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Chronik und Quellen
1943
November 1943

Fassungslosigkeit über Judenmord

Odd Nansen schildert am 29. November 1943 in seinem Tagebuch seine Fassungslosigkeit angesichts der Ermordung der Juden in den Lagern und beschreibt die Fälscherwerkstatt in Sachsenhausen:

War gestern bei den Juden - und dieses Mal hatten wir etwas mehr Ruhe, um uns die unglaublichen furchtbaren Erzählungen aus Lublin, Auschwitz, Warschau und anderen Orten und Lagern anzuhören. Im Vergleich zu dem schrecklichen Drama, das dort stattfindet, sind alle anderen Ängste, Grausamkeiten und Massaker, die es in der menschlichen Geschichte gegeben hat, gleichsam bedeutungslos. Es ist unmöglich – komplett unmöglich sich eine Vorstellung davon zu machen, was sich dort an teuflischer Boshaftigkeit entfaltet und abspielt; das menschliche Vorstellungsvermögen reicht dafür nicht mehr aus.

Man kann den Erzählungen bis zu einer gewissen Grenze „folgen“, Tausende von Juden vor sich sehen, junge und alte, die auf die Todestransporte geschickt werden, kann sie in endlosen Reihen Tag und Nacht marschieren sehen, Woche für Woche, Monat für Monat, ja, Jahr für Jahr, bis hinein in die Vernichtung. In die Gaskammern, auf die Arbeitsfelder, um ausgepeitscht oder totgeschlagen zu werden oder um an Kälte, Flecktyphus, Ruhr oder anderem Elend umzukommen. Man kann sich vorstellen, welche Szenarien sich dort zwischen Eltern und Kindern abgespielt haben müssen - zwischen Ehepartnern, Geschwistern und Freunden -, bevor der Tod ihnen wie eine Befreiung erschien. Man begreift, dass das menschliche Leid nicht größer und schlimmer sein kann - größeres Unheil ist Mitmenschen in der Menschheitsgeschichte nie zuvor angetan worden, ein schwereres und schlimmeres Schicksal hat nie ein Volk zuvor erleiden müssen. Und dennoch wird das, was man sich vorstellen kann, mit Sicherheit nur ein blasses Abbild dessen sein, was in Wirklichkeit geschieht. Die Wirklichkeit, die 5 bis 6 Millionen Juden betraf und aus der es nur einen einzigen Weg hinaus gab - eine Befreiung: den Tod! Wie sehr müssen diese Millionen Unglücklichen sich danach gesehnt haben, sterben zu dürfen!! Ja, wie müssen sie die Gaskammer als wahre Erlösung angesehen haben, als Befreiung von den Ängsten, die sich außerhalb abspielten. Ein milder Tod. Aber er war nicht allen vergönnt. Hunderttausende - die Stärksten und Besten, die gesündeste und schönste Jugend in ihrer vollen Blüte - mussten erst „ausgenutzt“ werden, ihre Kräfte mussten sich erst „bewähren“ in Arbeitseinheiten des Todes: beim Aufhäufen von Leichen, beim Verbrennen von Leichen, beim Erhängen!

Und es waren ihresgleichen, die sie aufhäuften - ihresgleichen! Vielleicht entdeckten sie in den Leichenbergen ihre eigenen Kinder, ihren eigenen Bruder oder den Ehepartner!! Die jungen Kräfte schwanden bald; sie bekamen ja nichts zu essen und wurden ausgepeitscht und geschlagen, bis auch sie sterbend oder bereits tot auf die Leichenberge fielen - um von Tausenden Neuen abgelöst zu werden, die nach beendeter „Arbeit“ das gleiche Schicksal fanden. Nein! Ich will nicht versuchen, das wiederzugeben, was ich hörte; ich kann es noch nicht. Ich muss dazu noch etwas Abstand gewinnen, und außerdem muss ich noch mehr erfahren. Ich habe einen brillanten Erzähler kennengelernt. Er muss mir mehr berichten. Gestern erzählte er ununterbrochen mehr als zwei Stunden lang und ließ ein Bild entstehen, dessen Maßstäbe und Farben so stark auf mich wirkten, dass ich mich noch immer wie gelähmt fühle. Mir fehlen bisher noch jeglicher Zusammenhang und Überblick. Ich muss warten; vielleicht kann ich später damit beginnen, es aufzuschreiben, versuchen, es zu Papier zu bringen, zumindest die Umrisse des Ganzen. Irgendwann müssen diese Ereignisse doch berichtet werden. Irgendwann muss die Welt doch erfahren, was vor sich ging, die Möglichkeit bekommen, in die grauenvolle Teufelsfratze des Nationalsozialismus zu starren. Die Fratze, die sie, trotz allem, was geschehen ist, trotz des Terrors, der Brutalität, der Lügen, des Betrugs und der Barbarei, die allesamt bekannt sind, verborgen gehalten haben.

