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Chronik und Quellen
1943
November 1943

Verabredung für geheimes Treffen

Am 14. November 1943 schlägt Lilli Jahn ihren Kindern in einem geheimen Brief aus dem Arbeitserziehungslager Breitenau vor, wie sie sich heimlich treffen könnten:

Sonntag, den 14. XI. 43.

Meine guten, innigstgeliebten Kinder,

damit die Post nicht merkt, daß ich Euch öfter schreibe, hab ich mir die Adresse schreiben lassen u. Gisela als Abs. genannt, dies zur Erklärung. Und ehe ich’s vergesse, fragt doch bitte den Vati, ob er etwas Geld für mich übrig hat, dann möchte er doch bitte der Anstalt etwas für mich schicken, ich muß Schuhe besohlen lassen, u. wenn ich einmal - wer weiß wann!! - entlassen werden sollte, hätte ich gar kein Fahrgeld, im voraus vielen Dank!

Und nun zu Euch, meine Lieblinge! Immer u. immer denke ich voll Liebe u. Sehnsucht an Euch, u. glaubt mir, Eure Liebe zur mir, unsere gegenseitige Liebe hilft uns durch diese so schweren Wochen u. Monate hindurch. Leider habe ich von Dir m. Junge, schon sehr, sehr lange nichts mehr gehört, u. auch von meiner Ille hab ich seit 14 Tagen keine Post, was mir sehr fehlt, aber sicher noch an den gestörten Postverbindungen liegt. Hoffentlich kommt alles noch nach u. nach an, denn aus Frankenstein hast Du gewiß auch mal geschrieben. Daß Du nicht in Leipzig warst, entnahm ich einem sehr lieben Brief von Tante Lotte, den ich vorgestern erhielt.

Aber Deine Zeitungs-Sendung vom 2. XI. hab ich gestern erhalten, liebes Hannele, recht herzl. Dank, u. auch Deine Briefe vom 2. u. 9. XI., zwei liebe feine Kunstkarten von Dir, mit denen ich mich sehr freute, und außerdem Eure Briefe vom 22. X. und 24. X. u. zwei liebe Eva-Briefchen. Also von vor u. gleich nach dem Angriff. Kinder, ich kann es noch immer nicht fassen, was Ihr habt durchmachen müssen, aber nachfühlen kann ich es Euch doch, wie Euch nach u. nach immer mehr zum Bewußtsein kommt, was wir alle verloren haben. Aber seid nicht gar so traurig; wenn wir erst alle wieder gesund Zusammensein können, Ihr u. Marilis, Tante Lore u. ich, dann ist alles wieder leichter u. gut. Was Du in Fr[ankenstein] erlebt u. erledigt hast, das höre ich sicher dieser Tage noch, lb. Ilsekind, nicht wahr? Also, Bezugscheine für Geschirr etc. habt Ihr schon erhalten? Habt Ihr denn auch schon gekauft? Und Eva geht also in I[mmenhausen] zur Schule u. Ille in Hofgeismar? Wie gefällt’s Dir wohl dort, meine Große?

Und mein Hannelekind ist noch nicht untergebracht? Es wäre auch mir eine ganz große Erleichterung, wenn Du auch in Hofg[eismar] ankämest. Bleibt Heidi vorläufig zu Hause? Wie lieb von ihr, für Dorle Spielsachen zu bringen. Was macht denn mein bester Schatz? Hat sie sich wohl gefreut, als Ille wiederkam? Spielt sie artig mit der kleinen [...]? Was macht denn Tante Lore, geht es ihr gut? Grüßt sie herzlich von mir. Auch an Vati u. T[ante] Rita viele Grüße. Hannele, läßt Du Dir denn jetzt Deine Haare wachsen?

Nun paßt mal auf, lb. Kinder, aber haltet ja Euren Mund. Seit dem Angriff haben wir am Zug keinen Wagen mehr für uns, u. wir steigen zu den anderen Leuten ins Abteil. Wenn wir es geschickt anfangen, könnten wir uns doch dann mal treffen, ich dachte an Ille u. vielleicht Tante Lore, oder wenn Vati u. Tante Lore meinen, daß es ginge, Ille und Hannele. (Ihr könnt dann ja einen Brief von T[ante] Lore mitbringen, falls sie mir etwas mitzuteilen hätte, was nicht durch d. Kontrolle gehen soll!) Ihr müßtet Euch aber sehr zusammennehmen, damit keine Beamtin etwas merkt. Ich werde Euch ja in der Anstaltskleidung sehr verändert Vorkommen, zumal ich nun auch den einen Zahn verloren habe, der schon immer lose war. Erschreckt also nicht.

Abends im Zug uns zu treffen möchte ich keinesfalls, da Ihr mir da zu leicht in Alarm oder Angriff kommen könnt, denn der Zug ist ja erst nach 8 Uhr in Kassel. Nun gibt es noch zwei Möglichkeiten, u. Ihr könnt Euch die aussuchen, die für Euch mit den Verbindungen am besten ist. Wir fahren jeden Morgen kurz nach 7 Uhr hier fort, der Zug kommt von Kassel. Ihr müßtet im letzten Wagen sein u. in Guxhagen raussehen. Sollte ich nicht bei Euch einsteigen, dann steigt an der nächsten Station in m. Abteil um. Wir fahren dann zusammen bis Malsfeld. Besser vielleicht wäre noch, wenn es für Euch nicht zu schwierig ist, Ihr kämet Samstag nach Malsfeld, dort fahren wir gegen 14 Uhr zurück. Ihr steigt dann hinter uns ein. Es sind ja nur 20 Minuten, aber wir könnten uns doch mal sehen!! Wäre das nicht fein??

Aber Ihr müßt sehr vorsichtig sein auf dem Bahnsteig u. Euch u. mich nicht verraten. Im Zug können wir dann miteinander reden. Wenn es zustande kommen sollte, dann bitte bringt mir Briefpapier mit, Freimarken, Zigaretten, Streichhölzer, etwas Hautcreme, eine Rasierklinge, mein kleiner Apparat ist wohl auch nicht mehr da. Und vielleicht kann Vati oder Dr. Schupmann (viele schöne Grüße an ihn) Euch Tabletten geben gegen meine Schmerzen in den Armen u. Händen, die mich wieder sehr plagen. Am besten packt Ihr alles in ein kleines Paket u. gebt es mir im großen Tunnel vor Guxhagen. Und wenn es nicht zu unbescheiden ist u. Ihr es übrig habt, bringt mir doch bitte etwas Weißbrot oder Stolle mit, das wäre für den Sonntag ein bißchen mehr zu essen. Aber nur, wenn es wirklich geht.

Ich hab’ mir in Gedanken schon seit Tagen ausgemalt, wie glücklich ich in den paar Minuten sein werde. Schreibt auch keine Andeutungen, ich werde von den nächsten Tagen an immer gut aufpassen. Wenn es klappt u. wenn ich noch lange weg sein muß, dann kommen vielleicht ein anderes Mal Marilis u. Eva.

Für heute lebt wohl, Ihr meine Kinder alle. Wann kommt mein Junge wieder auf Urlaub? Kann er über’s Wochenende nicht mal nach Marburg zu Marilis? Ich halte Euch fest an m. Herzen u. küsse Euch zärtlich voller Liebe.

Eure Mutti

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