Rede über Judenmord in Europa
Nahum Goldmann spricht am 26. November 1944 in Atlantic City über den Judenmord in Europa, die zu leistende Wiedergutmachung und die Verantwortung, einen jüdischen Staat in Palästina zu gründen:
1932 wurde ich auf der Vorbereitungssitzung zur Gründung des Jüdischen Weltkongresses in Genf aufgefordert, die Situation der Juden in der Welt zu analysieren. Seither habe ich die Ehre, diese Analyse auf allen jährlich stattfindenden Zusammenkünften neu vorzutragen. Von Anfang an war das ein tragischer Auftrag, und er wurde noch tragischer, als Nazi-Deutschland immer mächtiger wurde und sich seine antijüdische Politik in ihrer ganzen Gnadenlosigkeit und teuflischen Gründlichkeit zu entfalten begann. Jahr für Jahr musste ich die immer schwieriger werdende Lage der Juden analysieren - mit allen Anzeichen einer bevorstehenden Katastrophe, die die Existenz eines Großteils unseres Volkes in Frage stellte. Dann kam der Krieg, und wir waren fünf Jahre lang voneinander getrennt.
Heute, wo ich vor dem ersten internationalen Jüdischen Kongress seit Kriegsbeginn spreche, handelt der mir auferlegte Bericht nicht mehr nur von einer drohenden Katastrophe - einem spürbar nahenden Desaster sondern von einer Katastrophe, die bereits stattgefunden hat, von einer Tragödie, die viel schrecklicher ist, als irgendjemand von uns sie sich hätte vorstellen können. Und so ist es angemessen, dass mein Bericht an die Gedenkfeier anschließt, der Sie soeben beigewohnt haben. Diese Feier war Ausdruck einer Tatsache, von der jede Analyse der gegenwärtigen Lage auszugehen hat -der Vernichtung der großen Mehrheit des europäischen Judentums. Es ist womöglich noch zu früh, diese Katastrophe mit exakten Zahlen zu belegen. Einige der von den Nazis besetzten Länder Europas sind noch nicht befreit, und wer weiß schon, was den verbliebenen Juden dort kurz vor dem endgültigen Zusammenbruch des Nazi-Regimes noch widerfahren wird. Aber auch seitens der befreiten Länder gibt es bislang noch keine genauen statistischen Befunde, obwohl alle Berichte darauf hindeuten, dass unsere schlimmsten Befürchtungen noch übertroffen wurden. In Ländern, in denen einst Millionen von Juden gelebt haben, sind bestenfalls noch wenige hunderttausend übrig geblieben; und Länder mit blühenden jüdischen Gemeinden sind heute praktisch judenrein - hunderttausend mehr oder weniger können nichts mehr an der schrecklichen, zweifelsfrei feststehenden Tatsache ändern, dass die überwältigende Mehrheit der Juden Europas abgeschlachtet worden ist.
Es ist einfach, dies als Tatsache festzustellen - eine Tatsache, an die wir uns gewöhnt haben, seitdem uns die ersten Nachrichten über die Vernichtungspolitik der Nazis erreicht haben; aber niemand von uns ist bislang in der Lage, deren Bedeutung zu ermessen, die gewaltiger ist als jedes andere Faktum in der jahrhundertelangen jüdischen Geschichte. Unbewusst haben wir alle noch immer das gewohnte Bild des europäischen Judentums in unseren Köpfen - die menschliche Phantasie ist außerstande, die Vernichtung von mehreren Millionen Menschen in ihrer vollen Dimension zu erfassen. Wenn wir „Polen“ sagen, denken wir noch immer an ein Land mit einer enorm großen jüdischen Bevölkerung, mit großartigen Zentren jüdischen Lebens und jüdischer Kultur, und wenn wir über die Probleme der polnischen Juden nachdenken, fällt es sehr schwer, sich mit der schrecklichen Tatsache abzufinden, dass im Polen von morgen womöglich nur noch hundert- oder zweihundert- oder höchstens dreihunderttausend Juden übrig geblieben sein werden. Wenn wir von „Ungarn“ sprechen, haben wir eine jüdische Gemeinde mit ganz eigenen Merkmalen vor Augen, die einen großartigen Beitrag zum jüdischen Leben geleistet hat und Hunderttausende zählte - es fällt unendlich schwer, unseren Verstand darauf einzustellen, dass nach der Befreiung Ungarns vielleicht nicht mehr als hundert- oder zweihunderttausend Juden übrig sein werden. Es ist nicht nur die Tatsache, dass Millionen Juden nicht mehr am Leben sind - was mit ihnen verschwunden ist, ist historisch gesehen vielleicht noch bedeutsamer: die Gemeinschaften, die sie aufgebaut, die Zentren, die sie errichtet, die Traditionen, die sie aufrechterhalten, die kulturellen Werte, die sie geschaffen haben.
All diese Zentren, auf denen sich jüdische Existenz gründete, sind verloren, und zwar für immer. Sie aufzubauen hat Jahrhunderte gedauert, und keine Unterstützung und kein politisches Wiederaufbauprogramm kann sie je wiederherstellen. Für ein Volk, das weiterleben und sich mit der Realität auseinandersetzen muss, ist es zwecklos, seine Energie mit Wehklagen zu verschwenden. Ich bin sicher, es werden Dichter heranwachsen, die der Tragödie Ausdruck geben werden, so wie es Bialik für die Tragödie der Pogrome im zaristischen Russland getan hat. Für uns hier, die wir für die Bewältigung der aktuellen konkreten wie der künftigen Probleme unseres Volks verantwortlich sind, ist es wichtiger, die Ursachen der Tragödie zu verstehen, die Verantwortung für sie dort zu verorten, wo sie hingehört, und die Forderungen zu formulieren, die für das Überleben unseres Volks notwendig sind.
Dies ist, wie bereits gesagt, das erste Mal seit Kriegsbeginn, dass sich Repräsentanten jüdischer Gemeinden aus aller Welt, auch wenn nicht jedes Land vertreten sein kann, mit dem Ziel gemeinsamen Handelns versammeln. Diese Konferenz wendet sich an das jüdische Volk und an die Völker der Welt, und es ist an der Zeit, das Ausmaß der Katastrophe einzuschätzen und in aller Offenheit und mit großem Mut über Verantwortlichkeiten zu sprechen.
