Bergen-Belsen für Judenaustausch ungeeignet
Am 6. August 1943 weist Eberhard von Thadden vom Auswärtigen Amt in einem Vermerk darauf hin, dass das KZ Bergen-Belsen für die Unterbringung von zum Austausch vorgesehenen Juden ungeeignet sei:
Weisungsgemäß besuchte ich am 30.7.1943 gemeinsam mit O. R. R. Kröning vom Reichssicherheitshauptamt das sogenannte Aufenthaltslager Bergen-Belsen. Es handelt sich um ein ehemaliges Stalag, welches jetzt in 4 Teile zerteilt ist. Ein Teil ist belegt mit politischen Konzentrationslager-Häftlingen (z. Zt. 400), ein weiterer Teil mit tuberkulösen russischen Kriegsgefangenen (z. Zt. angeblich etwas über 1000), ein dritter Teil ist Kleiderdepot für eine Division der Waffen-SS und ein vierter Teil, in dem etwa 3000 Personen untergebracht werden könnten, dient als Aufenthaltslager für Juden. Z. Zt. sind dort etwa 2300 polnische Juden untergebracht, die den Anspruch darauf erheben, südamerikanischer Staatsangehörigkeit zu sein. Da z. Zt. ein Transport mit 370 spanischen Juden und kleinere Transporte mit etwa 250 polnischen Juden im Anrollen sind, ist das derzeitige Fassungsvermögen des Lagers Bergen-Belsen bereits erschöpft.
Über die Lage des Teils, in dem die Juden untergebracht sind, gibt die anliegende grobe Skizze Aufschluß. Die Juden sind also von dem Tuberkuloselager für russische Kriegsgefangene lediglich durch die Fahrbahn und zwei Stacheldrahtzäune getrennt. Für Entlausung und das wöchentliche Brausebad werden die entsprechenden Einrichtungen des Russenlagers benutzt. Die gegenwärtig in dem Lager untergebrachten Juden sind von dem Sträflingslager noch durch einen für sich abgezäunten Komplex leerstehender Baracken getrennt. Doch würden bei einem neu ankommenden Transport diese Baracken belegt werden müssen, so daß diese Juden dann unmittelbar - lediglich durch einen dünnen Stacheldrahtzaun abgeschieden - an das K. Z. für politische Sträflinge angrenzen. Die in dieser Frage sofort auftauchenden Bedenken veranlaßten den Lagerkommandanten anzuordnen, daß neben diesen Stacheldrahtzaun sofort noch ein zweiter Zaun aus Brettern gestellt wird, damit ein Beobachten der Vorgänge von einem Lagerteil in den anderen weitgehend unterbunden wird.
Die sanitären Verhältnisse in dem Lagerteil, der zur Aufnahme der Juden dient, sind bisher denkbar unerfreulich.
Es gab zunächst behelfsmäßige Waschmöglichkeiten zwischen den Baracken, und als Toiletten dienten etwa 150 m von den Baracken stehende Latrinen, die auch für Frauen und Kinder lediglich auf spezifisch soldatische Weise benutzbar sind. Die Lagerkommandantur hat die Unmöglichkeit dieser Verhältnisse von sich aus eingesehen und, obwohl eine Ermächtigung zum Bau bisher nicht vorlag - die vorläufige Baugenehmigung traf gerade ein -, die 400 politischen Sträflinge angesetzt, um zwischen den Wohnbaracken in einfachster Form Waschbaracken zu errichten, die mit fließend Wasser und Zementwaschbecken ausgestattet werden, sowie Kanalisation zu legen und den Bau vernünftiger Toiletten, die an die Kanalisation angeschlossen sind, in Angriff zu nehmen. Der Lagerkommandant hofft, diesen Teil seines Verbesserungsprogramms in etwa 14 Tagen bis spätestens 3 Wochen durchgeführt zu haben.
Bei den Baracken handelt es sich ausschließlich um Sommerbaracken, die also einwandig und mit einfachen Fenstern versehen sind. Die Lagerkommandantur glaubt jedoch, daß der Aufenthalt in den Baracken trotzdem im Winter möglich sein wird. Öfen für jeden Raum sind beantragt, Holz als Brennmaterial stehe ausreichend zur Verfügung.
Die Unterbringung der Juden ist in der Form vorgenommen worden, daß Männer und Frauen getrennt wohnen. Jede Baracke enthält je nach Größe ein bis zwei Schlafräume, die im Durchschnitt mit etwa 100 Personen belegt sind - jeder Jude hat seine eigene primitive Holzbettstelle mit Strohsack -, und zwar stehen je zwei Betten übereinander. Daneben ist in jeder Baracke als Aufenthaltsraum ein von Schlafpritschen freigehaltener Raum, der mit Tischen und Bänken ausgestattet ist. Von morgens bis 21 Uhr ist das Tor zwischen dem Männer- und Frauenlager - die untereinander auch durch einen Stacheldrahtzaun abgetrennt sind - geöffnet. Wie der Lagerkommandant erzählte, bleiben jedoch trotz der Vorschrift, daß Männer und Frauen sich um 21 Uhr spätestens zu trennen haben, die Nacht über zahlreiche Frauen in den Männerbaracken und umgekehrt. Von Zwangsmaßnahmen hiergegen hat die Lagerkommandantur geglaubt, absehen zu sollen.
