Rettung von Juden in besetzten Gebieten?
Der Schweizerische Israelitische Gemeindebund diskutiert auf seiner Sitzung am 5. Februar 1945 die Rettung der letzten verbliebenen Juden in den von Deutschland besetzten Gebieten:
A. Hilfe und Aufbau
1. Rettung von Juden in deutsch-kontrollierten Gebieten
Bericht Dr. G. Riegner, Genf: Vor circa 8 Tagen ist in Genf ein Telegramm des Weltkongresses New York eingetroffen, das die Aufforderung enthielt, in zwölfter Stunde die Reste der europäischen Judenheit in den deutschkontrollierten Ländern zu retten. Obwohl mit dem internat. Roten Kreuz ein ständiger Kontakt besteht, wurden auf Grund offiziöser Besprechungen mit Beamten des Eidgenössischen] Politischen Departements, mit Genfer Bureaux und dem War Refugee Board folgende Forderungen [formuliert], die der schweizerischen Regierung vorgetragen werden sollten: es soll ein spezieller Bevollmächtigter bei der Schweizer Gesandtschaft in Berlin ernannt werden, der sich ausschliesslich mit der Frage der Rettung von Juden zu befassen hätte. Nachdem ein deutsches Einverständnis vorlag, 14 000 Juden in die Schweiz ausreisen zu lassen, diese Ausreise aber nicht stattfinden konnte, sollte man versuchen, andere 14 000 freizubekommen. Im Telegramm aus USA werden diplomatische und publizistische Aktionen verlangt:
Diplomatische Demarchen bei der schweizerischen Regierung und den internationalen Organisationen und Aufrüttelung der öffentlichen Meinung, damit nicht infolge der Kriegsereignisse die Judenfrage in den Hintergrund trete und nicht noch vor dem Rückzug der Deutschen weiteres Furchtbares mit den Juden geschehe. Diese Demarche sollte bei Dr. Stucki, eventuell nach vorheriger Empfehlung durch eine dritte Stelle, erfolgen, und zwar durch eine Dreierdelegation des SIG, als deren Mitglied sich Prof. Guggen-heim, der Dr. Stucki persönlich kennt, zur Verfügung stellt. Es könnten auch von anderer Seite Schritte unternommen werden, aber der SIG als Vertreter der schweizerischen Judenheit sollte zunächst bei der schweizerischen Regierung vorstellig werden. Der Weltkongress z. B. könnte die Forderungen an die Schweiz, die anlässlich der Konferenz von Atlantic City gestellt wurden, zur Kenntnis bringen. Auch sollten nichtjüdische Kreise, und zwar solche, die sich nicht schon oft für die Judenfrage eingesetzt haben, z. B. der Evangelische Kirchenbund und die politischen Parteien, zu ähnlichen Schritten veranlasst werden.
Für publizistische Aktionen ist der Zeitpunkt nicht günstig, da die kriegerischen Ereignisse das Interesse in Anspruch nehmen. Man kann eventuell später darauf zurückkommen und in der Zwischenzeit die Möglichkeiten prüfen.
Diskussion: Diplomatische Aktionen: Es wird die Frage gestellt, was für Verhandlungen in diesem Sinne zur Zeit bereits geführt wurden und wer dahintersteht. In der Presse fand sich eine Meldung, dass Alt-Bundesrat Musy mit Wissen des Bundesrates in humanitärer Mission in Deutschland tätig sei. Der Vorschlag, es sei ein Spezialbevollmächtigter in Deutschland einzusetzen, bedarf noch der Abklärung. Wir können der Schweizer Regierung weiterhin vorschlagen, dass die Schweiz ihre Dienste als Transitland anbiete. Mit der Einreisemöglichkeit weiterer Juden sollte der Weltkongress sich befassen. Unsere Demarche müsste womöglich bei der obersten Stelle des EPD eingeleitet werden. Einen formellen Antrag können wir nicht stellen, sondern nur Anregungen machen. Wir müssen unbedingt erfahren, welche Rettungsaktionen zur Zeit bereits von den verschiedenen Organisationen angestrebt werden. Es sollen sich bei solchen Bemühungen auch schon unerwünschte, vielleicht sogar schädliche Einflüsse vor dem letzten Transport aus Bergen-Belsen bemerkbar gemacht haben. - Zur Mission Musy wird erläutert, dass er mit agudistischen Kreisen Verhandlungen geführt habe und mit deutschen Stellen unterhandle, wobei die Gegenleistung für die Befreiung vermutlich finanzieller Natur ist. Alle von anderer Seite unternommenen Schritte können uns von unserer Aufgabe nicht entbinden. Wir müssen dem Appell, dem wir noch vor einem halben Jahr infolge der eingeengten Lage der Schweiz nicht hätten nachleben können, Folge leisten. Die politische Lage ist heute eine andere als vor einigen Jahren, da man es nicht wagen durfte, zu deutlich zu sein. Gegen das Postulat, einen Spezialbeauftragten in Deutschland zu ernennen, werden weitere Bedenken geäussert. Trotzdem wäre es wünschenswert, wenn eine neue, unverbrauchte Kraft mit dieser Aufgabe betraut würde. Wenn der diplomatische Apparat nicht so schwerfällig wäre, hätte man vielleicht auch in Ungarn mehr ausrichten können.