Es ist leicht, Hitler und den Nazismus für all dies verantwortlich zu machen. Aber damit ist das Problem nicht erfasst. Begriffe wie „moralische Verantwortung“ sind auf Leute wie Hitler und seine kriminelle Gefolgschaft nicht anwendbar. Wenn dich ein tollwütiger Hund beißt, machst du auch nicht ihn, sondern seinen Besitzer verantwortlich und sorgst dafür, dass das Tier getötet wird. Für die Demokratien wäre es sehr einfach, alle Schuld auf Hitler und seine Nazi-Bande abzuschieben. Das würde sie aller Verpflichtungen entheben, denn niemand rechnet damit, dass Deutschland nach seiner Niederlage in der Lage sein wird, die Rechnung für seine Verbrechen zu begleichen. Die eigentliche moralische Verantwortung für die Tragödie hat unsere gesamte Generation zu tragen, denn das Gesamtphänomen des Nazismus liegt in der heutigen Welt begründet. Kein Gesetz der Geschichte oder der Natur hat den Nazismus notwendig oder unabwendbar gemacht, und mit mehr moralischem Mut und Solidaritätsgefühl unter den Nationen hätte die Katastrophe des vergangenen Jahrzehnts, die im Krieg kulminierte, vielleicht abgewendet werden können. Wenn jemals eine Generation die Strafe für mangelnde Solidarität und moralische Gleichgültigkeit ereilt hat, dann gilt dies für die unsere. Millionen von Menschen mussten sterben, weil Regierungen und Völker auf die Bedrohung durch den Nazismus nicht reagiert haben und weil alle dachten, man werde davonkommen, wenn man die anderen leiden lässt.
Und was auf einer allgemeineren Ebene wahr ist, gilt doppelt für uns. Die antijüdische Strategie des Nazismus begann nicht mit der Vernichtung der Juden: Selbst Hitler und seine Bande benötigten jahrelange Vorbereitung, um von der antisemitischen Propaganda und den Nürnberger Gesetzen zu den Todeskammern von Maidlonik und Treblinka zu gelangen. Auch können die Demokratien nicht behaupten, sie seien nicht gewarnt gewesen. Seit 1933 haben einige, die hier in diesem Saal versammelt sind, die Führer der großen Demokratien wieder und wieder gewarnt und angefleht, entweder Hitler bei der Verfolgung der Juden zu stoppen oder es diesen wenigstens zu ermöglichen, noch rechtzeitig zu entkommen. Die meisten hielten unsere Warnungen für übertriebene jüdische Panik. Unserer Aufforderung, etwas gegen Deutschland zu unternehmen, wurde entgegnet, die antijüdischen Maßnahmen gehörten in die inneren Angelegenheiten eines Landes, dessen Souveränität es verbiete, sich einzumischen. Wenn wir forderten, die Türen anderer Länder, speziell Palästinas, zu öffnen, wurde uns erklärt, die Einwanderungspolitik sei eine innere Angelegenheit jedes souveränen Staats. Englands Beschwichtigungspolitik gegenüber den Arabern hatte zur Folge, dass es die Tore nach Palästina zu einem Zeitpunkt schloss, da deren Öffnung notwendiger gewesen wäre als je zuvor. Selbst während des Kriegs, als die ersten, von den Regierungen zunächst ange-zweifelten, später jedoch bestätigten Nachrichten über die Vernichtung eintrafen und wir eine mutige Politik forderten, um Hunderttausende zu retten, reagierte man mit den üblichen Methoden, mit bürokratischen Einwänden, und lehnte alle Maßnahmen ab, die von uns und anderen jüdischen Organisationen vorgeschlagen wurden.
Auf dieser Konferenz werden Sie - in offener und geschlossener Sitzung - die Geschichte der sogenannten Rettung zu hören bekommen, eine Geschichte versäumter Gelegenheiten und verspäteter und unzureichender Maßnahmen - eine Geschichte, die einen dazu bringen könnte, das Vertrauen in die Menschheit und in die Demokratie zu verlieren. Es sieht nicht so aus, als mangelte es an gutem Willen, die Juden zu retten. Wir beschuldigen die Führer der großen demokratischen Nationen nicht etwa, dass sie es an Sympathie oder an Hilfsbereitschaft fehlen ließen. Aber die Nachdrücklichkeit dieses Willens wurde dem Ausmaß der Tragödie nicht gerecht. Am Ende traten immer wieder Probleme auf, die auf Verfahrensroutinen und bürokratische Vorbehalte zurückzuführen und die in Kriegszeiten noch ausgeprägter sind. Das war so, als hätten die Briten nach Dünkirchen erst die Erlaubnis von vier bis fünf Ministerien einholen müssen, um Schiffe zur Rettung der Überreste ihrer Armee loszuschicken. Aber das britische Volk hat sich in den heroischen Tagen von Dünkirchen gerade nicht um bürokratische Vorschriften gekümmert; wer immer konnte, ist damals mit einem Schiff losgefahren, um die Armee zu retten. Die Juden befanden sich all diese Jahre über in einer Dünkirchen-Situation. Aber in ihrem Fall hat man nie auf Vorschriften oder Routineprozeduren zugunsten raschen Handelns und kühner Maßnahmen verzichtet. Deshalb erklären wir der Welt von diesem Forum aus, dass der Adressat für unsere Beschwerden und unsere Forderungen, für unsere Verbitterung und unsere Hoffnung, eben nicht Nazi-Deutschland ist.
Nazi-Deutschland muss zerstört werden. Aber darüber hinaus haben wir keine Rechnung mit ihm zu begleichen, denn moralische und politische Erwägungen haben für ein Regime von derart bestialischem Charakter keinerlei Gültigkeit. Unser Adressat sind die demokratischen Staaten, für die moralische Gesetze und Regeln des Anstands existieren. Sie tragen, in einem historischen Sinn, die Verantwortung für diese beispiellose Katastrophe, und sie haben die Verpflichtung, wiedergutzumachen, was wiedergutgemacht werden kann, und dafür zu sorgen, dass sich eine derartige Katastrophe nicht wiederholt.
