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Chronik und Quellen
1943
April 1943

Lage der Juden und „Mischlinge“ in Deutschland

Am 8. April 1943 skizziert das Staatssekretariat des Vatikans in einer Aktennotiz die Situation der Juden und „Mischlinge“ in Deutschland:

Überblick über die Situation der Nichtarier in Deutschland und Plan für eine Intervention Mussolinis bei der deutschen Regierung zugunsten der Juden.

Doktor Gerhard Lehfeldt, wohnhaft in Berlin, hat an den Heiligen Vater eine Bittschrift geschickt, in der er den Heiligen Vater anfleht, er möge den Chef der italienischen Regierung drängen, sich bei den deutschen Behörden für die „Mischlinge“ ersten Grades einzusetzen.

I. Bisher werden die Juden in fünf Kategorien unterteilt:

1. „Volljuden“ (vollständig jüdischer Rasse) ohne Rücksicht auf ihre Religionszugehörigkeit, die mit einem Juden verheiratet sind, der ebenfalls „Volljude“ ist;

2. „Volljuden“, Christen, die mit einem Arier verheiratet und kinderlos sind;

3. „Volljuden“, Christen, die mit einem Arier verheiratet sind und Kinder haben;

4. „Mischlinge“ ersten Grades (gemischter Rasse, d. h. die von einem jüdischen und einem arischen Elternteil abstammen), die christlich erzogen sind;

5. Sonstige „Mischlinge“, die von einem jüdischen und einem arischen Elternteil abstammen, aber in der jüdischen Religion erzogen sind. Diese sind „Volljuden“ gleichgestellt.

II. Die „Mischlinge“ ersten Grades sind den Ariern gleichgestellt und besitzen die deutsche Staatsbürgerschaft. Ihre Zahl wird auf 300 000 geschätzt.

Wie oben angedeutet, bestand in Deutschland bis zum Ausbruch des derzeitigen Krieges ein Verein für den Schutz der Rechte der „Mischlinge“ ersten Grades. Dieser Verein wurde aufgelöst, weil - wie es hieß - „es keinen Grund für sein Bestehen gab, da Mischlinge ersten Grades den Ariern gleichgestellt sind“. In Wirklichkeit aber wollte man diese Kategorie von Juden jeden Schutzes sowohl vor der Verletzung geltender Rechtsvorschriften als auch vor einer möglichen Anwendung der Rassengesetze berauben.

III. Führende Kreise des Reichs scheinen sich nicht darüber einig zu sein, welche Haltung gegenüber den „Mischlingen“ ersten Grades einzunehmen sei. Es gibt eine radikale Strömung, die von Dr. Goebbels unterstützt wird, und eine gemäßigte, die von den obersten Militärbehörden vertreten wird.

IV. Es wird nun die Verabschiedung eines Gesetzes befürchtet, dass die „Mischlinge“ ersten Grades den „Volljuden“ gleichstellt, mit allen vorhersehbaren Konsequenzen, insbesondere in Hinblick auf die Deportation, die den fast sicheren Tod bedeutet.

Denn nach der vollständigen Deportation der Juden der ersten Kategorie, die gegen Ende des Jahres 1942 abgeschlossen war, hat man bereits mit der - wenn auch nicht massenhaften - Deportation der Juden der zweiten und dritten Kategorie begonnen.

V. Der Unterzeichner bittet um eine Intervention des Heiligen Vaters beim italienischen Regierungschef, dem Einzigen, der in der gegebenen Situation bei den obersten Behörden des Reichs Gehör finden kann.

Kardinal Faulhaber soll in einer diesem Herrn kürzlich gestatteten Audienz geäußert haben, nur der Heilige Vater könne seinerseits wirkungsvoll beim italienischen Regierungschef intervenieren.

Mittlerweile hat der Kardinal von Breslau0 wegen der zwangsweisen Trennung der Eheleute protestiert, die angesichts der Deportation des jüdischen Ehepartners naturgemäß im Zusammenhang mit der zweiten und dritten Kategorie stattfindet. Aus der Bittschrift und dem anhängenden Bericht lässt sich nicht ableiten, dass die dort zum Ausdruck gebrachten Befürchtungen hinsichtlich einer baldigen Anwendung der Rassenmaßnahmen zulasten der „Mischlinge“ ersten Grades gänzlich begründet sind.

Es handelt sich einerseits doch um eine sehr erhebliche Anzahl christlicher Juden (300000), die davon betroffen sein könnten, und andererseits sind diese zum Teil arischen Geschlechts. Sollte man in Anbetracht dessen vielleicht versuchen, über Pater Tacchi Venturi beim Chef der italienischen Regierung ein Wort einzulegen, damit dieser sich gegenüber der deutschen Regierung für sie einsetzt?

Allerdings darf man diesbezüglich, da er sich den Deportationen der Juden aus von italienischen Truppen besetztem französischem Gebiet und anderswo widersetzt hat, auch nicht außer Acht lassen, dass dies nicht gerade ein günstiger Augenblick für eine Bemühung des italienischen Regierungschefs im gewünschten Sinne wäre.

Anmerkung von Kardinal Maglione:
Zumindest vorerst kann man nichts machen. 10.4.43

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