebüro neben dem Bürgermeister, der völlig apathisch vor seinem Schreibtisch saß. „Dieses Lager ist mein Ende“, stöhnte er, „da ist nichts dran zu ändern!“ „Zunächst kommen Sie einmal mit“, forderte ich ihn nicht gerade freundlich auf. „Warum sollte man Sie denn gerade verantwortlich machen?“ „Das Lager liegt doch auf Langensteiner Gebiet. Ich habe die Todesurteile mit unterschrieben und dabei sein müssen, wenn die Kerle gehängt wurden. Es ist aus mit mir, das Lager ist mein Ende!“ „Herr Bürgermeister, es kommt jetzt nicht auf Sie oder auf irgendeinen einzelnen von uns an. Es geht um den weiteren Bestand unseres ganzen Dorfes! Begreifen Sie doch endlich!“ ermahnte ich ihn. Da schrie er unbeherrscht: „Ich bin krank, machen Sie, was Sie wollen! Ich komme nicht mit!“ „Dann geben Sie mir eine Vollmacht, und ich werde in Ihrem Namen und Aufträge zu retten versuchen, was zu retten ist!“

Der zweite Weg zum Lager war fast schwerer als der erste. Wieder schritt Schwester Elisabeth Abel an meiner Seite, trotzig und entschlossen, die Gefahr mit allen Kräften ihres tapferen Herzens abwehren zu helfen.

Es ist gut, wenn man auf solchen Wegen von einer starken Seele begleitet wird. Das werde ich dieser Frau nie vergessen. Auf unserem Gang durch das Dorf in Richtung des Lagers folgten uns viele furchtsame Blicke der Einwohner an den Türen und Fenstern. Es begleiteten uns wohl auch viele Gebete.

Als wir diesmal das Lager erreicht hatten, erwartete uns schon der Feldgeistliche. Er begrüßte uns freundlich, so daß wir unwillkürlich den Schimmer einer Hoffnung fühlten. Das konnte aber vielleicht auch Mitleid sein, wenn er uns einen freundlichen Gruß gönnte. Er hieß uns warten, ging quer über den Platz mit unserer Vollmacht in den Händen, zu einer der Baracken. Kurz darauf kam er mit dem Cäpten und einem weiteren Offizier zurück, einem Colonel, wie ich später erfuhr.

„Nicht mit der Wimper zucken, was auch kommen mag“, flüsterte ich der Schwester schnell noch zu.

Gleich darauf gab es eine knappe Begrüßung, ohne daß man uns die Hände reichte. Der Oberst sprach mit dem Feldgeistlichen, der daraufhin einen Schreibblock aus der Tasche zog und mir nebst einem Bleistift überreichte.

„Bitte schreiben Sie auf“, diktierte er. „Die Gemeinde Langenstein liefert an das Lager, verteilt auf drei Monate, sechshundert Zentner Fleisch, zweihundert Zentner Kartoffeln, diese sofort: dreihundert Brote täglich!, Gemüsekonserven, fünfhundert Gläser Obstkonserven, des weiteren Strümpfe, Unterzeug, möglichst neu und sofort. Mit ähnlichen Forderungen ist noch zu rechnen. Bei Nichtlieferung sind schwerste Vergeltungsmaßnahmen zu erwarten!"

Es war gut, daß ich meine Augen auf den Block gerichtet hatte, so konnte ich meinen freudigen Schreck besser unterdrücken. Neben mir hörte ich den tiefen Atemzug der Schwester und fühlte wohl, daß es ein erlöstes Aufatmen war. Mit knappem Gruß wandten wir uns wieder ab. Wir hatten kaum zehn Schritte hinter uns, da kam der Feldgeistliche hinterhergelaufen und steckte der Schwester eine helle Schachtel in die Schürzentasche. Tröstlich sagte er: „Es wird nicht so schlimm werden, wenn Sie sich tüchtig Mühe geben. Good bye!“

Als wir die Bergkante hinter uns gelassen [hatten] und wieder allein waren, kniff die Schwester fröhlich ein Auge zu, suchte in ihrer Schürzentasche und brachte eine Schachtel „Lucky-Strike“ hervor. Dann reichte sie mir die Hand, und wir sprangen geradezu einige Meter dahin, wie zwei übermütige Kinder, die eine gute Nachricht zu überbringen hatten. Gut, daß uns niemand weiter sah. Es müßte ein merkwürdiger Anblick gewesen sein, die Schwester in ihrer Tracht und der tanzende Pastor im Gehrock.