Was bedeutet das konkret? Wo Juden Rechte genommen wurden, müssen sie zurückgegeben werden. Sie sind rückwirkend so wiederherzustellen, als ob diese schreckliche Periode nicht existiert hätte. Wir wissen, dass es unmöglich ist, sämtliche Auswirkungen dieses Jahrzehnts rückgängig zu machen. Es ist ausgeschlossen, ein historisches Phänomen zu vergessen und so zu tun, als hätte es nicht existiert. Jahrzehnte- wenn nicht jahrhundertelang wird die Welt unter den Folgen dieser barbarischen Zeit leiden, aber die in dieser Zeit geltenden Gesetze und Vorschriften müssen, zumindest auf juristischer Ebene, annulliert, aus den Geschichtsbüchern ausradiert werden und die jüdischen Rechtstitel in vollem Umfang restituiert werden.
Jüdisches Eigentum muss, soweit möglich, zurückgegeben werden. Ich befasse mich hier nicht mit den Details dieses komplizierten Problems, über das Sie noch Berichte und Vorschläge hören werden, sondern skizziere lediglich die Umrisse eines Programms. Wir wissen, dass ein Großteil des von den Nazis zerstörten jüdischen Eigentums, sowohl des privaten als auch des Gemeindeeigentums, nicht zurückerstattet werden kann. Aber das Prinzip, dass Eigentum, wo immer es möglich ist, zurückgegeben werden sollte, sollte sakrosankt sein. Auch an dieser Stelle wiederhole ich, dass unser Hauptadressat für diese Forderung nicht etwa Nazi-Deutschland ist. Wo immer geraubte oder gestohlene Güter zurückerlangt werden können, muss das natürlich geschehen, aber für die Rückgabe jüdischen Eigentums sind in erster Linie die demokratischen Regierungen verantwortlich. Aus den befreiten Gebieten hören wir bereits, dass sich diejenigen» die vom Raub jüdischen Eigentums profitiert haben, der Rückgabe widersetzen. Geht man zu weit, wenn man erklärt, der Lackmustest für die Redlichkeit und den demokratischen Charakter der dortigen Regierungen ist ihr Engagement, sich gegen diesen Widerstand durchzusetzen und die gestohlenen Güter ihren rechtmäßigen Eigentümern zurückzugeben? Erklärungen und Versprechungen allein werden nicht ausreichen. Nach zehn Jahren haben wir Juden, vielleicht mehr als andere Völker, die symbolischen Versprechungen und Sympathiebekundungen gründlich und zunehmend satt. Deshalb erwarten wir heute, zusammen mit allen anderen Völkern, aktives Handeln und handfeste Taten.
Wenn ich von der Rückgabe jüdischen Eigentums rede, denke ich nicht nur an diejenigen, die überlebt haben. Die meisten, die bestohlen wurden, sind nicht mehr am Leben. Was wäre berechtigter als die Forderung, zumindest das jüdische Volk als rechtmäßigen Erben seiner ermordeten Kinder zu betrachten? Es wäre nach dieser ganzen Tragödie noch eine zusätzliche Verhöhnung, wenn nichtjüdische Personen, Gemeinschaften und Regierungen Besitztümer erbten, die, wenn schon nicht juristisch, so doch moralisch der jüdischen Gemeinschaft gehören und die für den Wiederaufbau jüdischen Lebens und jüdischer Zukunft nutzbar gemacht werden könnten.
Bei all diesen auf den ersten Blick nur mit materiellen Gütern einhergehenden Problemen geht es auch um ein wichtiges moralisches Prinzip. Dessen Lösung wird zur Nagelprobe für den guten Willen der Demokratien werden, für die Bereitschaft, etwas von dem zugelassenen Unrecht wiedergutzumachen und für einen Teil ihrer Verantwortung zu stehen.
Ein weiteres Problem besteht bei der Rehabilitierung der überlebenden Juden in Europa. Und mit aller mir zu Gebote stehenden Deutlichkeit und Entschiedenheit will ich an einem Prinzip festhalten, das sowohl für Juden als auch für Nichtjuden gilt. Die künftige Wiedergutmachung kann nicht ausschließlich und primär die Aufgabe von Juden sein. Jahrzehntelang haben wir eine Politik verfolgt, nach der Hilfe und Unterstützung notleidender Juden ausschließlich in die Verantwortung ihrer vom Schicksal begünstigten Glaubensbrüder fiel. Auch früher schon hatte ich meine Zweifel, ob eine solche Politik klug und zu rechtfertigen ist, aber jetzt, nach der Katastrophe, da alle überlebenden europäischen Juden auf das Niveau von Bettlern zurückgeworfen sind, wäre es ökonomisch unmöglich und moralisch unvertretbar, der jüdischen Gemeinschaft die Aufgabe ihrer ökonomischen und gesellschaftlichen Gesundung aufzubürden.
Auch für die anderen Völker Europas existiert eine solche Regelung nicht. Die UNRAA, die über Hunderte Millionen von Dollar verfügt, wäre nie gegründet worden, wäre nicht grundsätzlich anerkannt worden, dass die kriegszerstörten europäischen Länder nicht in der Lage sind, den Wiederaufbau aus eigenen Mitteln zu bestreiten. Warum also sollte man das von uns erwarten, die mehr gelitten haben und weniger besitzen als jedes andere europäische Land? Ich richte diese Bemerkung weniger an die UNRRA, die nach meiner Überzeugung die Juden nicht diskriminiert und bereit sein wird, alles in ihrer Macht stehende für uns zu tun. Diese Bemerkung richtet sich an jüdische Organisationen. Mir ist bekannt, dass es einflussreiche jüdische Organisationen gibt, die an ihren althergebrachten Grundsätzen festhalten und Angst haben, Regierungen und internationale Hilfsorganisationen um finanzielle Unterstützung für Juden anzugehen.