Beschluss: Es soll eine Demarche unternommen werden. Eine Dreierdelegation des SIG mit den Herren Saly Braunschweig, Dr. Georges Brunschvig und Prof. Dr. Paul Guggen-heim soll bei Bundesrat Petitpierre vorsprechen.
Diskussion: Intervention beim IRK. Es liegen verschiedene Anträge vor, das IRK im jetzigen Zeitpunkt um intensives Eintreten zugunsten der deutschen Judenlager zu veranlassen. Das IRK wird häufig und von verschiedenen Seiten um solche Interventionen angegangen; die Schwierigkeiten liegen offenbar darin, dass die deutschen Visen nicht erhältlich sind. Auch von der Tagung des Weltkongresses in Atlantic City wurde ein Telegramm an das IRK gerichtet, das inzwischen beantwortet wurde. Eine persönliche Demarche des SIG beim IRK erscheint nicht nötig. Bei der Besprechung mit dem Bundesrat Petitpierre sollte darauf hingewiesen werden, dass mehr hätte geleistet werden können, wenn die Vertreter des IRK mehr Bewegungsfreiheit gehabt hätten. Hingegen könnte durch Stellung von Camions und Benzin zur besseren Versorgung von Nichtkriegsgefangenenlagern in Deutschland eine wesentliche Hilfe geleistet werden. - Zum Vorschlag, es sei die Hilfsbereitschaft durch Meetings, Presse-Campagnen etc. zu fördern, werden Bedenken geäussert. Die vorgeschlagenen Aktionen sind nicht mit denen zu vergleichen, die 1942 für das Asylrecht zur Zeit der Refoulierungen auf fruchtbaren Boden fallen konnten. Damals interessierten sich hierfür auch die politischen Parteien. Beschluss: Eine Demarche des SIG beim IRK soll durchgeführt werden; die Vorschläge betr. Meetings etc. werden abgelehnt.
2. Austauschtransporte von Zivilinternierten
Bericht: Von verschiedenen Stellen waren dem SIG Berichte aus St. Gallen zugekommen über die in dem Zivilinternierten-Austausch in den letzten Tagen des Monats Januar sich befindlichen 80 jüdischen Menschen aus Bergen-Belsen, die sich in einer unvorstellbar schlechten Verfassung befanden. Leider konnte aber die schweizerisch-jüdische Fürsorge und Seelsorge nicht in Kraft treten, da von verschiedenen Seiten rigorose, z. T. sich widersprechende Anordnungen Vorlagen, laut welchen grosse Schwierigkeiten gemacht wurden, Zutritt zu erhalten, den Leuten bei Krankheit und Todesfall unhumane Behandlung widerfuhr, Familien getrennt wurden und die Unterkunft zu wünschen übrig liess. Ein detaillierter Bericht über alle Vorkommnisse ist den Mitgliedern der GL zugegangen. Bisher konnte trotz aller Bemühungen nicht festgestellt werden, ob die Verantwortung bei der amerikanischen Gesandtschaft, der Abteilung für fremde Interessen des EPD, beim Schweizerischen Roten Kreuz oder einer schweizerischen Militärstelle lag. Dem SIG liegt es nun ob, besorgt zu sein, dass bei zukünftigen Transporten die jüdische Fürsorge und rabbinische Betreuung in der Schweiz wirksam eingreifen kann und solche Härten vermieden werden.
