Verhaftung von „Mischlingen“ im Rheinland
Wilhelm Neuß, Professor für Kirchengeschichte in Bonn, informiert Bischof Clemens August von Galen am 26. September 1944 über die Verhaftung konvertierter Juden und „Mischlinge“ im Rheinland:
Excellenz!
Da ein junger Bekannter von mir in Münster zu tun hat, möchte ich ihm diese Zeilen an Sie mitgeben. Es wird bald zehn Jahre her sein, daß ich in Gevelinghausen bei Ihnen war. Damals fanden Sie rasch den rechten Weg, und wir dürfen annehmen, daß Gutes aus dem Entschlüsse gekommen ist. Die Erinnerung daran veranlaßt mich in anderer Sache, aber auch einer ganz dringenden unserer hl. Kirche, heute wenigstens meine Gedanken auszusprechen.
Ich weiß nicht, wie weit im Bezirk des Münsterschen Bistums die Aktion der Überführung der bisher geschützten Nichtarier und der Halbarier in Lager durchgeführt worden ist. Im Rheinland ist sie weithin schon durchgeführt worden, und zwar beiderseits des Rheines. Da ich eine Anzahl tieffrommer katholischer Bekannter bei den von [zu] Hause Weggeführten hatte, die ich mehrmals am Lager besucht habe, so habe ich von dem Umfange der Aktion und von der unsäglichen Not, ich meine vor allem der seelischen, eine unmittelbare Anschauung bekommen. Da es sich jetzt ja fast nur um Christen und hierzulande ganz überwiegend um katholische Christen handelt, so ist es ja wirklich eine brennende Frage der Kirche.
Wenn ich die Fälle durchgehen wollte, fromme, ganz katholisch erzogene Kinder aus Ehen mit einem konvertierten nichtarischen Elternteil, Gattinnen katholischer hochangesehener Herren, die von rein katholischen Eltern stammen, von denen aber ein Teil konvertiert hatte, junge Leute, die noch in diesem Kriege in den schwersten Kämpfen gestanden haben, mit allen militärischen Ehren ausgezeichnet worden sind, dann aber entlassen werden mußten, um jetzt abgeführt zu werden, trotz EK und allem, die fromme kath. nichtarische Frau eines ebenso frommen katholischen Mannes, nachdem der einzige Sohn erst eben, d. h. vor weniger als Jahresfrist gefallen ist, die einzige Tochter einer frommen Katholikin, deren längst verstorbener Vater Konvertit gewesen war usw., ich könnte Fall auf Fall berichten, der einem schlechterdings unbegreiflich ist. Hier ist es nun so gehandhabt worden, daß die Betreffenden zunächst in einem Barackenlager in der Nähe von Köln eine bis zwei Wochen zubringen mußten. Seelsorgerischer Besuch war nicht gestattet. Man konnte nur draußen warten und sich durch einen Insassen, den man sah, die Bekannten nach vorn an die Lagergrenze bitten lassen. Es war überhaupt kein Betreten des Lagers für Nichtinsassen gestattet. Dem Besuch in der beschriebenen Form wurden freilich keine Schwierigkeiten gemacht. Dann aber sind die Insassen am letzten Samstag abtransportiert worden, und zwar ohne Angabe, wohin. Auch die nächsten Angehörigen haben darüber nichts erfahren können. Aus Andeutungen vermutet man, daß der Transport in die Nähe von Kassel gehen würde. Eine Äußerung vonseiten eines Gestapobeamten gegenüber einem Verwandten soll dahin gehen, daß sie vorerst zu Arbeiten eingesetzt würden und bis Kriegsende festgehalten würden. Zurückgelassen hat man in dem Kölner Lager am Samstag die nicht transportfähigen Alten und Kranken. Sie sind noch in der Krankenbaracke des Lagers. Es hieß, sie sollten nach Theresienstadt kommen. Ferner die rein arischen Eheteile, so daß jetzt Männer und Frauen auseinandergerissen sind, nachdem man ja auch den rein arischen Eheteil in das Lager überführt hatte. Dort werden diese arischen Leute noch festgehalten. Endlich hat man zurückgelassen die halbarischen Kinder unter 16 Jahren. Es waren Kinder von 4-16 Jahren da, die hilflos weinend ohne Vater und Mutter dastanden. Wenn sich jemand fand, der sich verpflichtete, sich ihrer anzunehmen, so konnte er die Kinder mitnehmen. Ich konnte eine Reihe von Angehörigen benachrichtigen oder auch Ortsgeistliche, daß sie für die Abholung der Kinder Sorge trügen; einen Jungen habe ich gleich mit nach Bonn genommen, wo ihn die Mitbewohner des Hauses aufgenommen haben und ich für das weitere sorgen kann. Er hat auf Erden außer seiner abtransportierten Mutter buchstäblich keinen Verwandten, der auch nur irgendwie noch in Betracht käme.