Wir hier, die solchen Erwägungen nicht folgen, müssen uns dagegen an die Völker der Welt wenden und ihnen in aller Offenheit sagen, dass wir mindestens im selben Maße internationale Hilfe beanspruchen können wie alle anderen europäischen Völker. Das bedeutet nicht, dass wir keinerlei eigenen Beitrag leisten wollen. Aber alleine können wir dieses Problem nicht bewältigen. Es ist so groß und komplex, dass es die Möglichkeiten privater jüdischer Hilfe übersteigt. Diese wird nur subsidiär sein können; das Gros muss von denselben Einrichtungen kommen, die auch für Europa und Asien nach dem Krieg zuständig sind.
Gestatten Sie mir ein Wort über eine weitere Forderung nichtökonomischer Natur, die dennoch von großer historischer Bedeutung ist und moralisch gesehen an die Wurzel des Problems geht: die Bestrafung derjenigen, die für die Verbrechen an den Juden verantwortlich sind und sie ausgeführt haben. Dabei geht es nicht um Rache. Wir wissen sehr wohl, dass Bestrafung keinen einzigen ermordeten Juden wieder lebendig macht und keine einzige jüdische Gemeinde wiederherstellt. Aber wenn die Menschheit in den letzten Jahren nicht gelernt hat, dass moralische Überlegungen für die menschliche Existenz entscheidend sind und ein Minimum an internationaler Gerechtigkeit für das Überleben der Gattung unabdingbar ist, dann werden die Leiden unserer Generation vergebens gewesen sein. Künftigen Generationen ein Exempel zu geben und die Welt zu lehren, dass Verbrechen, wie sie von den Nazis und ihren Verbündeten begangen wurden, nicht ungesühnt bleiben dürfen, ist eine notwendige Voraussetzung für die Wiederherstellung des moralischen Gleichgewichts in der Welt von morgen. Und wir sehen mit Freude, dass sich die Vereinten Nationen immer wieder zu diesem Prinzip bekannt haben und sich entschlossen zeigen, es durchzusetzen. Wenn dem überholte Vorstellungen und Begriffe des internationalen Rechts entgegenstehen, müssen diese eben geändert werden. Wenn bestehende Gesetze mit diesen moralischen Grundsätzen in Konflikt geraten, sollten es die Gesetze sein, die abgeschafft werden. Wie Sie aus den detaillierten Berichten erfahren werden, besteht die reale Gefahr, dass viele der schlimmsten, an Juden begangenen Verbrechen selbst dann straflos bleiben könnten, wenn das Prinzip, nach dem alle Kriegsverbrecher bestraft werden sollen, umgesetzt wird. Wir werden nicht ruhen, solange diese Gefahr besteht. Wir werden weiter insistieren und fordern, dass bei der Abrechnung mit den Nazi-Verbrechern der jüdische Aspekt nicht übersehen werden darf. Die Hauptaufgabe des Weltkongresses wird sein, diese Situation im Auge zu behalten und dafür zu sorgen, dass wir auch in dieser Hinsicht kein vergessenes Volk werden. Und wir hoffen auf die Unterstützung aller anständigen Menschen und führenden Politiker der Vereinten Nationen, selbst wenn das die Abschaffung einiger überholter Rechtsgrundsätze beinhaltet.
Diese Forderungen sind für uns ganz elementar. Sie bedeuten nichts weiter als die Anwendung des Gleichheitsprinzips auf das jüdische Volk. Aber nicht nur unsere Rechte müssen wiederhergestellt werden, sondern alle von den Nazis und den Faschisten abgeschafften Menschen- und Bürgerrechte. Nicht nur unser gesamtes Eigentum muss zurückgegeben werden, sondern auch alles Eigentum, das den Gegnern des Nazi-Regimes, den wahren europäischen Patrioten, weggenommen wurde. Die Wiedergutmachung an den Juden wird nur ein kleiner Teil dessen sein, was an den europäischen Völkern und an China wiedergutzumachen ist. Und die Bestrafung der Nazi-Verbrecher ist gewiss keine spezifisch jüdische Forderung. Was immer wir fordern, ist von dem Prinzip getragen: Was für andere Völker getan wird, sollte auch für uns getan werden. Wir wollen nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Doch selbst wenn all dies tatsächlich umgesetzt wird, ist das Problem noch nicht gelöst. Das letzte Jahrzehnt hat bewiesen, wenn das überhaupt noch nötig war, dass es für Juden selbst in einer Welt ohne den Nazismus keine Normalität gibt. Antisemitismus gab es schon vor den Nazis, und wir sind nicht so naiv zu glauben, dass die Niederlage Hitlers das Ende des Antisemitismus bedeutet. Hitler hat das jüdische Problem nicht hervorgebracht, sondern es nur auf heimtückische Weise missbraucht und ausgebeutet - er hat ihm auf eine Weise Ausdruck verliehen, wie es niemand vor ihm getan hat. Das Problem aber existierte schon vor Hitler, und es verweist auf die Notwendigkeit einer Heimstatt für ein heimatloses Volk. Hätte ein solches Land, das willens und bereit gewesen wäre, alle entkommenen Juden aufzunehmen, existiert, als Hitler an die Macht kam, dann wären Millionen von Juden, die auf den Feldern und in den Wäldern Polens und Russlands begraben liegen, heute noch am Leben. Müssen wir auf eine zweite Lektion dieser Art warten und noch einmal millionenfach mit jüdischem Leben bezahlen, bevor das Problem grundsätzlich gelöst wird? Wann, wenn nicht jetzt, wäre der Augenblick gekommen, der das jüdische Volk berechtigte, ein für alle Mal auf einer Lösung zu bestehen und Existenzbedingungen zu schaffen, die die Wiederholung einer derartigen Tragödie unmöglich machten? Kein Forderungskatalog wird historische Bedeutung erlangen, wenn er nicht mit der Forderung nach einem eigenen jüdischen Staat in Palästina verbunden wird. Die Wiederherstellung der Rechte von Juden, die