Ich würde sofort einen Hirtenbrief verfassen, vervielfältigen lassen und die ganze Pfarrhausbesatzung herumschicken. Die Schwester beabsichtigte, ein Gespann mit einem Kastenwagen zu organisieren. Als wir im Dorf ankamen, wurden wir fast an jeder Tür aufgehalten, bis die amerikanische Artillerie zur Abwechslung einmal wieder Salven schoß und alles, was an Menschen in den Straßen stand, in die Häuser flüchtete. Wir beide hörten auch jetzt das helle Zwitschern von Gewehrkugeln, die wohl von deutscher Seite kamen. In den Wäldern hielten sich noch deutsche Truppen auf. Jetzt heulten auch Granaten vom Harz her über uns hinweg. In der Nähe des Pfarrhauses explodierte ein Geschoß über den Parkbäumen. Wir warfen uns beide sofort zu Boden, hatten aber das überzeugende Gefühl, daß uns jetzt einfach nichts mehr passieren könnte. Der Hirtenbrief ging allem vor.

Diesen Aufruf zur Liebestat sandte ich in sechs Exemplaren in die Gemeinden, die ich gleichzeitig zu einem Dankgottesdienst einlud. Bitten und Beten sind sehr wesentliche Dinge im kirchlichen Dienst. So wie dieser Ruf wurde wohl in Langenstein noch keiner gehört und aufgenommen. Jedem meiner Helfer und Helferinnen hatte ich einen Ausweis in englischer Sprache mitgegeben, falls sie von amerikanischen Patrouillen aufgehalten werden sollten. Vom Ortskommandanten, der im Schloß residierte, hatte ich mir die Erlaubnis für diese Ausweise geholt.

Binnen zwei Stunden hatte ich säckeweise beste Wäsche zusammen, ganze Bündel von neuen Strümpfen und warmes Unterzeug. Frau Abel rollte mit einem Kastenwagen voller Obst- und Gemüsekonserven an.

Zum drittenmale ging es zum Lager hinaus und diesmal mit recht frohen Schritten neben unserem Liebesfuhrwerk. In den Taschen hatte ich einige Neue Testamente. Der Cäpten nickte zufrieden, als er unser Gespann sah. Viele Häftlinge umdrängten uns, griffen schon nach den Konserven, wurden aber sofort von den amerikanischen Soldaten zurückgewiesen. „Die meisten der Leute sind hier magenkrank“, erklärte uns ein Sanitätsfeldwebel, „wir müssen vorsichtig sein.“ Schwester Elisabeth fragte, ob sie irgendwo helfen könnte, und wurde zu einem Verbandszimmer gewiesen. Ich selbst suchte nach Dr. Ridder, begleitet von einem schmächtigen Franzosen, der mir von seiner Heimat vorschwärmte und von seiner Attache-Tätigkeit erzählte, Monsieur de Rottru-bain. Sobald ich in eine der Baracken trat, blieb er zögernd zurück. Das ganze Elend zu beschreiben, fehlen einfach die Worte. In einem dieser Schlafställe, denn als Wohn-räume kann man sie nicht bezeichnen, kam ich dazu, wie einer der Häftlinge auf einen Kranken losschlug. Das Niederträchtige der ganzen Lagereinrichtung bestand ja darin, daß man auch Schwerverbrecher zwischen die politischen Häftlinge steckte und sie häufig als Aufseher, sogenannte Kapos, eingesetzt hatte. Aus einer anderen Baracke hörte ich Choralgesang und wurde von einem der Häftlinge, Herrn Bongardt, brüderlich in die Arme geschlossen. Er stammte aus der bekannten Pianofabrik Bongardt. Meine Testamente wurde ich bald los. Dr. Ridder, den ich am äußersten Drahtzaun fand, wollte wissen, ob seine Frau schon zurücktelegraphiert hätte. Leider konnte ich diese Frage nur sehr ausweichend beantworten.

Bei allem Leid kamen aber auch erfreuliche Dinge zum Vorschein. So erzählten mir die Häftlinge, daß des öfteren eine Frau, deren Mann Verwalter des in der Nähe gelegenen Militärschießstandes sei, mit ihrem Kartoffel- und Gemüsekorb vom Felde heimkehrend, stets hinstürzte, wenn sie auf eine Kolonne des Lagers stieß, die von ihrem Arbeitsplatz heimkehrte. Ihre Früchte kullerten immer sehr geschickt zwischen die Mannschaften. Auch von unserem Hegemeister hörte ich ähnliche Dinge. Er hatte ganze Gruppen von Häftlingen, die zum Holzschlagen in den Wald abkommandiert waren, trotz der Wachen mit Lebensmitteln versorgt. Aber hier soll der alte Hegemeister Stegmann nicht ungenannt bleiben. Auch nicht die mutige Frau Schikarsky vom Schießstand. In einer der Baracken mußte ich mich desinfizieren, wodurch ich endlich begriff, warum der kleine Franzose immer zögernd zurückgeblieben war. Es begann bereits zu dämmern, als ich mit der Schwester todmüde nach diesem schweren Tage daheim anlangte.

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