Gettohaus als Museum nutzen?
Ein Mitarbeiter des Instituts zur Erforschung der Judenfrage berichtet am 2. Mai 1944 über das Jüdische Zentralarchiv Eisenstadt und die Möglichkeit, ein ehemaliges Gettohaus museal zu nutzen:
Bericht über meine Besichtigung des Jüdischen Zentralarchivs in Eisenstadt (Burgenland).
Im März d. J. erhielt ich gelegentlich meines Urlaubsaufenthaltes in Wien von Herrn Dr. Klaus Schickert den Auftrag, mir das in Eisenstadt errichtete „Jüdische Zentralarchiv“ anzusehen und darüber Bericht zu erstatten.
Ich traf am 29. früh in Eisenstadt ein und wurde im Landesarchiv vom Archivrat Dr. Kunnert, dem ich mich fernmündlich angemeldet hatte, in liebenswürdiger Weise empfangen. Er gab mir einen mündlichen Überblick über die Bestände des Archivs, die ich mir dann in Begleitung seines Stellvertreters Joseph Karl Homma besichtigte. In diesem Archive befinden sich die 1938 beschlagnahmten Archivbestände der 7 Judengemeinden des Burgenlandes: 1. Deutsch-Kreuz, 2. Eisenstadt, 3. Frauenkirchen, 4. Kittsee, 5. Kobersdorf, 6. Lackenbach, 7. Mattersburg, wozu noch 4 kleinere Gemeinden (Gattendorf, Karlburg, Rechnitz, Schleimnitz) kommen, die nur einen vorübergehenden Bestand hatten. Dazu kommt das Material dreier Schulgemeinden und verschiedene Gerichtsakten. Im ganzen wurden 100 einzelne Stücke aufgenommen, geordnet und aufgestellt, und zwar in mustergültiger Weise, so daß von jeder Gemeinde jede Art von Urkunden mit einem Griffe erfaßt werden kann.
Ich erbat mir als Probe einen Durchschlag der Inventaraufstellung einer der Judengemeinden und erhielt die umfangreiche Mappe von Eisenstadt. Sie kann nicht nur als Muster für ähnliche Arbeiten dienen, sondern legt auch den Gedanken nahe, daß wir von allen in unser Fragegebiet fallenden Archivbeständen solche Inventaraufstellungen haben müßten, die uns selbst den für unsere wissenschaftliche Arbeit notwendigen Gesamtüberblick geben würden und uns auch instandsetzten, jede Anfrage nach jüdischen Urkunden zu beantworten, sei es, daß man bestimmte Urkunden suchte, sei es, daß Material für bestimmte Fragen verlangt würde.
Aus dieser Urkundensammlung läßt sich das innere Leben der Gemeinden so vollständig auftauen, als es nur denkbar ist.
Wir gewinnen da z. B. Einblick in das Verhältnis zwischen Judengemeinde und Grundherrschaft (Esterhazy) an Hand von Beschwerden der Juden an den Grundherren, an Hand der Schutzgeldicontrakte und der Schutzbriefe usw. Es liegen die Sitzungsprotokolle und -beschlüsse sowie die Wahlakten vor. Weiter finden sich die Urkunden über alle inneren Angelegenheiten wie die Ordnung der Gemeindefinanzen. Aus der amtlichen Korrespondenz ersehen wir den Verkehr mit den Behörden. Dazu kommen Handelskonzessionen, Urkunden über Heiratsangelegenheiten wie Ehekonsense und Heiratskontrakte, zahlreiche Schuldscheine und Wechsel an Juden wie Nichtjuden, Schulangele-genheiten, Militaria (Zahl der Tauglichen!), allgemeine Staatssteuern, Gemeindesteuern, Toleranztaxen, die Rechnungsausweise für die Gebarung der Gemeinde, Zahlungsanweisungen und Zahlungsquittungen usw. Diese Urkundensammlungen gehen allerdings nur in geringer Zahl bis ins 18. Jahrhundert zurück, in der Hauptsache beginnen sie rund um die Mitte des 19. Jahrhunderts.
Trotz dieses lückenlosen Bestandes der Archive kann man sich allerdings nicht verhehlen, daß damit auch nur ein Stück der besseren Außenseite des Ghettos erhalten ist bzw. rekonstruiert werden kann. Das Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden, namentlich der geschäftliche Verkehr, die Form der Abhängigkeit der Bauern und Großgrundbesitzer vom jüdischen Händler, die Geschäftspraktiken, kurz alles das, was für die lebendige geschichtliche Gestaltung der Judenfrage und für die rassenpsychologische Erfassung des Judentums notwendig wäre, fehlt völlig. Natürlich lebt noch manches in der Erinnerung der Leute, namentlich der Beamten der ehemaligen Landesregierung, vor allem aber müßte seitens der Gutsbeamten (hier wie namentlich in Ungarn) aus der Erinnerung oder auch aus Urkunden lebendiges Material zu gewinnen sein. So können sich heute noch genügend Leute in Eisenstadt an alle Juden des Ghettos, an deren Tätigkeit und deren Eigentümlichkeiten, genau erinnern. Da mit diesen Erinnerungen unersetzliches Material verloren ginge, müßte für eine planmäßige Aufnahme gesorgt werden.