Rückerstattung jüdischen Eigentums und die Teilhabe der Juden im Rahmen der UNRRA, all das ist notwendig und von grundlegender Wichtigkeit. Aber es wird das Problem nicht lösen. In Europa gibt es viele Juden, die man - selbst wenn all das hier Vorgetragene umgesetzt würde - in der völlig zerstörten Wirtschaft nicht mehr unterbringen kann. Das antisemitische Gift, das zehn Jahre lang von Nazi-Deutschland aus verbreitet wurde, wird noch viele Jahre in weiten Teilen Europas wirksam bleiben. Und haben die europäischen Juden nicht auch das Recht, nach allem, was sie erlitten haben, die Rückführung in ihre Herkunftsländer zu verweigern und empört jeden Vorschlag zurückzuweisen, der damit verbunden wäre, ein neues Leben dort zu beginnen, wo ihre Kinder vergiftet und ihre Eltern getötet wurden? Wer hat das Recht, Männer und Frauen zu zwingen, auf den Gräbern ihrer Verwandten und ihrer Familien ein neues Leben aufzubauen? Wir plädieren nicht für eine Zwangsevakuierung der europäischen Juden. Wer in Europa bleiben will, hat das Recht, zu bleiben und seinen früheren Status wiederzuerlangen. Aber viele werden das ablehnen, und das Mindeste, was man ihnen zugestehen muss, ist das Recht, neu zu beginnen in einem eigenen Land, in dem, ungeachtet des persönlichen Schicksals, nicht noch einmal eine solche Katastrophe stattfinden wird. Deshalb ist die Forderung, in Palästina eine jüdische Heimstätte zu etablieren, keine sogenannte zionistische Forderung mehr. Sie hat die Grenze des Parteien-Zionismus überwunden - die überwältigende Mehrheit der Juden in aller Welt fordert eine solche Lösung des jüdischen Problems; jede Reparation, die uns die demokratische Welt zugesteht, um aus der Tragödie des letzten Jahrzehnts erwachsende Verpflichtungen abzugelten, kann nur im Rahmen eines jüdischen Gemeinwesens erfolgen, indem uns das Recht eingeräumt wird, es zu errichten.
Die toten Juden können nicht mehr zum Leben erweckt werden; die zerstörten jüdischen Zentren in Europa nicht wieder aufgebaut werden; das Fundament, auf dem sich jüdisches Leben in Europa gründete, kann nicht wiederhergestellt werden - aber man kann uns eine Entschädigung gewähren: die Schaffung von Bedingungen, die es Juden erlauben, als normales Volk zu leben - die Gründung einer jüdischen Heimstätte im vollen Sinne des Wortes - ein Ort, wo jeder Jude, der aus Europa oder anderswo Weggehen will oder gezwungen ist zu gehen, Aufnahme und Zuflucht findet; in seiner eigenen Heimat.
Man kann dem Zionismus keine schwerere Beleidigung zufügen, als ihm zu unterstellen, er sei an jüdischem Leben in anderen Ländern nicht interessiert. Keine jüdische Gemeinschaft hat für die Rettung jüdischen Lebens in Europa mehr getan als die palästinensischen Juden, die - ganz unabhängig vom Zionismus - ein unbedingtes Interesse haben an starken jüdischen Gemeinden als natürliches Hinterland und als Potential für weitere Einwanderung.
Zweifellos standen überall auf der Welt nicht zufällig Zionisten an vorderster Front, wenn es darum ging, die jüdische Kultur neu zu beleben und die jüdischen Diaspora-Gemeinden zu organisieren. Was wir von den Galut-Juden fordern, ist die Anwendung elementarer Prinzipien und Regeln auf das jüdische Volk. In Bezug auf Palästina fordern wir die Lösung eines spezifischen jüdischen Problems, das seit Jahrhunderten virulent ist. Die Forderung nach einem jüdischen Staat schließt nicht aus, für die Juden anderswo Gleichberechtigung zu fordern. Doch die Forderung nach überall geltenden gleichen Rechten macht den jüdischen Anspruch auf Palästina nicht obsolet.
Mit diesem Programm ist eine letzte Forderung verbunden, die für die Erfüllung aller übrigen entscheidend ist: die Forderung nach Repräsentation der Juden in den Vertretungen der Weltgemeinschaft. Das jüdische Problem kann zukünftig nicht gelöst werden, wenn alle um den Verhandlungstisch sitzen und nur die Juden auf den Korridoren und in den Vorzimmern zu warten haben. Das wäre nicht nur moralisch unvertretbar, sondern auch im Hinblick auf die zu erörternden Probleme. Für unser Volk steht die Frage von Leben und Tod auf der Tagesordnung aller derzeit stattfindenden und zukünftigen internationalen Konferenzen. Sollen wir bei der Darlegung unserer Anliegen immer auf den guten Willen von Freunden angewiesen sein? Das ist keine Frage von Vertrauen oder Misstrauen - aber selbst unsere besten Freunde können sich in unsere Probleme nicht so gut hineindenken wie wir, und die Führungen anderer Völker sind mit ihren eigenen Problemen belastet. Ist es nicht berechtigt, wenn unsere Vertreter miteinbezogen werden oder, bis ein jüdischer Staat etabliert ist, gleichberechtigt am Verhandlungstisch sitzen, wenn es um unsere Probleme geht, damit sie unsere Wünsche formulieren und mit Rat aushelfen können? Die Tatsache, dass ein jüdischer Staat noch nicht existiert, ist kein plausibles Argument. Es gibt genügend Fälle, bei denen Repräsentanten nichtstaatlicher Organisationen, zumindest beratend, zugelassen worden sind. Die Tatsache, dass es sehr viele jüdische Organisationen mit unterschiedlichen Auffassungen gibt, ist ebenfalls kein ausreichender Grund, Juden von den Verhandlungen auszuschließen. Die Regierungschefs wissen sehr gut, wer die Mehrheit der Juden repräsentiert, und wenn nicht, gibt es einfache demokratische Mittel, den Mehrheitswillen und die Berechtigung seiner Vertreter zu ermitteln.
