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Chronik und Quellen
1945
März 1945

Untergangsstimmung in Berlin

Erich Alenfeld beschreibt seiner Schwägerin am 4. März 1945 die Untergangsstimmung in Berlin und seine Furcht vor der Roten Armee und vor der Gestapo:

Liebe Anneliese!

Ich empfinde das Bedürfnis, Dir persönlich zu Deinem Geburtstage zu gratulieren. Gewinne Deine volle Gesundheit zurück und bewahre Deine mutige, tatkräftige, besonnene Gesinnung und Dein warmfühlendes Herz. Ich habe mich sehr über Deine Zeilen an meine Kinder anläßlich ihrer Geburtstage gefreut. Nicht nur, daß Du im Gegensatz zu Hildegard Zeit gefunden hast, ihnen zu schreiben, sondern auch die Art, wie Du es getan hast, hat mir sehr gefallen. Dein Appell kommt zur rechten Zeit. Uns allen steht Schweres bevor. Wir können nicht fort; wenn wir nicht gezwungen werden, es zu tun, so müssen wir alles überstehen, was eine dunkle Zukunft uns Vorbehalten hat: Schlacht um Berlin, Besetzung durch die Russen, Hungersnot und ich persönlich Verhaftung und Abtransport nach Theresienstadt oder sonstwohin. Überall werden Sperren errichtet, nun fangen sie an, auch in Zehlendorf Gräben auszuheben, Gefechtsstände einzurichten. Der Volkssturm übt, baut, die H. f. muß helfen. Kein Zweifel: man will Berlin denselben Schrecken aussetzen wie Budapest oder Breslau. Über den Erfolg kann kein Zweifel sein. Die Russen, die von der Wolga bis zur Oder gelangten, werden auch Spree und Havel und die Kanäle überwinden. Zehntausende werden ihr Leben lassen müssen und schrecklich viel Elend neu verursacht. Was spielt das für eine Rolle in den Augen derer, die um ihr Leben kämpfen und sich bemühen, das Ende um kürzere Frist hinauszuschieben? Wenn Goebbels kürzlich von der Göttin der Gerechtigkeit sprach und meinte, wenn Deutschland unterliege, so wäre die Göttin nur eine Hure des Kapitals und der Überzahl, so irrt er vollkommen. Niemals hat die Göttin der Geschichte oder sagen wir Gott ein gerechteres Urteil gefällt als das, das heute gefällt ist. Das Strafgericht für alle Schandtaten, die in den verflossenen Jahren begangen wurden, mußte kommen. Herrn Danigers Frage: Und Gott schweigt? ist beantwortet. Gott hat nicht geschwiegen. Der von den Nazis verspottete Jehova hat eingegriffen. Leider, leider müssen nun wieder Unzählige büßen, die nicht sich schuldig gemacht haben, es sei denn, daß sie geschwiegen haben, anstatt sich dagegenzuwenden. Was spielt aber das einzelne Menschenschicksal in dieser Katastrophe für eine Rolle? Wir hörten heute von unserem tapferen Pfarrer Dilschneider eine Predigt, die uns wieder sehr befriedigte u. stärkte. Wir müssen für jeden ruhigen Tag dankbar sein. Jeder Tag kann die befürchtete Wende bringen, sei es von den Russen her oder von der Gestapo. Aus Hamburg schrieb uns unsere Freundin Anni, daß dort bereits vor 14 Tagen alle Mischehe-Juden abgeholt worden seien. Ähnliches wurde aus Halle und Braunschweig gemeldet. Wir stehen zwischen Skylla und Charybdis und können weiter nichts tun, als auf Gott vertrauen. Bisher sind wir durchgekommen, hoffentlich überstehen wir das Ende. Du warst so freundlich, uns in Gießen eine Notunterkunft anzubieten. Vielen Dank hierfür. Im Augenblick kann Sabine nicht fort, da sie dienstverpflichtet ist. Muß sie mit den Kindern fort, dann ist es fraglich, ob sie bis Gießen kommt, außerdem fürchte ich, daß es kaum lange dauern wird, bis Gießen und das Lahngebiet Etappe wird. Schon stehen die Amerikaner unweit Bonn, Trier ist besetzt. Es wird nicht lange dauern, dann stehen sie am Rhein, und der Westerwald und der Taunus sind Kriegsgebiet. Dann werdet Ihr selber in Bedrängnis geraten und neue Pläne schmieden, zum mindesten Entschlüsse fassen müssen. Für uns alle ist die Zukunft düster und undurchsichtig. Heinz Mathiesen ist schwerverletzt (Bein) in Colberg gelandet, scheint auf dem Wege der Besserung zu sein. Wir haben freiwillig neue Flüchtlinge aufgenommen: Mutter mit tjährigem Kinde, Rheinländerin, die ausgebombt war und jetzt aus Westpreußen flüchten mußte. Mutter nahebei im Krankenhaus.

Nun lebe wohl. Ich wünsche Dir, Otto und Deinen Kindern alles Gute.

Übersteht die schwere Zeit und bleibt gesund, herzliche Grüße Dein Erich (Bitte hebe die Marke auf bzw. sende sie zurück)

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