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Chronik und Quellen
1944
März 1944

Bitte um Hilfe bei Freilassung

Landgerichtsrat Alfred Wertheim bittet seine Ehefrau in einem Brief vom 7. März 1944 aus dem Gerichtsgefängnis Bremen, sich in Berlin für seine Freilassung einzusetzen:

Meine geliebte Lotte! Dies ist das erste Lebenszeichen, das Du seit unserer am 22. Jan. 44 in Wilhelmshaven erfolgten Trennung von mir erhältst. Inzwischen erhielt ich Deinen lieben Brief v. 25. Jan. am 28. Jan. u. Deinen lieben Brief v. 6. Febr. am 10. Febr., letzteren gerade noch rechtzeitig, nämlich 1 Stunde vor meiner Abreise nach Bremen. Ich will hierbei gleich bemerken, daß ich außer diesen beiden Lebenszeichen u. Deinem Liebes-Koffer-Gruß nach Bremen nichts weiter von Dir bis heute gehört habe.

Also Du, Gute, warst am 23. Febr. in der Stadt meines jetzigen unfreiwilligen Aufenthaltes, um mich zu besuchen u. mußtest die schmerzliche Enttäuschung erfahren, daß das aus Gründen, die ich glaube, Dir nicht mitteilen zu dürfen, nicht möglich sei. Am 24. Febr. wurde ich zum Büro gerufen u. davon unterrichtet, daß Du tags zuvor dagewesen seist, um mich zu besuchen, u. daß Du 1 Koffer für mich abgegeben hättest. Wie danke ich Dir, meine Lotte, daß Du so wunderbar für mich sorgst. Ich wurde gleich gefragt, was ich von dem Inhalt gebrauchte u. habe mir erst mal 1 Hemdhose, 1 Unterhemd u. 1 Unterhose zum Wechseln geben lassen. Außerdem wurden mir die beiden Tüten mit dem süßen Inhalt u. der Apfel ausgehändigt. Herrlich hat alles geschmeckt. Der Kandis war mir bei meinem Husten besonders wertvoll! Du darfst mir einmal wieder solche Süßigkeiten bringen! Bringen, nicht schicken! Selbst auf die Gefahr hin, daß Du mich nicht sprechen kannst. Denn das Gefühl, Dich, Geliebte, wieder einmal ganz in meiner Nähe gewußt zu haben, möchte ich um keinen Preis missen! Bringen ist auch um deswegen besser als Schicken, als Du gegebenenfalls aus dem Paket dasjenige herausnehmen kannst, was ich nicht empfangen darf. Vielleicht backst Du mir mal 1 schönen [...] u. hast etwas Kunsthonig u. 1 Glas Marmelade übrig. Kandis nicht vergessen! Ferner benötige ich je 1 Kragenknopf für vorn und hinten, 2 Manschettenknöpfe, 1 Schlips, 1 Kragenschoner, 1 großes Stück Seife (davon mangelt es sehr) u. 1 großes Brillenetui (Du mußt sagen, daß es sich dabei um eine Starbrille, also um eine besonders große Brille handelt). Ferner bitte ich Dich, bei der hiesigen Kasse für mich 20 Mark einzuzahlen (bei Deinem Besuch in Bremen oder das Geld per Postanweisung schicken!). Ich habe soviel nötig für folgende Zwecke: Reparaturen an meinen beiden Brillen, an meinen Schuhen, Waschen meines Unterzeugs u. endlich möchte ich mich gern impfen lassen, übrigens brauche ich auch davon für Porto.

Am 13. März ist die Sperre beendet. Du kannst mich also dann besuchen. (Lies den Anhängezettel genau durch!) Warte mit Deinem Besuch nicht über den 13.3. hinaus! Denn ich weiß nicht, ob ich nicht kurz danach woandershin (ins Lager?) komme, und dann kriegen wir uns überhaupt nicht zu sehen! Du ruhst u. rastest doch nicht eher, bis Du mich gefunden hast! Wie hast Du das bloß angefangen? Einen Menschen auf dieser trostlosen Welt zu wissen, der einen liebt, ist ein wunderbares Gefühl! Das hält mich! Daran richte ich mich auf, wenn die Depressionen kommen. Gut, daß ich das als früherer Strafrichter einmal selbst kennenlerne! Deine Liebe ist wirklich ganz groß, meine Lotte! Das hast Du bewiesen! Dieses Herz voll überströmender Sehnsucht nach Zärtlichkeit! Welcher Reichtum wohnt in deinem Gemüt! Welch tapfere Gläubigkeit kennzeichnet Deinen Weg! Welche Güte und Klugheit des Herzens hieltest Du stets für mich bereit! Und wie selbstsüchtig bin ich dagegen stets gewesen! Wie viele Fehler habe ich gemacht! Im mitleidslosen, unbeugsamen Muß des Leidens geht man entweder zu Grunde oder man wächst und wird sehend und stößt zu Gedankentiefen vor, die dem Durchschnitt der Menschen für immer verschlossen bleiben. Das sind meine Erfahrungen. - Wie geht es Dir, meine Lotte? Bist du inzwischen gründlich untersucht? Was hat Dr. Werth festgestellt? Wie leid hat es mir getan, daß Grete so krank war! Wie geht es ihr? Ich wünsche ihr von ganzem Herzen gute Besserung u. eine gründliche Erholung! Und wie geht es Emmy? Hoffentlich hat sie meine große Nervosität vom vorigen Sommer inzwischen ganz vergessen. Ich möchte beide gern mal wieder sehen! Existiert Potgieterlaan 5 noch? Hast du irgendwelche Verbindungen? Mit wem? Du schreibst u. a. wörtlich: „Sei tapfer, mein lieber, lieber Junge, und hoffe, daß wir bald wieder vereint sind.“ Hast Du Anhaltspunkte dafür (was für welche?), oder hat man Dir in Berlin gar Hoffnungen gemacht?