Man sollte von uns also nicht fordern, was von keinem anderen Volk gefordert wird -einer Meinung zu sein. Das mag ein willkommener Vorwand sein, uns die Selbstvertretung zu verweigern, ist aber keine Entschuldigung dafür, sie uns nicht zu gewähren. Einstimmigkeit existiert auch unter anderen Völkern nicht, wo das Mehrheitsvotum entscheidet und die Minderheit daran gebunden ist. Sollen wir, weil wir nicht die Möglichkeit haben, den Mehrheitswillen zu erzwingen, aus Diskussionen ausgeschlossen werden, die für unsere Zukunft entscheidend sind? Der erste Schritt in Richtung Gleichbehandlung sollte darin bestehen, uns anzuerkennen und uns die Repräsentation in all jenen Konferenzen und Institutionen einzuräumen, in denen es um unsere Zukunft geht. Wenn der Wille dazu da ist, wird man Regeln finden, um Delegierte zu benennen, die unser Volk repräsentieren.
Es wäre jedoch unzureichend, die Debatte über die heutige Situation der Juden nur auf äußere Aspekte zu beschränken, auf Forderungen, die wir gegenüber anderen Völkern erheben. Das Schicksal und die Bestimmung eines Volks werden nicht in erster Linie durch seine Außen-, sondern durch seine Innenpolitik bestimmt. Ein Volk ist außenpolitisch so mächtig, wie es innenpolitisch stark ist; und eine Analyse unserer heutigen Probleme wäre unvollständig, wenn sie nicht einige der wesentlichen Probleme unserer inneren Lage berücksichtigte, insbesondere nach einem Jahrzehnt Hitlerismus.
Als erste Konsequenz ist eine engere Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Teilen des jüdischen Volks notwendig. Der Jüdische Weltkongress war von jeher der Auffassung, dass das jüdische Problem ein internationales ist und nur auf internationaler Basis gelöst werden kann. Das bedeutet allerdings nicht, dass es innerhalb der jüdischen Gemeinden keine internen Probleme gibt, die ausschließlich von diesen selbst gelöst werden müssen. Wir haben nie die Autonomie angezweifelt, die die verschiedenen jüdischen Gemeinden bei der Lösung von derlei Problemen haben, gleichzeitig gehen wir jedoch davon aus, dass sich das jüdische Problem überall grundsätzlich in gleicher Weise stellt. Und wenn man davon ausgeht, dass sich heutzutage generell kein Volk isolieren sollte, so gilt dies insbesondere für die verschiedenen Gruppierungen des jüdischen Volks. Wenn die größten Nationen anerkennen, dass nur eine Welt existiert, und es für keine Nation Sicherheit geben kann, wenn sich nicht alle Völker frei und sicher fühlen können, wie kann dann irgendeine jüdische Gemeinde glauben, ihr Schicksal sei ein anderes als das Schicksal oder die Zukunft aller Juden? Jahrhundertelang waren wir immer ein Volk mit einem Schicksal. Sich um das Schicksal jedes Teils des jüdischen Volks zu kümmern ist nicht nur das sine qua non jüdischer Solidarität, es ist auch ein Akt des Selbstschutzes. Wenn den Juden in Rumänien Rechte genommen werden, schwächt das die Lage der Juden in Lateinamerika; wenn Juden in Polen abgeschlachtet werden, betrifft das die Sicherheit der Juden in den USA. Wir werden entweder überall frei und gleich sein, oder kein Teil unseres Volkes kann sich sicher fühlen. Wenn dieses grundlegende Prinzip, das die Basis des Zionismus darstellt und auf dessen Fundament der Jüdische Weltkongress gegründet wurde, gestern gegolten hat, dann gilt es heute noch zehn Mal mehr.
Wir sind heute ein zahlenmäßig viel kleineres und viel schwächeres Volk, und es ist nur natürlich, dass eine Familie, die viele ihrer Mitglieder verloren hat, enger zusammenrückt, um Unterstützung und Trost zu finden. Die Probleme, die ich erwähnt habe, können nur mittels Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen jüdischen Gemeinden gelöst werden. Keine jüdische Gemeinde wird sie allein bewältigen können. Die Gemeinden brauchen nicht nur die politische Kooperation mit anderen Teilen ihres Volkes, sie brauchen auch deren Erfahrung und Rat.
Wenn wir all diese Dinge ernsthaft anpacken wollen, werden wir die Arbeit des Jüdischen Weltkongresse s und dessen Aktivitäten erheblich ausweiten müssen. Jüdische Organisationen, die glauben, es reiche aus, Programme zu verfassen und Resolutionen zu verabschieden, täuschen sich gewaltig. Das beste Programm ist, sofern es lediglich formuliert und irgendeiner Regierung überreicht wird, das Papier nicht wert, auf dem es geschrieben steht. Wir leben in einer brutalen und illusionslosen Welt. Wir sind nicht die Einzigen, die Forderungen erheben - die Liste derer, die das ebenfalls tun, ist lang. Einen Wunsch in eine Resolution zu gießen bedeutet überhaupt nichts, selbst wenn man eine freundliche Empfangsbestätigung vom Außenministerium der USA oder Großbritanniens erhält. Unsere Probleme ernsthaft anzugehen erfordert unablässiges Handeln und einen Stab von Experten, die über Fähigkeiten und Erfahrung verfügen; man benötigt Büros in allen wichtigen Hauptstädten der Welt, tägliche Kommunikation, Erfahrungsaustausch und ständigen Kontakt mit internationalen Institutionen und Regierungen. Und all dies über viele weitere Jahre, denn nach diesem Krieg wird Frieden nicht auf nur wenige Monate dauernden Friedenskonferenzen zu erreichen sein. Die Probleme der Nachkriegswelt zu lösen wird Jahre dauern, es wird etappenweise und dezentralisiert vor sich gehen - das eine Problem heute und ein anderes morgen. Und wir werden uns mit all diesen Problemen befassen müssen - denn jedes berührt auch uns. Deshalb ist die Vorstellung einiger Organisationen, dass man nur eine jüdische Friedensdelegation zu einer neuen Versailler Konferenz schicken müsse und nach ein paar Monaten alles vorbei sei, wenig realistisch. Wir müssen uns auf jahrelange intensive Aktivitäten in aller Welt vorbereiten. Sich gegen solche Formen der Zusammenarbeit zu wehren mochte in der Vergangenheit, als Amerika und andere Staaten sich bewusst isolierten, noch an-gehen. Heute ist das hinfällig. Die Überreste des jüdischen Isolationismus, speziell in diesem Land, haben nichts mit Logik und Ideologie zu tun, sie rühren vielmehr von Ängsten und Minderwertigkeitskomplexen her; und gegen solche Motive ist auf der Verstandesebene nichts auszurichten.
