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Chronik und Quellen
1943
April 1943

Schlechte Berufsperspektiven für „Mischlings“-Kinder

Der Schriftsteller Robert Brendel berichtet seiner Schwester Hilde am 3. April 1943 aus Hamburg über die schlechten beruflichen Perspektiven seiner Kinder aufgrund ihrer Herkunft:

Liebe Hilde,

seit Deiner lieben Karte, in der Du uns über Lieschen beruhigtest, haben wir auch direkt von ihr Nachricht erhalten und freuen uns, daß sie und Lieselotte wohlauf sind. Sind sie nun inzwischen bei Dir eingetroffen? Die Ruhe bei Euch auf dem Lande wird ihnen gewiß guttun. Aber man kommt doch nicht aus der Unruhe heraus. Jetzt sorgen wir uns wieder um Lene, die ja, wie Lieschen schreibt, nach Neapel zu Armin gefahren ist. Ein bekannter Flieger, der augenblicklich aus Italien hier ist, erzählte uns, daß Neapel sehr unter Fliegerangriffen zu leiden hätte, vor einiger Zeit, ich glaube vorige Woche, das Hauptmunitionsdepot in die Luft geflogen sei, was viel Opfer gekostet hätte. Hast Du etwas von Lene gehört? Wir schrieben ihr vor einiger Zeit noch nach Gevelsberg, aber haben keine Antwort erhalten. Solltest Du etwas hören, gib doch bitte gleich Nachricht. Ja, es ist eine böse Zeit. Auch um Gisela sind wir in der letzten Woche sehr besorgt gewesen, als die schweren Angriffe in Berlin waren. Gott sei Dank ist aber Potsdam, wo sie wohnt, bis jetzt verschont geblieben, und wir haben immer die gute und schnelle Möglichkeit, uns telefonisch sofort nach ihrem Wohlsein erkundigen zu können. Ich finde es überhaupt richtig, wenn wir alle uns für alle Fälle eine Telefonnummer geben, unter der wir im Notfall erreichbar sind. Meine Nummer habe ich oben am Briefkopf angegeben. Vielleicht gibst Du sie auch Lieschen, wenn sie noch bei Euch sein sollte, und Du schreibst mir gelegentlich auch eine bei Euch, in der Sparkasse oder bei einem Nachbarn, unter der ihr erreichbar seid. Denn es ist doch wirklich so, daß man heute beständig zwischen Leben und Tod schwebt.

Angesichts all dieser Dinge sind die persönlichen Unannehmlichkeiten, die man durchmachen muß, fast nebensächlich, so schmerzlich sie sich auch gerade auf unsere Kinder auswirken, die doch noch nicht zu der Resignation „gereift“ sind wie wir älteren Menschen. Das erlebten wir in der vorigen Woche, als es mit Irenes befohlenem Abgang von der Schule ernst wurde. Mit einem Zeugnis, das sieben Einsen in den wichtigsten Fächern: Deutsch, Geschichte, Mathematik, Englisch, Biologie, Chemie etc. und sonst lauter Zweien enthielt, dazu eine außergewöhnliche Charakteristik über ihre menschlichen und moralischen Eigenschaften, ihre hervorragend die Arbeit in der Klasse anregende Gemeinschaftsarbeit, mit einem solchen Zeugnis wird das Kind aus einer Gemeinschaft ausgestoßen, die sie ausdrücklich und ostentativ als zu sich gehörig anerkennt und gar nicht einsieht, wieso und warum das alles geschieht: Lehrer erbieten sich, ihr unentgeltlich weiter Privatunterricht zu geben, die Mitschülerinnen betonen nachdrücklicher als je ihre Freundschaft etc. Und Irene verließ die Schule wenigstens noch mit der Hoffnung, in einer Fremdsprachenschule, die sie nach den rechtlichen Bestimmungen im Herbst aufgenommen hatte, Weiterarbeiten zu können. Aber - da kommt von der Schule die kurze und bündige Nachricht, „es sei ihr von maßgebender Stelle nahegelegt worden, Halbarier nicht mehr zu Ostern aufzunehmen. Sie zögen darum die Aufnahme zurück.“ Was also bleibt übrig? Gar nichts! Kaufmännische Tätigkeit? Aber wie ist es damit? Einem jungen bekannten Halbarier, der in der Elektrobranche seine dreijährige Lehrlingszeit durchgemacht hat und seine Gesellenprüfung mit gut bestanden hat, wird vom Obermeister der Innung unter irgendeinem Vorwand seine Bescheinigung über die Lehrlingszeit und sein Gesellenzeugnis abgefordert, und nun behauptet man kurzweg, er habe das alles gar nicht gemacht, er sei lediglich als Aushilfskraft beschäftigt gewesen, und der Chef und alle anderen wagen angstschlotternd nicht, die Wahrheit zu sagen. Wir selbst nehmen diese Dinge mit verhältnismäßigem Gleichmut hin, denn wir wissen, die inneren Werte lassen sich durch solche Dinge nicht töten. Aber für die jungen Menschen ist es schlimm, nicht wegen der praktischen Folgen solcher Entrechtung, sondern wegen all der inneren Zerstörung an Glauben an Recht und Gerechtigkeit, die in ihnen angerichtet wird, ein Weltbild wird ihnen aufgezwungen, das den Menschen und die Motive seines Handelns in schwärzester Schwärze zeigt. Jedenfalls fordert es von uns, den Eltern, die äußerste und ernsteste Anstrengung, in unseren Kindern trotz der von ihnen gemachten üblen Erfahrungen den Glauben an das Gute lebendig zu erhalten, zu verhindern, daß sie nicht ebenso skrupellos werden aus Selbsterhaltungstrieb wie ihre Peiniger. Und eben diese fortgesetzte verantwortungsschwere Bemühung gibt uns Älteren die Kraft, alles das zu ertragen. Und es ist eine immer wieder erfahrene Freude für uns zu sehen und zu fühlen, wie das Gute dennoch stärker ist als das Brutale u. Ungerechte.

Sonst, liebe Hilde, habe ich diese ganze Woche mit einer fieberhaften Grippe im Bett gelegen und bin auch jetzt noch recht zerschlagen. Im übrigen warte ich auf meinen Arbeitseinsatz,-Habe in der vorigen Woche den Garten weiter zurechtgemacht und freue mich, daß die frisch gepflanzten Beerensträucher und das Buschobst schön kommen und dicke Knospentriebe haben. Auch meine Vortragsreihe über deutsche Literatur vom Barock bis Goethe habe ich nun abgeschlossen. Und so bin ich, da ich wegen des Arbeitseinsatzes nichts Neues anzufangen wage, augenblicklich etwas freier von Arbeit und lese viel. Einmal in der Woche arbeite ich noch mit Bettina und einer Freundin von ihr über griechische Literatur und Philosophie, Irene nimmt jetzt auch daran teil. Es macht uns viel Freude. Und nach Ostern werde ich Irene in Deutsch, Geschichte und Spanisch weiter unterrichten. Denn das Mädchen ist äußerst wißbegierig und arbeitslustig.

Damit, liebe Hilde, will ich schließen. Also gib uns, sobald Du etwas von Lene gehört hast, Nachricht. Grüße Rolf herzlich von uns. Und wenn die Essener noch da sind, bestelle auch ihnen viele schöne Grüße.

Hoffentlich geht es Euch allen gut. Das wünscht Dir herzlichst Dein
Bruder

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