Bitte um Hilfe für Eltern
Ursula Lewin fleht am 7. März 1944 in einem Brief aus dem Sammellager Schulstraße in Berlin zwei Mitarbeiter des Auswärtigen Amts an, sich für sie und ihre Eltern einzusetzen:
Hochverehrter Herr Geheimrat Melchers,
beifolgender Brief, den ich unter größten Schwierigkeiten aus dem Gefängnis herausschicke, ist für Herrn Geheimrat Ripken ebenso wie für Sie bestimmt. Ich adressiere an Sie beide, falls einer von Ihnen zufällig abwesend sein sollte, damit keine kostbare Zeit -und bei uns geht es jetzt um Stunden! - verloren geht. Auch Ihnen sage ich herzlichen Dank für alles mir früher bewiesene Wohlwollen und alle Hilfe, die Sie uns, so Gott will, jetzt zuteil werden lassen. Größte Eile ist notwendig. Ich erfahre eben positiv, daß der Transport in der Nacht von Donnerstag auf Freitag geht. Ihre
Ursula Lewin
7.III.1943
Hochverehrter Herr Geheimrat Ripken,
nach den Vorbereitungen, die hier im Lager, unserer Leidensstätte, getroffen werden, ist anzunehmen, daß spätestens Donnerstag dieser Woche der Transport abgeht. Unsere Verzweiflung kann ich Ihnen überhaupt nicht beschreiben. Meine Eltern sind beide schwer krank (Vati Angina pectoris, fortgesetzt Gefäßkrämpfe und Herzanfälle, Mutti chronische Gallenblasen-Entzündung). Ich selbst habe seit gestern hohes Fieber (gestern abend hatte ich 39,2°); was mir fehlt, weiß ich nicht. Ich wage auch nicht, es dem Lager-Arzt zu sagen, weil ich dann befürchten muß, von meinen Eltern getrennt zu werden. Es ist grauenhaft. Wir schlafen zu 22 Personen (Männer und Frauen) in einem Raum auf ein paar auf den Fußboden gelegten Matratzen. Das Essen besteht aus Margarine- oder günstigstenfalls Marmeladen-Broten und mittags einer wässrigen, meistens Kohlsuppe. Ich habe meine Chefs so sehr gebeten, uns regelmäßig etwas zu essen zu schicken, was erlaubt ist, aber nichts ist erfolgt. Meine Eltern und ich sind völlig entkräftet und am Zusammenbrechen. Aber darauf wird ja keinerlei Rücksicht genommen; man hat ja sogar Schwerkranke auf Bahren abtransportiert. Was man hier für Elend bei völlig unschuldigen Menschen sieht, geht über das Maß dessen, was man physisch und psychisch ertragen kann!
Zu unserem persönlichen „Fall“ bitte ich Sie von ganzem Herzen um Ihre Hilfe. Es besteht eine Verfügung vom Reichssicherheits-Hauptamt vom Juli 1943, die folgendes besagt: In Anerkennung unserer uns dem Deutschen Reich gegenüber erworbenen großen persönlichen Verdienste, die Ihnen, verehrter Herr Geheimrat, ja auch bekannt sind, wird anheimgegeben, wie dies auch für die andere Sekretärin der türkischen Botschaft und ihren Ehemann (Naphtali) der Fall war, daß uns seitens der türkischen Regierung türkische Pässe erteilt werden. Für diesen Fall wurde uns vom Reichssicherheits-Hauptamt die Erteilung der deutschen Ausreise-Sichtvermerke garantiert. Bis zum Eintreffen des durch die Botschaft bei der türkischen Regierung beantragten Bescheides wegen der Pässe würden keinerlei Evakuierungs- oder sonstige Maßnahmen gegen uns ergriffen werden. Erst im Falle einer negativen Entscheidung käme eine Abwanderung nach Theresienstadt in Frage.