Doch die Mehrheit der Juden ist zu einer solchen Kooperation ohnehin bereit, und ich beobachte hier mit großer Genugtuung die enge Zusammenarbeit zwischen dem Jüdischen Weltkongress und der American Jewish Conference sowie dem Board of Deputies in Großbritannien und die in vielen Bereichen unterhaltenen engen Beziehungen zwischen der Jewish Agency for Palestine und dem Jüdischen Weltkongress. In diesem Zusammenhang will ich einen weiteren Aspekt der internationalen jüdischen Zusammenarbeit erwähnen - die Dringlichkeit, zwischen den Juden der Welt und der jüdischen Gemeinschaft Sowjetrusslands wieder eine Verbindung herzustellen und zu stärken. Letztere ist die größte jüdische Gemeinschaft in Europa. Sie ist die einzige, die etwas von den Verlusten, die wir in den letzten Jahren erlitten haben, auszugleichen vermochte. Sie existiert in einem Land, das aus diesem Krieg als eine der großen Nationen hervorgehen wird. Deshalb wird sie auf die bedeutenden jüdischen Gemeinschaften in Europa einen ganz besonderen Einfluss ausüben. Die russisch-jüdische Gemeinschaft in den Orbit jüdischen Lebens zurückzuholen, ihr großes Potential und ihre Fähigkeit zum Aufbau einer neuen jüdischen Zukunft zu nutzen, ist eine der zentralen Aufgaben, die heute und morgen für uns anstehen. Das ist ein langsamer und schwieriger Prozess, aber je mehr internationale Verantwortung Russland übernimmt, umso eher werden die Mauern einstürzen, die die Sowjets vom Rest der Welt trennen, und umso größer wird die Chance sein, die russischen Juden wieder in das Leben des jüdischen Volkes zu integrieren. Wir hätten uns sehr gefreut, heute Repräsentanten der sowjetrussischen Juden bei uns zu haben. Die Tatsache, dass keine hier sind, sollte uns nicht die Hoffnung nehmen, dass sie bei der Lösung der großen anstehenden Probleme mit uns Zusammenarbeiten werden, wie es ihre Grußbotschaften auch andeuten.
Zum Schluss noch eine letzte Bemerkung, und ich will dabei sehr offen sprechen. Viele Juden stehen unter dem Einfluss einer gewissen, an sich gerechtfertigten und vernünftigen Idee, die aber, wenn sie zu viel Gewicht bekommt, zu einem großen Hindernis für unser weltweites Agieren werden kann: Ich meine die Vorstellung jüdischer Einheit.
Dass ein Maximum an Einigkeit erreicht werden sollte, ist wünschenswert. Und das ist bereits geschehen. Ich bin überzeugt, dass sich die überwältigende Mehrheit der Juden heute, zumindest was die wesentlichen Forderungen des jüdischen Volkes für die Nachkriegswelt betrifft, durchaus einig ist, das heißt sowohl hinsichtlich Palästinas als auch hinsichtlich der Probleme der Diaspora. Aber es gibt auch Juden, die nicht nur Einigkeit, sondern auch unbedingte Übereinstimmung wollen. Dies als Bedingung für unser gemeinsames Handeln zu betrachten läuft auf ein vollständiges Chaos hinaus, wie es etwa im alten polnischen Parlament herrschte, wo jeder Einstimmigkeit erfordernde Beschluss von einem einzigen Mitglied verhindert werden konnte. Auf Konsensentscheidungen zu bestehen heißt, jede unverantwortliche, undisziplinierte kleine Minderheit dafür zu belohnen, dass sie sich den Wünschen der Mehrheit nicht fügt. Wir haben weder die Zeit noch die Möglichkeit, Einstimmigkeit herzustellen. Es gibt gewisse Gruppen sogenannter jüdischer Führer, die sich niemals den Wünschen der Mehrheit beugen werden. Es ist an der Zeit, dass wir keine Rücksicht mehr auf sie nehmen und ihnen nicht allzu viel Beachtung schenken.
Wie ich bereits vorhin gesagt habe, gibt es kein Volk, das einhelliger Meinung ist. Aber andere Völker haben Regierungen und Parlamente, und wenn eine Mehrheit einmal entschieden hat, muss sich die Minderheit fügen - was keine Angelegenheit von Überredung ist, sondern eine der Gerichte und der Polizei. Und ohne eine jüdische Regierung kann es auch keine jüdische Einmütigkeit geben. Für gemeinsame Aktionen reicht es ohne weiteres aus, wenn eine breite Mehrheit Zustimmung signalisiert; Minderheiten, die sich dem verweigern, sollten ausgeschlossen werden. Für die Vertreter eines jüdischen Isolationismus ist es selbstverständlich, sich zu isolieren. Die Mehrheit sollte aber den Versuch aufgeben, sich an sturen, verstockten und unnachgiebigen Minderheitsfraktionen abzuarbeiten. Das bestärkt sie nur in der Überschätzung ihrer eigenen Bedeutung; und es geht zu viel Energie und Zeit verloren, sich um eine Einheit zu bemühen, die nie erreicht werden wird, statt diejenigen zu einigen, die man im Namen der überwältigenden Mehrheit, die wir repräsentieren, ohne weiteres gewinnen kann.
