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Chronik und Quellen
1943
Dezember 1943

Protest gegen Ausweitung der Judenverfolgung

Landesbischof Theophil Wurm protestiert am 20. Dezember 1943 beim Chef der Reichskanzlei gegen die Ausweitung der Judenverfolgung auf „Mischehen“ und „Mischlinge“:

Sehr verehrter Herr Reichsminister!

Auf Grund von Mitteilungen, die mir von glaubwürdiger Seite zugegangen sind, muß ich annehmen, daß neuerdings die Mischlinge ersten Grades besonders bedroht sind und daß die Absicht besteht, sie den Nichtariern gleichzustellen. Da die große Mehrheit von ihnen einer der christlichen Kirchen angehört, besteht für die Kirchen Anlaß und Verpflichtung, Fürsprache für sie einzulegen.

Nach Erlaß der Nürnberger Gesetze hat der Führer erklärt, der Begriff „Jude“ sei nun endgültig festgelegt. Man durfte deshalb annehmen, daß die Mischlinge und die mit Juden verheirateten Arier von den Maßnahmen, die gegen die Juden ergriffen werden, verschont bleiben. Dies war auch bis zum Jahr 1939 der Fall. Als der staatlich anerkannte Verband der Mischlinge in diesem Jahr aufgelöst wurde, wurde amtlich erklärt, daß dieser Verband überflüssig sei, weil die Mischlinge die Voraussetzungen des vorläufigen Reichsbürgerrechts erfüllen, Mitglieder der NSV und der DAF sein können und wehrpflichtig seien.

Im Lauf des Krieges sind aber Maßnahmen ergriffen worden, die sie wesentlicher Rechte beraubten. Sie wurden aus der Wehrmacht entlassen; ihren Kindern wurde der Besuch der höheren Schulen unmöglich gemacht; im Fall eines Erbgangs wurden sie des vom jüdischen Elternteil kommenden Erbes für verlustig erklärt.

Neuerdings sind noch weitere Schritte in dieser Richtung erfolgt. Es ist Anweisung gegeben worden, die Mischlinge und die mit jüdischen Frauen verheirateten Arier in Arbeitstrupps zusammenzustellen, die eine besondere Uniform zu tragen haben. Selbstverständlich ist keine Einwendung dagegen zu erheben, daß, nachdem ihnen die Wehrfähigkeit abgesprochen worden ist, sie zu besonderen Dienstleistungen im Kriege herangezogen werden. Aber daß sie nicht in die Organisation Todt eingereiht werden, zeigt, daß die Absicht besteht, den Prozeß der Absonderung dieser Personen vom Volksganzen weiterzutreiben. In dieselbe Richtung weist die Tatsache, dass neuerdings Bombengeschädigte nach der Rassezugehörigkeit gefragt werden. Niemand, der die Entwicklung der Rassenpolitik in den letzten Jahren aufmerksam verfolgt hat, kann darüber im unklaren sein, dass diesen Mischlingen dasselbe Schicksal droht, das die Volljuden getroffen hat, die Ausmerzung.

Nicht aus irgendwelchen philosemitischen Neigungen, sondern lediglich aus religiösem und ethischem Empfinden heraus muß ich in Übereinstimmung mit dem Urteil aller positiv christlichen Volkskreise in Deutschland erklären, daß wir Christen diese Vernichtungspolitik gegen das Judentum als ein schweres und für das deutsche Volk verhängnisvolles Unrecht empfinden. Das Töten ohne Kriegsnotwendigkeit und ohne Urteilsspruch widerspricht auch dann dem Gebot Gottes, wenn es von der Obrigkeit angeordnet wird, und wie jedes bewußte Übertreten von Gottes Geboten rächt sich auch dieses früher oder später. Unser Volk empfindet vielfach die Leiden, die es durch die feindlichen Fliegerangriffe ertragen muß, als Vergeltung für das, was den Juden angetan worden ist. Das Brennen der Häuser und Kirchen, das Splittern und Krachen in den Bombennächten, die Flucht aus den zerstörten Häusern mit wenigen Habseligkeiten, die Ratlosigkeit im Suchen eines Zufluchtsortes erinnert die Bevölkerung aufs peinlichste an das, was bei früheren Anlässen die Juden erdulden mußten. Es liegt ja auch klar am Tage, daß alle die früheren Maßnahmen gegen die Nichtarier auf die Kriegspolitik der Feinde einen außerordentlich starken Einfluß ausgeübt haben und noch ausüben. Wer es mit dem deutschen Volke gut meint, kann nur dringend bitten, daß an den Mischlingen und den mit Jüdinnen verheirateten Ariern nicht noch weiteres Unrecht verübt wird. Liegt es im göttlichen Ratschluß, das deutsche Volk aus den heutigen furchtbaren Prüfungen wieder in ein glückliches und gesichertes Dasein zu führen, so wird dies geschehen, auch ohne daß wir Volksgenossen dafür bestrafen, daß sie nicht rein arischer Abstammung sind; und wenn wir einer großen Tragödie entgegensehen sollten, so wird sie durch Entrechtung einer weiteren Anzahl von Volksgenossen auch nicht aufgehalten werden. Jeder christlich gesinnte Deutsche fleht täglich Gott an, er möge dem grausamen Wüten des Krieges ein Ende machen und einem durch Prüfungen schwerster Art innerlich erneuerten Volk wieder ein friedliches Schaffen gewähren; diese Bitte ist aber immer von den tiefen Anliegen geleitet, er möge unserer Führung die Kraft und Weisheit schenken, sich von irrtümlichen Voraussetzungen frei zu machen und dem Rechtsgedanken im staatlichen und völkischen Leben wieder zu der Geltung zu verhelfen, die er nach den besten Überlieferungen der deutschen Geistesgeschichte beanspruchen darf. Indem ich Sie bitte, sehr verehrter Herr Reichsminister, diese Anliegen des christlichen Volksteils an höchster Stelle zu Gehör zu bringen, verbleibe ich Ihr ergebener

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