Aufforderung zur Reue
Thomas Mann schildert in einer Radiosendung vom 14. Januar 1945 die deutschen Verbrechen und fordert zur Reue auf:
Deutsche Hörer - wäre nur dieser Krieg zu Ende! Wäre nur schon geschehen, was geschehen muß und einmal geschehen wird, wie es nun anfangs auch aussehen möge! Wären die grauenhaften Menschen erst beseitigt, die Deutschland hierhin gebracht haben, und könnte man anfangen, an einen Neubeginn des Lebens, an das Forträumen der Trümmer, der inneren und äußeren, an den allmählichen Wiederaufbau, an eine verständige Aussöhnung mit den anderen Völkern und ein würdiges Zusammenleben mit ihnen zu denken! - Ist es das, was ihr wünscht? Spreche ich damit eure Sehnsucht aus? Ich glaube es. Ihr seid des Todes, der Zerstörung, des Chaos übersatt, wie sehr euer Heimlichstes zeitweise danach verlangt haben möge. Ihr wollt Ordnung und Leben, eine neue Lebensordnung, wie düster und schwer sie sich für Jahre auch anlassen wird. Das ist mutig. Es ist sogar viel mutiger als der betörte Fanatismus, mit dem eure Jugend in Waffen heute noch den „heiligen“ - ach, den längst von Lüge und Verbrechen so völlig entheiligten und besudelten deutschen Boden verteidigen zu sollen glaubt. Aber eins tut not für den Neubeginn. Es gibt für die Aussöhnung mit der Welt eine Vorbedingung, an deren Erfüllung jede moralische Verständigung mit anderen Völkern geknüpft ist und ohne deren Erfüllung ihr Deutschen nie begreifen werdet, was euch geschieht. Das ist die klare Einsicht in die Unsühnbarkeit dessen, was ein von schändlichen Lehrmeistern zur Bestialität geschultes Deutschland der Menschheit angetan hat; es ist die volle und rückhaltlose Kenntnisnahme entsetzlicher Verbrechen, von denen ihr tatsächlich heute noch das wenigste wißt, teils weil man euch absperrte, euch gewaltsam in Dummheit und Dumpfheit bannte, teils weil ihr aus dem Instinkt der Selbstschonung das Wissen um dieses Grauen von euren Gewissen fernhieltet. Es muß aber in euer Gewissen eindringen, wenn ihr verstehen und leben wollt, und ein gewaltiges Aufklärungswerk, das ihr nicht als Propaganda mißachten dürft, wird nötig sein, um euch zu Wissenden zu machen. Was eine Schandphilosophie vom schmutzigsten Dünkel eure Machthaber instand gesetzt hat zu tun, was sie durch eurer Söhne Hände, durch eure Hände getan haben, ist unglaubwürdig, aber es ist wahr. Weißt du, der mich jetzt hört, von Majdanek bei Lublin in Polen, Hitlers Vernichtungslager? Es war kein Konzentrationslager, sondern eine riesenhafte Mordanlage. Da steht ein großes Gebäude aus Stein mit einem Fabrikschlot, das größte Krematorium der Welt. Eure Leute hätten es gern rasch noch vernichtet, als die Russen kamen, aber größtenteils steht es, ein Denkmal, das Denkmal des Dritten Reiches. Mehr als eine halbe Million europäischer Menschen, Männer, Frauen und Kinder, sind dort in Gaskammern mit Chlor vergiftet und dann verbrannt worden, 1400 täglich. Tag und Nacht war die Todesfabrik in Betrieb, ihre Kamine rauchten immer. Schon war ein Erweiterungsbau begonnen ... Die Schweizer Flüchtlingshilfe weiß mehr. Ihre Vertrauensmänner sahen die Lager von Auschwitz und Birkenau in Oberschlesien. Sie sahen, was kein fühlender Mensch zu glauben bereit ist, der’s nicht eben mit Augen gesehen: die Menschenknochen, Kalkfässer, Chlorgasröhren und die Verbrennungsanlage, dazu die Haufen von Kleidern und Schuhen, die man den Opfern ausgezogen, viele kleine Schuhe, Schuhe von Kindern, wenn du, deutscher Landsmann, du, deutsche Frau, es hören magst. Vom 15. April 1942 bis zum 15. April 1944 sind allein in diesen beiden deutschen Anstalten 1715000 Juden ermordet worden. Woher die Zahl? Aber eure Leute haben Buch geführt, mit deutschem Ordnungssinn! Man hat die Registratur des Todes gefunden; dazu Hunderttausende von Pässen und Personalpapieren von nicht weniger als zweiundzwanzig Nationalitäten Europas. Buch geführt haben diese Verblödeten auch über das Knochenmehl, den aus diesem Betrieb gewonnenen Kunstdünger. Denn die Überreste der Verbrannten werden gemahlen und pulverisiert, verpackt und nach Deutschland geschickt zur Fertilisierung des deutschen Bodens - des heiligen Bodens, den deutsche Heere danach noch verteidigen zu müssen, verteidigen zu dürfen glauben gegen Entweihung durch den Feind!
Die Waffen nieder! Entsetzen, Scham und Reue ist das, was nottut. Und nur ein Haß tut not: der auf die heillosen Schurken, die den deutschen Namen vor Gott und der ganzen Welt zum Greuel gemacht haben.