Diese Verfügung habe ich mit meinen eigenen Augen gelesen. Das Unglück ist jedoch, daß der Lagerleiter unseres Sammellagers, Hauptscharführer Dobberke, diese Verfügung nicht kennt (oder kennen will) und auch gar kein Interesse daran hat, sie durch mich kennenzulernen. Ich habe versucht, bis zur endgültigen Klärung der Angelegenheit wenigstens eine Zurückstellung von dem Donnerstag abgehenden Transport zu erwirken. Wir sind ja sowieso in der Gewalt dieser Leute, und es kann ihnen ja eigentlich ganz gleichgültig sein, ob wir jetzt oder etwas später abtransportiert werden. Da man uns aber nicht die Chance lassen will, ganz freizukommen, hat man meine Bitte rundweg abgelehnt. Ich möchte Sie nun sehr herzlich um folgendes bitten: Wir müssen unbedingt Zeit gewinnen, und es muß verhindert werden, daß wir mit diesem Transport mitmüssen. Ich habe auch Herrn Koc und Herrn Seyda geschrieben, weiß aber nicht, ob diese [...] genug sein werden und gut genug alle Wege kennen, die sie einzuschlagen haben. Mit Notenwechsel ist uns jetzt nicht geholfen, wo es buchstäblich um Stunden geht! Bitte haben Sie die große Liebenswürdigkeit, in Gemeinschaft mit Herrn Geheimrat Melchers alles nur Erdenkliche für uns zu tun. Ich appelliere an Sie als Mensch und Ehrenmann, es handelt sich um die Rettung von drei Menschenleben! Der Fall meiner Kollegin Frau Hammerschmidt, die sich schwer strafbar gemacht hat, ist aussichtslos, Ich bin deshalb besonders verzweifelt, weil ich mit diesem Fall überhaupt nichts zu schaffen habe. Mit hineingeraten bin ich nur, weil sie abgeholt werden sollte (ihre Familie war flüchtig) und sich nicht allein zum Polizeipräsidium zur Vernehmung traute. Ich hatte sie auf ihre Bitte, weil sie sich keinen Rat mehr wußte, bei dem Beamten angemeldet, der im März 1943 unseren Fall bearbeitet hatte und durch den sie aus dem Zug, in dem sie zum Abtransport mit ihrer Familie bereits saß, wieder herausgeholt wurde. Auf ihre Bitte begleitete ich Frau Hammerschmidt am 25.2.44 zum Präsidium, ohne daß ich hierzu verpflichtet gewesen wäre. Der vernehmende Beamte, der ohne mein Beisein Frau Hammerschmidt vernommen hatte und weiß und mir bestätigte, daß ich mit der Sache nicht das geringste zu tun habe, erhielt von seinem Amt telefonisch die Anweisung, Frau H. dazubehalten. Gleichzeitig wurde vom Amt angefragt, ob jemand von der Familie Frau H. begleitet hätte. Dies verneinte der Beamte; nur ihre Kollegin wäre mitgekommen. Darauf wurde vom Amt bestimmt, dann sollte eben die Kollegin auch gleich dabehalten werden. Der Beamte garantierte mir, es handele sich lediglich um eine Formsache, man wolle mich nur als Zeugin zur Sache vernehmen (über den fraglichen Sachverhalt selbst informieren Sie sich bitte bei Herrn Ko<j und Herrn Seyda anhand meines ausführlichen, hierüber angefertigten Exposes). Spätestens Mittag würde ich wieder frei sein. - Tatsächlich verlief die Entwicklung der Dinge so, daß man mich nicht wieder freigelassen und meine armen Eltern noch dazu in dieses Haus des Leids und Elends geholt hat.
Was meine Chefs zu unserer Lebensrettung jetzt tun müssen, ist folgendes: Über kurz oder lang ist sowieso mit dem Eintreffen der Genehmigung aus Ankara zu rechnen, daß uns türkische Pässe ausgestellt werden dürfen. Man möge uns inzwischen, da die Zeit so drängt, bereits sofort pro forma türkische Pässe ausstellen, durch welche wir nicht nur türkische Staatsangehörige würden, sondern, da ich ja Angestellte der Botschaft bin, Mitglieder des diplomatischen Corps und damit exterritorial. Hochverehrter Herr Geheimrat, ich bitte Sie dringend, ganz scharfes Geschütz aufzufahren. Ich weiß ja, daß Sie wie auch Geheimrat Melchers sich die Pflege der deutsch-tfürkischen] Beziehungen, insbesondere auch die Handelsbeziehungen, immer ganz besonders haben angelegen sein lassen. Ich könnte mir vorstellen, daß Sie hiermit - Sie verstehen schon, wie ich das meine - einen ganz starken Trumpf in der Hand haben. Nur bitte ich Sie nochmals, ganz, ganz schnell zu handeln, sonst ist es für immer zu spät! - Heute ist unsere Wohnung versiegelt worden. Gestern waren wir in Polizeibegleitung noch einmal dort, um einige notwendige Sachen zu holen, von denen wir aber sowieso nur einen Bruchteil mitnehmen durften. Es ist auch bereits tüchtig gestohlen worden; man kann sich ja nicht wehren, und die Gelegenheiten sind so günstig. Verzeihen Sie bitte, daß ich mit so schlechter Schrift und mit Bleistift schreibe; aber meinen Füllhalter habe ich nicht mehr, und außerdem schreibe ich in unmöglicher Stellung auf meiner Matratze hockend, noch dazu mit hohem Fieber. -
Wenn nichts mehr zu helfen sein sollte, worauf wir noch immer hoffen, habe ich Herrn Koc gebeten - und ich bitte Sie dringendst, diesen Wunsch zu unterstützen, uns als letzten Liebesdienst ein für uns drei ausreichendes Quantum Veronal zu beschaffen. Wir benötigen, um völlig sicher zu gehen, 3 x 25 = 75 Tabletten. Die müßte ich unbedingt haben, und er soll uns diese letzte Gnade bitte nicht versagen. Er soll sein Gewissen damit nicht belasten, sondern im Gegenteil dann, wenn er uns diesen Wunsch nicht erfüllt! Nur rechtzeitig bitte. - Nochmals bitte ich Sie und Herrn Geheimrat Melchers um schnelle und wirksame Hilfe und danke Ihnen innig für alles, auch namens meiner Eltern!
Ihre verzweifelte