Es empfiehlt sich dringend, nach etwa 3 Monaten - also so gegen Anfang Mai - nochmal in Berlin persönlich vorstellig zu werden, falls inzwischen keine Entscheidung ergangen sein sollte. Wirst Du das wohl für mich tun? Was für Anträge hast Du gestellt? Hast du das Gesuch per Einschr[eiben] abgesandt? Ist auch das Gesuch an den Herrn Reichs-xnarschall Göring abgegangen? Weißt Du das bestimmt? Ich bin ja nicht gerade eingebildet, habe aber doch eine gewisse Genugtuung darüber, daß ich die besten Kräfte meines Lebens im Staatsdienst verbrauchen durfte u. daß ich als Landgerichtsrat in Aurich über meine Unparteilichkeit in meiner Rechtsprechung die ungeteilte Anerkennung, auch von nationalsozialistischer Seite, ausgesprochen erhalten habe. Schade, daß ich sie nicht schriftlich von der Partei besitze, doch das Zeugnis von Landgerichtsrat Henrychowski über das von mir schon Jahre vor der Machtübernahme gezeigte Interesse und Verständnis für den Nationalsozialismus und daß ich das auch in meiner Rechtsprechung zum Ausdruck gebracht habe, dürfte an sich schon genügen. Notfalls kannst Du ja noch Justizoberwachtmeister Gieseler, der später Vertrauensmann der Gestapo Wilhelmshaven geworden sein soll, die Justizwachtmeister Mennenga und Flietner, den Kanzleisekretär Höger, den Justizangestellten Wübbel, den Landgerichtsrat Abramowski, den Staatsanwaltschaffsrat Kliesch, alles alte Pg., ferner den Gerichtsberichterstatter Kranz als Zeugen für meine damalige politische Gesinnung benennen, falls das nicht in Deinen beiden Gesuchen bereits geschehen ist.

Die Genannten kennen auch die über mich gefallene Äußerung: „Schade, daß der Mann Jude ist“, womit offenbar zum Ausdruck gebracht werden sollte, daß man die im Prinzip damit verbundene Rassebedingtheit des Denkens, Fühlens und Wollens bei mir nicht wahrgenommen hat, sondern nur meine Geburt es ist, die mir im Wege steht, Richter zu bleiben, falls die Partei einmal an die Macht kommen sollte. Man wird hieran ebensowenig Vorbeigehen können wie an der Tatsache, dass sich meine damalige Einstellung zum Nationalsozialismus schon in der ganzen Handhabung des Sitzungsdienstes äußerte. Nie habe ich den Hitlergruß als „Ungebühr“ vor Gericht betrachtet, sondern ihn stets zugelassen (auch das wissen alle die genannten Zeugen). Man wird es mir daher glauben müssen, wenn ich erkläre, daß damals der Drang in mir zur Teilnahme an dieser zündenden, alle nationalen Kräfte in sich einigenden nationalsozialistischen Bewegung, die das deutsche Volk aus seiner Lethargie wachgerüttelt und es aus der dumpfen Enge der zum Verfall führenden Reaktion hinausgeführt hat, groß war. Und man wird mir ferner glauben müssen, wenn ich weiter erkläre, daß ich darauf brenne, nach Wiedererlangung meiner Freiheit, die ich von Berlin bald u. bestimmt erhoffe, in den totalen Arbeitseinsatz mit eingeschaltet zu werden, um das befriedigende Bewußtsein der aktiven Teilnahme zu besitzen, wenn der Sieg des deutschen Volkes in seinem heutigen Kampf gegen den Bolschewismus und gegen den ewigen Würger England, mit einem der unversöhnlichsten Feinde aller Völker endlich errungen ist. Das sind die Gedanken, die mich nach sechsmonatiger Haft zutiefst in meiner Zelle bewegen. Bring das bitte alles noch zur Kenntnis der Berliner Stellen.

Nun höre, meine Lotte!

Ich habe Dir noch was Besonderes zu sagen:

Du wirst dieses Jahr 64 Jahre alt und ich 55. Im Juli sind wir 23 Jahre verheiratet. Wir sind eigentlich also alte Leute. Und doch sage ich jetzt noch zu Dir wie damals, als ich als junger Referendar Dich in den Rosengarten meines Herzens führte:

Kleine, liebe Lotte, ich liebe Dich, ja ich liebe Dich.

Stets
Dein

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