Deshalb muss ich alles niederschreiben, denn, so mein Erzähler, er rechne nicht damit, lebend davonzukommen, auch wenn er sich vorübergehend recht sicher fühle, als Vorarbeiter im Uhrmacher-Kommando hier in Sachsenhausen. Diese Stellung scheint gewissermaßen unter besonderem Schutz zu stehen, wegen seiner Kriegswichtigkeit! Und jemand muss doch erfahren, was vorgefallen ist, was und wie es geschah, sagt er. Jemand, der darüber schreiben kann oder es danach weitererzählen kann, wenn alles vorbei ist. Er wagt sich wohl nicht, es selbst niederzuschreiben, und Gott allein weiß, wie ich dazu komme, es zu wagen. Es ist ja im Übrigen auch alles andere als sicher, dass ich, wenn der Tag kommt, irgendetwas von meinen Aufzeichnungen mitnehmen kann.

Außer den Juden, über die ich berichtet habe, und den Uhrmachern und Arbeitern in der Uhrmacherwerkstatt, alles in allem 53 Mann, gibt es ein weiteres Spezialkommando, in dem Juden beschäftigt werden. 38 an der Zahl arbeiten in einer besonderen SS-Druckerei. Diese Druckerei ist in einer Baracke untergebracht, die gleich neben der Judenbaracke liegt, in der wir gestern waren. Sie ist auf allen Seiten von einem undurchdringlichen doppelten Stacheldrahtzaun umgeben. Ich sah ihn gestern Abend. Ohne Erlaubnis kommt niemand dort hinein und niemand, der sich innerhalb dieser Umzäunung befindet, heraus.

Diese Druckerei ist mit der Fälschung von Dokumenten und Geld beschäftigt sowie mit der Produktion der ganzen erschwindelten Unterlagen, derer sich das Dritte Reich bedient. Darüber besteht kein Zweifel.

Aber was am meisten Unbehagen erweckt, ist, dass es als sicher gilt, dass die 38 Juden, die dort drinnen beschäftigt werden, niemals rauskommen werden, um über die Machenschaften berichten zu können. Sie wissen zu viel von dem, was niemand wissen darf. Begleitet von einem Gefühl des Übelkeit erregenden Unbehagens, stand ich gestern Abend dort und starrte in der Abenddämmerung auf diese Baracke.

Die Stacheldrahtzäune zeichneten sich gegen den Abendhimmel wie gespenstische Skelette ab und verstärkten das Unbehagen. Diese Abschirmungen aus Stacheldraht umschlossen die ganze Baracke - selbst Wände und Dach - wie einen Käfig. Ich konnte kaum die Augen davon abwenden, ich fühlte mich unwohl, krank!

Hier wandern wir machtlos umher und sehen und verstehen alles, ohne auch nur das Geringste tun zu können. Ist es denn verwunderlich, dass man sich von diesem Anblick nicht losreißen kann, dass man sich dieser Gedanken nicht erwehren kann, die da über einen hereinbrechen, wie dunkle albtraumhafte Wolken, und einen gänzlich mit Dunkelheit und Verzweiflung umschließen.

Wie gerade jetzt - der Anblick eines Käfigs aus Stacheldraht setzt in einem einen ganzen Prozess von Not und Verzweiflung in Gang - Gedanken und Vorstellungen, die geradezu physische Schmerzen hervorrufen. Dieses ganze fürchterliche Drama, in dem wir mittendrin gefangen sind, rollt über einen hinweg, drängt sich auf - mächtig und unentrinnbar. Ein Gefühl von Ohnmacht packt einen an der Kehle - man fühlt sich, als würde man ersticken. Nichts kann helfen, nicht einmal zu weinen oder zu schreien. Das Drama tobt weiter, umzingelt einen, ergreift einen, reißt einen mit sich, wirft einen umher wie einen hilflosen, willenlosen, erbärmlichen Gegenstand, der nichts anderes mehr wahrnimmt als eine unausweichliche, dunkle, stahlharte Macht, die einen in die Dunkelheit zwingt, während sich das Himmelsgewölbe über einem vor Angst rot färbt.

Oh, Menschenkind! Welch Unglück, dass du mit einem Herzen geboren wurdest! Wie viel einfacher wäre es ohne gewesen! Wie viel Leid, wie viel Angst, Furcht und Sorge wäre dir erspart geblieben, wenn du ohne dieses Organ gewesen wärst, das in dir hämmert und schlägt und sich störend in das einmischt, was du erlebst. Wie viel besser wärst du zu diesem Leben in all seiner zynischen Grobheit geeignet.

Oh, Herrgott, welch Jammer und Erbärmlichkeit! Wohin schwinden die Kräfte? Der Antrieb? Die Energie? Der unbezähmbare Glaube an die Zukunft? Oh, Kari!7 Kari, gib mir die Kraft und den Mut zurück. Ab und zu schwinden sie - und du erscheinst mir so unerreichbar weit entfernt! Es ist zum Verzweifeln!

Direkt von diesen zwei Stunden in der Hölle kam ich zum Kabarett in der 23° und feierte ausgelassen! Es war seltsam, aber es ging - ohne dass ich überhaupt bemerkte, was ich tat. Das Haus war bis auf den letzten Platz gefüllt, tropische Wärme und entsprechende Stimmung. „Auf, los nach Norwegen!“ Trallalala! Juchhei! Fesche Kerle! Ja, auch hier gab es einiges an Variation!

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