Planung einer Flucht in die Schweiz
Heinrich Busse aus Berlin plant seine Flucht in die Schweiz und bittet seinen Neffen am 21. Mai 1943 per Brief um Hilfe:
Hanns,
meine Lage ist verzweifelt & nicht mehr lange durchzuhalten. Ich bin natürlich wohnungslos & habe zuweilen kein Dach über dem Kopf; alles übrige kannst Du Dir denken. Nur ein rascher & irgendwie, wenn auch abenteuerlich durchzuführender Entschluß kann mich vielleicht noch retten. - Herr S. spricht leider nur wenig deutsch & so muß ich meine Ideen schon dem Papier anvertrauen. - Ich sehe nur 2 Möglichkeiten, beide davon abhängig, daß ich überhaupt bis an die Grenze komme. Das ist für mich keineswegs einfach, denn es sind in der Bahn ständig Kontrollen; aber ich hoffe, es würde mir doch gelingen, wenn ich entsprechende Zeit vor mir habe. Die eine Möglichkeit besteht darin, daß ich unterhalb Friedrichshagen-Konstanz über die Grenze zu gelangen versuche. Es fließt da bei Wangen, Öhningen, Schienen, ein Bach, ich glaube Schienenbach, in dessen Bett man vielleicht nächtlich auf Schweizer Gebiet gelangen könnte. Ich fürchte nur, daß ich 1) der Sache körperlich & ohne Führung nicht mehr gewachsen bin & 2), daß der ganze Weg wie das ganze Gebiet scharf überwacht 8c vielleicht an der Grenze abgesperrt ist, 3) daß man überhaupt in das gesamte Grenzgebiet nur bis zu einem gewissen Abstand gelangen kann. Wenn Du hierüber etwas erfahren kannst, so wäre es mir wirklich überaus wertvoll. Noch wichtiger wäre eine Anschrift aus dieser Gegend, denn irgendeine Mithilfe wäre schwerlich zu entbehren. Das alles könntest Du natürlich nur in Form einer Reisebeschreibung, Urlaubsschilderung von früher her, Erinnerung an unsere gemeinsame Wanderung oder dergl. behandeln, wobei Du Dir jedes Wort überlegen müßtest.
Eine zweite Möglichkeit, die mir viel durchführbarer erscheint, denke ich mir wie folgt: Irgendwo gibt es sicherlich einen kleinen Grenzverkehr, der namentlich dem Eisenbahnpersonal einen ziemlich zwanglosen Übergang ermöglicht. Wenn ich durch einen ins Vertrauen gezogenen Beamten auf eine Lokomotive gelangen oder in einem Trupp Streckenarbeiter mitgehen könnte, in Arbeiterkleidung, als Heizer oder dergl., so wäre ich vielleicht gerettet. Bei Deiner hoffentlich noch bestehenden Verbindung mit Deinem Studienfreund dürfte eine solche Vereinbarung doch zu ermöglichen sein. Natürlich ist die Verständigung hierüber sehr schwierig. Du müßtest berücksichtigen, daß ich nach Empfang Deiner Nachricht wohl mehrere Wochen brauchen würde, um zum Treffpunkt zu gelangen, denn 1) brauchen die Briefe selbst sehr lange, 2) müßte ich mir einen Schlafplatz sichern, 14 Tage vorher zu bestellen, und 3) müßte ich mir Deine Briefe doch erst abholen. Außerdem wäre alles nur ganz vorsichtig auszudrücken. Ich notiere mir, dass Du für „Lokomotive“ das Wort „Brief“ anwenden würdest; für den Vertrauensmann das Wort „Freund“ ... dahinter den Namen, für den Treffort das Wort „Wohnsitz“, das Datum als Geburtstag angeben würdest, irgendwelche Ziffern als die Anzahl der erreichten Jahre evt. in Verbindung mit dem Geburtsjahr. Als meine Anschrift kann ich augenblicklich nur den Bruder von Onkel Leo N. angeben, also Richard N., dessen Adresse ich Herrn S. aufgeschrieben habe. Ich komme wöchentlich 1mal hin, bin aber nicht ganz sicher, ob er selber hierbleiben wird; vielleicht schreibst Du deshalb doppelt, & zwar auch an den früheren Chef von Klaus, Dr. B., Rüdesheimer Platz, den Du m[eines] W[issens] ja auch kennst. Er ist augenblicklich verreist, aber ich kann ihn wohl bald anrufen & spreche ihn auch hin & wieder. Am allerbesten wäre es natürlich, wenn ich [mich] mit einem Vertrauensmann von Herrn B. hier verständigen oder unterhalten könnte. Das müßte doch schließlich möglich sein, auch im negativen Fall, & mindestens in diesem Sinne wirst Du mir vielleicht Bescheid geben können.
Mein lieber Hanns - ich weiß, du wirst das alles sehr skeptisch auffassen. Aber es ist ein Schrei aus höchster Not, & Du mußt bitte das Äußerste aufwenden, die Sache also nach jeder Richtung hin betreiben. Ist sie nicht auf diesem Wege durchführbar, so vielleicht irgendwie anders. Deine Berichte halte in Form einer Familien-Angelegenheit; notfalls bezeichne durch Unterstreichung Deiner Absender-Adresse, daß erst jede 2. Zeile im Zusammenhang lesbar ist. - In meiner schon an Abenteuer gewöhnten Phantasie male ich mir sogar aus, dass Du vielleicht selber als Lokomotiv-Heizer mitfahren könntest... Also, lieber Junge, verzeihe dem 69jährigen seine leider nur sehr erborgte & aufgezwungene Jungenhaftigkeit, nimm die Sache aber so ernst, wie sie es leider ist, & verliere bitte keinen Augenblick Zeit. Es kommt auf jeden Tag, auf jede Stunde beinahe an. Grüße Herrn B„ er wird gewiß Verständnis haben, & sei Du mit den Deinigen besonders herzlich gegrüßt von Deinem HB