Wir sind in einem sehr entscheidenden Augenblick der jüdischen Geschichte zusammengekommen. Es war nicht leicht, unter Kriegsbedingungen eine solche Konferenz einzuberufen, und sie muss - trotz der großen organisatorischen Unterstützung, die uns von den amerikanischen Behörden so großzügig gewährt wurde - unvollständig und unvollkommen bleiben. Einige jüdische Gemeinden können nicht vertreten sein, und unter diesem Aspekt wäre es möglicherweise klüger gewesen, diese Konferenz bis nach dem Krieg zu verschieben. Wir haben das nicht getan, weil wir das Gefühl hatten, dass fundamentale Probleme gelöst und überlebenswichtige Forderungen formuliert werden müssen und dass wir schon zu lange gewartet haben. Mit Nachkriegsproblemen beschäftigt man sich bereits seit über einem Jahr. Die Vorbereitungen für die Friedenszeit sind angelaufen, und nichts wäre schlimmer, als wenn wir uns mit unserem Problem erst befassen würden, wenn es zu spät ist. Deshalb muss diese Konferenz, auch wenn sie formell nicht alle jüdischen Gemeinden repräsentiert, die Verantwortung übernehmen und sich zu verschiedenen Problemen, die unsere Zukunft als Volk bestimmen werden, positionieren wollen.
Seit vielen Jahrhunderten sind keiner jüdischen Generation so viele Verpflichtungen auferlegt worden wie der unseren. Wir waren Zeugen der größten Tragödie der Geschichte, und wir waren unfähig, sie zu verhindern. Die größte Gefahr bestünde für uns darin, darüber in Verzweiflung zu verfallen, und dieser Tage können Juden tatsächlich leicht verzweifeln. Um die Hoffnung nicht zu verlieren, müssen wir zu den Quellen des jüdischen Glaubens zurückkehren. Nachdem im zwanzigsten Jahrhundert vier oder fünf Millionen Juden abgeschlachtet worden sind, könnte man als Jude heutzutage leicht zynisch werden und den Glauben an alle moralischen Werte verlieren. Wenn Hitler die überlebenden Juden dazu brächte, ihren Glauben an die Menschlichkeit und die Zukunft ihres Volkes zu verlieren und unseren Kampf ums Überleben teilnahmslos zu verfolgen, hätte er am Ende doch noch gesiegt.
Ich gehöre nicht zu denen, die versuchen, sich die Wirklichkeit schönzureden oder die Schwierigkeiten herunterzuspielen, die uns nach allem, was uns widerfahren ist, bei der Sicherung unserer Zukunft begegnen werden. Aber ich glaube aufrichtig, dass, wenn wir als die Überreste Israels unseren Glauben und unseren Mut nicht verlieren, unsere Zukunft trotz allem nicht ernsthaft bedroht ist. Es gehört zu den großen Wundern jüdischer Selbstbehauptung und jenes tiefen jüdischen Instinkts, der das Überleben unserer Rasse erklärt, dass wir nur eine oder zwei Generationen vor der Hitler-Katastrophe begonnen haben, das Fundament für ein jüdisches Palästina zu legen. Niemand von uns hat Hitler vorausgesehen, und niemand hätte in unserem Zeitalter diese Art von Nazismus für möglich gehalten. Aber irgendwie hat unser Volk gespürt, dass es neue Grundla-aen für seine Zukunft suchen muss. Und so wie wir vor Jahrhunderten, als wir endgültig aus Palästina vertrieben wurden, rechtzeitig große jüdische Zentren in der Diaspora aufgebaut haben, so haben wir jetzt den Prozess umgekehrt und begonnen, eine Heimstatt aufzubauen, bevor diese größte aller Katastrophen unserer Geschichte über uns gekommen ist.
Ohne ein jüdisches Palästina wäre unsere Zukunft als Volk in der Tat mehr als bedroht. Mit ihm, und ich spreche noch unter dem frischen Eindruck des Augenzeugen, der gerade dort war, brauchen wir uns nicht zu fürchten. Aus dem großen Kampf zwischen dem Nazismus und unserem Volk werden wir am Ende als Sieger hervorgehen, auch wenn wir diesen Sieg vielleicht mit einem Viertel oder einem Drittel unseres Volks bezahlen müssen. Aber die letzte Entscheidung über unsere Zukunft liegt bei uns und nicht bei den demokratischen Staaten oder deren großen Führern, die ich als unsere tatsächlichen Freunde ansehe.
Der Überlebenswille der Reste unseres Volkes triumphiert über die Vernichtung von Millionen unserer Brüder. Aber unsere Verluste müssen wir durch noch größere Hingabe aufwiegen und durch die Übernahme noch schwererer Verpflichtungen. Die jüdischen Gemeinden in der westlichen Hemisphäre, die in unserer Geschichte immer in der zweiten Reihe gestanden haben und nur die Rolle von Reservearmeen spielten, werden nun an die vorderste Front vorrücken müssen. Die Zukunft unseres Volks wird weitgehend von der engen Zusammenarbeit der jüdischen Gemeinschaften der westlichen Welt abhängen.
Unsere Generation trägt die Last einer gewaltigen Verantwortung. Es wird an uns liegen, ob in den nächsten Jahren die Fundamente für eine neue und größere jüdische Zukunft gelegt werden oder ob die Tragödie der europäischen Juden den Beginn einer Epoche der Auflösung und Desintegration des jüdischen Volkes markieren wird. Beides sind reale Möglichkeiten. Die Entscheidung darüber, welche der beiden verwirklicht wird, liegt in unseren Händen. Wir sind vielleicht die tragischste Generation in der jüdischen Geschichte - eine Generation, deren eine Hälfte dazu verdammt war zuzusehen, wie die andere Hälfte vernichtet wurde, ohne helfen zu können. Aber die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Diese tragischste aller Generationen könnte noch zu einer werden, die am Ende am reichsten gesegnet ist. Vorausgesetzt, sie nimmt die Aufgabe an, die ihr von der jüdischen Geschichte auferlegt wurde, und wird ihrer Verantwortung gerecht, auf einem Weg voranzugehen, der von der tragischen Vergangenheit durch die ungewisse Gegenwart in eine neue Zukunft führt.