Der zweite Mittelpunkt der jüdischen Nachlassenschaft ist das Privatmuseum Sandor Wolfs im (ehemaligen) Eisenstädter Judenghetto, das ich unter Führung desStudienra-tes Oskar Gruszecki, dem ehrenamtlichen Leiter des Landschafts-Museums, besuchte. Sandor Wolf war der bedeutendste Weingroßhändler des Burgenlandes und der reichste Jude der 7 Gemeinden - gewissermaßen der König des Eisenstädter Ghettos. Er besaß 2 Häuser, ein Geschäftshaus und ein Privathaus. Dieses Privathaus, das, soweit es in dem begrenzten Raume ging, baulich ausgestaltet war, barg die Wohn- und Gesellschaffsräume sowie das Privat-Museum. Die Weinhandlung war 1790 gegründet und von einer Frau in die Höhe gebracht worden. Sandor war ein Liebhaber alter Kunst, suchte sich kunstgeschichtlich auszubilden und besaß eine große, vornehmlich kunstgeschichtliche und heimatkundliche Bücherei, sammelte ziemlich wahllos Stilmöbel, Bilder und sonstige Kunstgegenstände sowohl kirchlicher wie weltlicher und volkskundlicher Art. Besonders fallen die volkskundlichen Heiligen- und Madonnenfiguren auf, darunter manch auserlesenes Kunstwerk. Unter den zahlreichen Judenbildern (Gemälde und Fotos), welche die Wände schmücken, finden sich manche, die rassenkundlich verwertbar wären und von denen wir uns somit Kopien beschaffen müßten.
Das Museum Sandor Wolfs hat einen ziemlichen Kunstwert und stellt nun eine Sehenswürdigkeit Eisenstadts dar. Man bedauert, daß schließlich der Bestand abtransportiert und irgendwo in Museen oder Kellerräumen verschwinden würde, während er hier den Grundstock zu einem Museum bilden könnte und schon an sich für die Stadt von Bedeutung ist.
So überwiegt leider in dem Museum Sandor Wolfs das Nichtjüdische, doch gibt es auch ein jüdisches Zimmer, das für die jüdische Volkskunde von unschätzbarem Werte ist: Sandor Wolf hat ein Zimmer mit echten alten Judenmöbeln genau so ausgestattet, wie das Kontor seines Vaters, noch ein voller echter Ghettohändler, beschaffen war. So stellt dieses Ghettohaus mit seinen Terrassen und der erhöhten Terrasse, dem Lieblingssitze Wolfs, von wo aus er das Ghetto und die Stadt überblicken konnte, ein Stück lebendigen Überlieferungsgutes aus der Zeit des Ghettos dar, für dessen Erhaltung unbedingt gesorgt werden müßte. Die Geschäfts- und Wohnzimmer wurden leider, wie auch in den übrigen Ghettohäusern, nach Beschlagnahme der Häuser geräumt. Die Wohnzimmer wurden zur weiteren Aufstellung von Ausstellungsstücken verwendet, die Geschäftsräume aber dem Landesmuseum für Bürozwecke zur Verfügung gestellt. Es ist zu bedauern, daß der gesamte Besitz Sandor Wolfs nicht so erhalten geblieben ist, wie er übernommen wurde. Ebenso ist zu bedauern, daß man nicht das Haus eines durchschnittlichen jüdischen Händlers, so wie es sich vorfand mit allen seinen Einrichtungsgegenständen, als Museums-Gegenstand übernommen hat. Für den Romanschriftsteller und Geschichtsschreiber, die ihre Kenntnis nurmehr aus Beschreibungen schöpfen können, wären solche Museumsstätten von unschätzbarem Werte gewesen. Vielleicht läßt sich diese Unbedachtsamkeit in einem noch erhaltenen Ghetto gutmachen.
Zur Zeit der Beschlagnahme des Ghettobesitzes standen noch die Steine, an denen die Ketten befestigt waren, mittels derer ehedem allabendlich der Eingang gesperrt wurde. Jetzt sind die Steine umgeworfen oder zerschlagen und die Ketten verschwunden. Das wird von den Beamten des Landschafts-Museums bedauert, war aber nicht zu verhindern.
Für die Judenforschung von Bedeutung ist also neben dem umfangreichen Zentralarchive nur das altjüdische Kontor im Museum Sandor Wolfs, also in einem altjüdischen Ghettohause, wo man sich in die volle Wirklichkeit des Ghettos versetzen kann. Die vorgenannten Herren haben sich ein großes Verdienst erworben, daß sie sofort nach Umsturz Hand auf die Archivbestände und den Nachlaß Sandor Wolfs gelegt und das gesamte Material in vorbildlicher Weise aufgenommen und verwaltet haben.
1 Beilage: Mappe B, Jüdisches Zentralarchiv, Eisenstadt