Die Verpflegung erfolgt nach Zivilsätzen. Das Essen wird in sehr sauberen und ordentlich aussehenden Gemeinschaftsküchen hergestellt. Unter Leitung eines Deutschen sind in der Küche ausschließlich politische Häftlinge beschäftigt. Diese bringen das fertig gekochte Essen in einer Art Thermos-Tonnen (verschließbar und wärmehaltend) bis zum Eingang des Judenlagers, dort übernehmen die Juden das Essen und geben es selbst aus. In einer Baracke ist die Kantine untergebracht, in der Marketenderwaren, darunter auch Zigaretten, sowie Bier vom Faß käuflich erworben werden können. Der Umsatz ist sehr rege, so daß bisher in den wenigen Tagen, die das Lager besteht, bereits Waren im Einkaufspreis von RM 26 000 verkauft worden sind.
Irgendeine Arbeit wird von den Juden im Lager nicht ausgeführt. Obwohl ausreichend Raum zur Verfügung steht, machen sie sich auch nicht selbst Bewegung, etwa durch Sport o. ä., sondern ergehen sich nach Schilderung des Lagerkommandanten ausschließlich in Faulenzen und im Minnespiel.
Die Mehrzahl der Juden verfügt über große Geldbeträge. Angemeldet wurden von den 2300 Lagerinsassen bisher 4 Millionen Zloty d. s. 2 Millionen Reichsmark. Die Juden führen z. T. sehr umfangreiches Gepäck mit sich; die ihnen zur Verfügung stehenden Schränke sind jedoch so gut wie überhaupt nicht benutzt, da die Juden offensichtlich aus Sorge vor Diebstahl untereinander ihre Sachen in den Koffern belassen und nach Mitteilung des Lagerkommandanten zu einem erheblichen Teil sogar nachts auf ihren Koffern, die sie unter die Strohsäcke legen, schlafen.
Eine Prüfüng, ob die Juden Geld oder Devisen bei sich führen, hat bisher nicht stattgefunden.
Für den vom Auswärtigen Amt gewünschten Zweck - Bereitstellung von 20 bis 30 Tausend Juden, die für einen Austausch nach Übersee in Betracht kommen - ist das Lager in seiner heutigen Form völlig ungeeignet. Ich halte es nicht für möglich, Juden Wand an Wand mit Konzentrationslager-Häftlingen und tuberkulösen kriegs-gefangenen Russen unterzubringen, wenn man die Absicht verfolgt, die Juden demnächst ins Ausland ausreisen zu lassen. Hinzu kommt, daß den Juden hierdurch geradezu Material für Greuelpropaganda in die Hand gespielt wird. Der Lagerkommandant erzählte z. Bsp., daß das Russenlager ursprünglich 18 000 kriegsgefangene Russen enthalten habe, von denen jedoch bisher 17 000 verstorben seien. Diese Tatsache dürfte auch den dort untergebrachten Juden nicht unbekannt bleiben. Weiterhin befinden sich unter den politischen Häftlingen zahlreiche Polen. Wenn auch der Lagerkommandant versicherte, daß Unterhaltungen zwischen den Häftlingen und den Juden verhindert würden, so scheint dies doch bei den schwachen Bewachungskräften kaum möglich zu sein; arbeiten doch die politischen Häftlinge fast den ganzen Tag in kleinen Arbeitskommandos an den Bauten innerhalb des Judenlagers. -Schließlich ist die Aufnahmefähigkeit des Lagers Bergen-Belsen in der heutigen Form viel zu gering.
Meines Erachtens sollte das Auswärtige Amt als Ergebnis der Besichtigung dem Reichssicherheitshauptamt mitteilen, die bisherige Form des Lagers entspräche nicht dem gedachten Zweck, sondern gefährde diesen geradezu. Wenn überhaupt das Lager Bergen-Belsen zur Unterbringung von Juden herangezogen wird, die später ins Ausland herausgelassen werden sollten, so wäre nächst den von der Lagerleitung bereits angeordneten Verbesserungen sanitärer Art weiterhin dringendst erforderlich Erweiterung des Lagers zwecks Erhöhung der Aufnahme-Kapazität durch Aufstellung weiterer Baracken, Angliederung des jetzt noch mit tuberkulösen Russen belegten Teils des Lagers an das Judenlager, Entfernung der politischen Häftlinge so schnell als möglich - jedenfalls unverzüglich nach Beendigung des Ausbaues des Lagers -, schließlich Räumung des Kleiderlagers der Waffen-SS, das in den besten Baracken untergebracht ist, sobald die Aufnahmefähigkeit des Lagers erschöpft ist.
O.R. R. Kröning beabsichtigt, im Sinne dieser Anregungen seinerseits bei den zuständigen Abteilungen des Reichssicherheitshauptamtes vorstellig zu werden, und würde es zur Stärkung seiner Position sehr begrüßen, wenn auch das Auswärtige Amt seine Stellungnahme schriftlich zum Ausdruck bringen würde.
Hiermit
Abtl. RIV zur Kenntnis mit der Bitte um Stellungnahme vorgelegt, ob dortseits Einverständnis mit der diesseitigen Auffassung besteht.