Diskussion: Der Transport aus Bergen-Belsen war ein Zeugnis für die Zustände in den deutschen Lagern und an sich Grund genug, bei den Behörden vorstellig zu werden. Wir müssen einen Protest gegen die Behandlung, die die Leute in der Schweiz erfuhren, einlegen und prüfen, was in Zukunft vorzukehren ist, damit nicht eine Instanz die Verantwortung auf die andere abschiebt. Es scheint, dass alle Schwierigkeiten auf diesem Boden zu suchen sind. Für künftige Transporte stellen wir folgende Forderungen auf: Es sollte den führenden jüdischen Fürsorgeorganisationen und einem Rabbiner gestattet sein, jüdische Transportteilnehmer zu betreuen.
Ehegatten und nahe Angehörige sollten während der Transporte nicht getrennt werden. Bei Todesfällen sollte es den nächsten Angehörigen gestattet sein, an der Beisetzung teilzunehmen.
Angehörige in der Schweiz sollten, nach Kontrolle auf Grund der Reisendenliste und der Ausweispapiere, Zutritt erhalten.
Schwerkranke sollten auf Grund ärztlicher Atteste Zurückbleiben dürfen. Nahe Angehörige sollten dasselbe Recht haben.
Verantwortlich scheint zunächst das Territorialkommando, an das man dieses Gesuch richten müsste. Andererseits wird bekanntgegeben, dass laut telephonischer Besprechung der amerikanischen Gesandtschaft in Bern mit Washington keine Milderungen zu erlangen sei: also liegt die Verantwortlichkeit dort. Die Frage hat einen politischen Aspekt, sie dürfte Bundesrat Petitpierre interessieren und anlässlich der Besprechung mit ihm vorgetragen werden. Aber wir müssen sofort intervenieren, damit beim nächsten Transport nicht wieder die gleichen Schwierigkeiten auftreten. Es wird daraufhingewiesen, dass zu trennen ist zwischen technischen Schwierigkeiten und prinzipiellen Härten, wie Trennung von nahen Angehörigen, welche zu Lasten der amerikanischen Gesandtschaft fallen. Zuerst sollte schriftlich abgeklärt werden, wer für was verantwortlich ist, damit man nicht bei den falschen Instanzen vorstellig wird. Vom juristischen Gesichtswinkel aus hat der amerikanische Standpunkt eine gewisse Berechtigung. Man darf von einer Konvention zwischen kriegsführenden Staaten nicht abweichen. Die Deutschen hätten die Amerikaner des Vertrauensbruches bezichtigt, und das Leben der übrigen 8000 Juden wäre gefährdet gewesen. Doch hätte man die Leute ohne weiteres als nicht transportfähig erklären können. Ein Faktum ist, dass die Namen der Leute nicht mit den auf den Listen angeführten übereinstimmten: die Alliierten wollten sie daraufhin untersuchen, ob keine Spione etc. darunter seien. Aber alle diese Gründe können uns nicht von einer Intervention abhalten, und zwar noch vor der Besprechung mit Bundesrat Petitpierre. Es muss allerdings noch daraufhingewiesen werden, dass der Aufenthalt jenes Transportes in St. Gallen unvorhergesehen war; normalerweise hätte der Zug durchfahren sollen.
Beschluss: Es soll an den Territorialdienst der Armee ein Schreiben im Sinne einer Anfrage, was in Zukunft bei solchen Austauschtransporten geschehen und an wen man sich wenden solle, gerichtet werden.
Mittagspause 13.25-14.30 Uhr. Gemeinsames Mittagessen in der Pension Tel-Aviv.
Im weiteren Verlauf der Sitzung wird durch telephonische Rückfrage bei der Abteilung für Territorialdienst des EMD und bei der Abteilung für fremde Interessen des EPD festgestellt, dass als einzige schweizerische Stelle nur das Territorialkommando, und zwar für technische Fragen (Transport, Verpflegung, Unterkunft), zuständig war. Für alle anderen Anordnungen trage weder die Armee noch das EPD, sondern ausschliesslich die amerikanische Gesandtschaft in Bern die Verantwortung. Da es Dr. Riegner im Verlauf des Nachmittags nicht mehr gelingt, mit einem der beiden zuständigen Beamten der Gesandtschaft telephonisch in Kontakt zu kommen, wird Dr. Georges Brunschvig beauftragt, am Dienstag in Bern die notwendigen Rückfragen bei der Gesandtschaft [der] USA direkt vorzunehmen und Präsident Saly Braunschweig Bericht zu erstatten. Da die Vorkommnisse in St. Gallen auch dann von der Öffentlichkeit der Schweiz zur Last gelegt werden, wenn die Verantwortung bei den USA liegen sollte, wird man anlässlich der Besprechung beim EPD auf diese Dinge in geeigneter Weise zurückkommen.