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Chronik und Quellen
1943
Mai 1943

Sorge um von Deportation bedrohter Mutter

Am 30. Mai 1943 berichtet Eva Sieburg aus Berlin ihrer nichtjüdischen Verwandtschaft in Herne in einem Brief über die Sorge um ihre jüdische Mutter, die von schwerer Zwangsarbeit und Deportation bedroht ist:

Onkel Erich und liebe Tante Ida!

Lang ist es her, seit ich dazu kam, Euch einen ausführlichen Brief zu schreiben. Heute soll es aber nicht nur bei der guten Absicht, die schon jeden Tag vorlag, bleiben, sondern wirklich stattfinden. Eure Karte, mit der Ihr Euch so lieb nach unserem Befinden erkundigt habt, hat uns sehr erfreut. Ihr könnt Euch ja denken, wie uns in dieser Zeit, die nur aus Angst und Sorge besteht, zumute ist. Wenn Mutti auch einige Wochen Ruhe hatte, so ist diese Ungewißheit des Wielange doch so kraftraubend, daß die Nerven immer unter Hochspannung stehen und auch den gesundheitlichen Zustand nicht gerade fördern. Die Aktionen, wie ich sie Euch aus den Märztagen kurz schilderte, gehen immer weiter, und man wundert sich nur, wo sie immer noch neue Opfer finden. Der Zufall, oder wie man es sonst nennen will, hat mich mit Menschen bekannt gemacht, die unmittelbar mit diesen Transporten zu tun haben und mich daher mit den neuesten Geschehnissen immer auf dem Laufenden halten. Das einzige Beruhigende an dieser aufreibenden Freundschaft ist der Umstand, daß ich von allen Gefahren sofort verständigt werde und somit grausame Überrumpelungen, wie es bei den anderen der Fall ist, vermeiden kann. Leider ist zur Zeit mal wieder solche Gefahr für Mutti gegeben, und es weiß keiner, ob sie auch diesmal wieder vorübergehen wird. Neulich sollte sie wieder zu einer sehr unangenehmen Arbeit vermittelt werden, doch konnte ich auch dies durch bescheidenes Bitten noch einmal bis zum 1. Juli verhindern. Vor einigen Wochen ist uns das dritte Zimmer für Bombenbeschädigte beschlagnahmt [worden]. Nun warten wir auch hier wieder auf den zeitmäßig unbekannten Termin des Einzuges irgendwelcher Mitbewohner, die uns dann nach ihrem Belieben aus der Wohnung verdrängen können. Na, warten wir ab, was kommt. Andere müssen ja ihr Leid auch tragen, wie es das Schicksal mit ihnen vorhat.

Nun aber genug von uns. Wie geht es vor allem Euch gesundheitlich? Habt Ihr Euch ein bissel erholt? Hast Du, lieber Onkel Erich, nun die Schule gänzlich an den Nagel gehängt, und wie bekommt Dir das pensionierte Leben? Gewiß wirst Du die Zeit fleißig mit Deiner Schriftstellerei ausnutzen. Wie weit bist Du denn mit Deiner Biographie gekommen? Ich bin schon so neugierig darauf, sie zu lesen.

Und was habt Ihr von Heinzotto für Nachricht? Ist er denn nun noch in Deutschland? Man kann es ihm nur wünschen. Zu schade, daß unser Schriftwechsel so schnell eingeschlafen ist, weil man den Kopf mit zuviel anderen einen belastenden Dingen voll hat. Wenn man überhaupt an ein Ende dieses furchtbaren Krieges denken kann, so gehört auch die Korrespondenzpflege zu den kleinen Freuden, nach denen ich mich sehne. Aber heute fehlt zu der geringsten Aktivität jede Zeit und Lust, was Ihr sicherlich verstehen werdet. Ich würde mich jedenfalls ehrlich freuen, wenn Heinzotto mich bis dahin noch nicht ganz vergessen haben würde.

Was hört Ihr von Lulu und ihrem Sprößling? Die Kleine muß doch jetzt schon sehr viel Spaß machen. Habt Ihr nicht mal ein Bildchen von ihr?

Wie sieht es denn in Herne mit den Alarmen aus? In der letzten Zeit war hier meist Ruhe. In einigen Nächten hatten wir allerdings Störangriffe, jedoch ohne Abwürfe. Habt Ihr was von den Talsperren-Katastrophen gehört? Die eine ist doch wohl gar nicht so weit von Euch, nicht wahr?

Tja, wenn das viele Leid bloß erst mal etwas weniger würde, was die Menschen jetzt zu 90 % jetzt über sich ergehen lassen müssen. Es ist wirklich eine harte Kraftprobe, die wir da zu bestehen haben. Leider fürchtet jeder einzelne, daß sie noch viel größer wird und an Ruhe wohl in den nächsten Jahren kaum zu denken ist. Und dennoch geht das Leben immer weiter.

Daß Mutti in ihrer augenblicklichen Verfassung nicht schreiben mag, nehmt Ihr ihr hoffentlich nicht übel. Es war zuviel der Aufregungen für sie in den letzten Monaten, denen man so machtlos gegenübersteht.

Behaltet uns trotzdem bitte ein wenig lieb und seid recht herzlich von uns gegrüßt. Vergesst uns bitte auch nicht, wenn unsere Briefe zur Zeit immer magerer werden, wir denken dennoch oft an Euch.

In alter Treue und Liebe Eure

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