Über Deportationen und Anpassungsprobleme
Am 4. Juli 1943 notiert der Historiker Arnold Berney in seinem Tagebuch Folgendes über die Deportationen deutscher Juden nach Theresienstadt und seine kulturellen Anpassungsschwierigkeiten in Palästina:
Der fortdauernde Zwang zu einer täglich 12-13 Stunden beanspruchenden Erwerbstätigkeit hat meine freie Zeit nachgerade so sehr beschränkt, die Lust an der Fortführung dieses Kriegstagebuchs so sehr vermindert, daß ich fast fünf Monate geschwiegen habe. Ich spüre auch an mir selbst, dem in diesem Kriege dezidierten Nonkombatten, eine wachsende Kriegsmüdigkeit. Auch durchschaue ich immer mehr die Trostlosigkeit dieses Emigranten- und Exulantendaseins. Ich weiß, daß ich hassen sollte, wo ich noch immer, wenn nicht liebe, so doch seelisch und geistig gebunden und meinem ganzen Wesen nach verwurzelt bin. Und weiß zugleich, daß ich lieben sollte, was ich doch immer nur als eine mir wildfremde weniger abendländische als orientalisch-jüdische Welt betrachten muß. Das britische Commonwealth, dem ich meinem Passe nach angehöre, ist ebenfalls eine Welt, der ich nur als ein passiver Gast angehöre. Die Kontoristenarbeit, die ich seit bald 30 Monaten in einem englischen Militärbüro verrichte, ist das Äußerste, was sich der aus Deutschland vertriebene Jude, der im ersten Weltkrieg 30 Monate lang auf deutscher Seite gekämpft hat, zuzumuten vermag.
Das Deutschland von heute ist freilich nicht mehr das Deutschland von damals - denn es steht - sieht [man] ab vom Organ seines Willens, jener von der „Partei“ repräsentierten Volksminderheit - (18.7.) unter der Führung eines maßvergessenen Dilettanten, an dem man nur die rohe und gewaltsame Willensstärke und gewiß nicht die Halbbildung in der Staatsführung und Strategie bemerkenswert sind - und dessen Halbbildung in weltanschaulicher und volksphilosophischer Hinsicht, die die Deutschen als positives, die Juden als negatives Mustervolk der Welt betrachtet, eines Tages nun als Quelle unendlichen Mensch[en]leids und beweinenswerter Verhängnisse betrachtet werden wird. Die Niederlage, die Hitler in Tunis hinnehmen mußte, kein Dünkirchen fürwahr, sondern ein neues Singapore, bei dem mehr als 300 000 Mann, die Gesamtheit des deutsch-italienischen Afrikakorps, verloren ging - wird genau wie der Zusammenbruch des deutschen rechten Flügels vor Stalingrad als eine persönliche Niederlage Hitlers betrachtet werden müssen. Die Deutschen haben kein Recht, ihre zweite große Niederlage mit dem Hinweis auf die gewaltige englisch-amerikanisch-französische Überlegenheit zu entschuldigen.
Hitler mußte wissen, was von der großen nordamerikanischen Zangenbewegung zu erwarten war. Es ist sehr billig, heute nach der Niederlage zu erklären, die vielen frischen, durchweg auserlesenen Formationen, die Hitler seit dem Spätherbst des vorigen Jahres nach Tunis hinüberwarf, seien „nur“ dazu bestimmt gewesen, den Gegner aufzuhalten und die europäische Invasion hinauszuschieben.
Nein! Die Invasion wäre wohl auch sonst aufgeschoben worden. Wohl aber sind Deutsche und Italiener in eine Lage hineinmanövriert, in der sie als überall von Invasionen bedroht nirgends mehr eine große offensive Bewegung selbständig durchzuführen wagen. In Rußland liegen sich heute - Anfang Juli - die Riesenheere so gut wie untätig einander gegenüber. Nach drei hitzigen Offensivfeldzügen, die Hitler zum Herrn und zugleich zum Knecht des eurasiatischen Kontinents und seiner riesigen, eminent verwundbaren Küstenlinie machten, sieht sich Hitler, durch die Niederlagen von Stalingrad und Tunis gewarnt, von der Gefahr des bisher vermiedenen Zweifrontenkrieges bedroht, genötigt, zum ersten Mal den Krieg defensiv zu führen.
Mehr als je zuvor macht sich zugleich das Übergewicht der RAF über deutschen Industriestädten und italienischen Häfen geltend. Der Angriff der amerikanischen und englischen Großflugzeuge scheint nachgerade katastrophale Wirkungen zu zeitigen. Herr Goebbels spricht von Terrorakten und beweint, der Kirchentrümmer von York, Coventry und London uneingedenk, den Kölner Dom. Schon im Vorjahr wurden die wachsenden Luftangriffe mit der billigen, Wohnungsraum schaffenden Evakuation des Großteils der in Deutschland verbliebenen Juden beantwortet. Die ganz Alten wie mein jetzt 79jähriger Vater wurden nach Theresienstadt in Böhmen konzentriert. Jetzt hat man von dort als Repressalie für einen besonderen Luftangriff angeblich 50 000 jüdische Menschen weggenommen und nach polnischen Konzentrationslagern verschleppt, wo sie sich zum wenigsten durch die Mängel ihrer Unterbringung und Verpflegung eiligst vermindern werden, was ja wohl der deutschen Zwecksetzung entspricht. Dieser Sonderfall zeigt die schiere Ausweglosigkeit des deutsch-jüdischen Gegensatzes. Erst haben sie uns als das „Unglück Deutschlands“ bezeichnet, alle Niederlagen und Verderbnisse der letzten 30 Jahre auf unser Schuldkonto geschoben, das deutsche Volk in diesem Sinne verhetzt und durch die Erfindung des jüdischen Zerrbildes zu einem höchst verlogenen Gegenselbstbewußtsein gebracht. Dann haben sie ausländische Reaktionen wie die Fälle Gustloff und vom Rath geschickt benutzt und uns entrechtet und enteignet, gequält, geprügelt, verfolgt und vertrieben, um endlich sich vor dem wahrhaftig nicht mehr verwunderlichen Faktum zu sehen, daß einzelne früher prominente Juden in einer qualifizierten Weise ihren neuen Schützern, Deutschlands besten Feinden, dienstbar wurden. So hat ein Jude offenbar der RAF die genaueren Verhältnisse des Eder- und Mohnedammsystems verraten, die Zerstörung dieser Wasserreservoire und Kraftwerke aus der Luft veranlaßt und dadurch zu allen sonstigen Schäden die furchtbaren Folgen einer Hochwasserkatastrophe hinzugefügt. Dann hat der bemerkenswert ahnungslose englische Pressedienst diese Tatsache in die Welt gesetzt und damit der in Deutschland herrschenden Parteidiktatur die willkommensten Vorwände angeliefert für all jene neuen „Repressalien“, die ich oben bezeichnet habe So befinden wir uns in einem furchtbaren Circulus vitiosus. Niemand gedenkt auch der Tatsache, daß der deutsche politische Antisemitismus nicht eine Folge irgendwelchen deutsch-jüdischen Versagens, sondern allein der Ausdruck mangelhaften nationaldeutschen, sich am Judenhaß schadlos haltenden Selbstbewußtseins ist. Längst ist das Gift des Rassenhasses auch in die Länder der Alliierten eingedrungen und hat da auch [die] hier vorhandenen, an sich höchst natürlichen Gegensätze abwertend belastet.
Auch die Lage der Juden in Palästina wird von dieser Lage des Judentums in der Welt affiziert.