Was aber wird nun mit den Abtransportierten? Der Herr Erzbischof hat, als dem Pfarrer von Müngersdorf, in dessen Bezirk das Lager liegt, der Zutritt verboten wurde, in einem sehr maßvollen Schreiben den Gauleiter gebeten, die seelsorgerische Betreuung doch zu gestatten. Die Antwort war Ablehnung, da es sich doch nur um einen kurzen Durchgangsaufenthalt handele. Der Erzbischof hat auch durch Bischof Wiencken in Berlin Vorstellungen erhoben, auf die noch keine Antwort da ist. Er fürchtet, daß ein schärferes Auftreten nur zu noch weiter verschärften Maßregeln gegen die armen Leute führen würde. Die Internierten meinten, die Kirche habe sie im Stiche gelassen, kein Priester sei zu ihnen gekommen. Wenn wenigstens die Pfarrer sofort benachrichtigt und aufgefordert worden wären, hinauszufahren und am Eingang mit ihren Pfarrkindern zu sprechen, so wären diese nicht ganz verlassen gewesen. Ich konnte nach dem Abtransport der weiter Deportierten in das Lager hinein, wo die übriggebliebenen noch waren, und hörte erschütternde Klagen, wie sie zusammen gebetet hätten und immer gehofft, daß ein Priester kommen würde. Wer das nicht mitgemacht, wer das Jammern der Frauen und Männer, das Weinen der Kinder bei dem Abtransport der Eltern nicht miterlebt hat, wie ich am letzten Samstag, der kann sich schwerlich eine Vorstellung von dem Übermaß von Elend machen, das da von frommen Kindern unserer Kirche ausgestanden wurde, ohne daß ihnen auch nur wenigstens der Trost geworden wäre, der doch dem Verbrecher im Gefängnis nicht versagt wird.
Nun schreibe ich Ihnen alles dieses, weil es jetzt darauf ankommt, vor allem für die nach Innerdeutschland Abgeführten zu sorgen. Das wird von hier aus noch schwerer sein als von einer mehr innerdeutschen Diözese aus. Ob Sie etwas machen können und wie, das kann auch ich nicht sagen. Ob ein offenes Wort an die Gläubigen und ihre Unterrichtung über den guten Willen der Bischöfe, den Armen zu helfen, wie ich immer noch meine, das rechte ist oder ob das wirklich noch mehr schadet, ich will es der Einsicht der verantwortlichen Stellen, die das Ganze besser überschauen als ich, überlassen. Aber daß hier eine Seelsorgepflicht und eine katholische und christliche Not vorliegt, so dringend wie keine andere zur Zeit, da für jeden sonst noch so schwer Betroffenen wenigstens eine Hilfestelle da ist, das scheint mir unzweifelhaft zu sein.
Vielleicht sind Sie längst über alles dieses noch besser im Bilde als ich. In dem Falle bitte ich es zu entschuldigen, daß ich Sie bemühe. Vielleicht aber stehen diese Dinge dort noch erst bevor, obschon im Bezirk Düsseldorf und deshalb wohl auch im Münsterschen Anteil des Bezirks der Abtransport schon vor dem Kölner erfolgt ist, so daß diese Informationen von Wert für Sie sind. Sie werden gewiß alles tun, um zu erfahren, wohin man die Armen gebracht hat und ob es Wege gibt, ihnen seelsorgerisch zu helfen. Bei den Abtransportierten ist übrigens auch eine nahe Freundin der in Bonn verstorbenen Baronin von Wendt, ein Frl. Clotilde von Cohausen, bei der die ganze Abstammungsfrage zudem nicht einmal geklärt ist, soviel ich weiß, ob nämlich die Frau ihres Großvaters mütterlicherseits, Freiherrn von Wolf, der aus geadelter, wenn ich nicht irre, Schweizer Familie war, auch, wie ihr Mann, nichtarisch war. In einem anderen Fall hat man eine Dame mitgenommen, die sicher ganz arisch ist, aber als gebürtige Polin s. Zt. den erforderten Ariernachweis aus technischen Gründen nicht erbringen konnte, dann aber infolge der Nachforschungen während des jetzigen Krieges in Polen amtlich bescheinigt bekommen hat, ihre Sache sei in Ordnung. Sie ist Ärztin und hat alle Krankenkassen. Trotzdem wurde sie ganz persönlich ihrem Manne weggeholt. Eine fromme Katholikin auch sie.
Vielleicht nehmen Sie die Sache ganz von sich aus in die Hand, damit Sie auf eigenes Material gestützt - das Kölner hat ja für Sie weniger Wert - sehen, was zu tun ist.
Die Bischofssorgen sind heute so groß, und Westfalen kann ja auch, wie das Rheinland bereits, vom Kriege unmittelbar berührt werden. Aber vielleicht gibt es doch noch einen Weg, auch diesen Armen zu helfen. Ich hatte keine Gelegenheit mehr, unserem Herrn Erzbischof zu sagen, daß ich auch Ihnen Mitteilung gemachte habe, wie [ich] es ihm selber mehrfach getan habe. Gestern, als ich mit ihm sprechen wollte, hörte ich, daß eben zuvor in der Nacht bei dem Fliegerangriff auf Neuss seine Schwester getötet worden sei. Nehmen Sie daher diese Zeilen als private Information entgegen. Eine Antwort erwarte ich natürlich nicht, es sei denn durch den Überbringer dieser Zeilen.
Möge Gott Sie und das Bistum behüten.
In Ehrfurcht grüßt Sie Ihr ergebenster