„Ein Wort zur Zeit“
Am 31. März 1933 veröffentlicht das Gemeindeblatt der Synagogengemeinde Köln folgenden Artikel des Gemeinderabbiners Dr. Rosenthal:
In diesen Tagen, da die nationale Erhebung unser Vaterland durchbraust und am vorvergangenen Dienstag, zum Frühlingsanfang, ihren alle Schichten und Stände umfassenden feierlichsten Ausdruck gefunden hat, in diesen Tagen neuer Kraft und neuer Hoffnung fühlt sich die jüdische Religionsgemeinschaft Deutschlands zurückgestoßen, vereinsamt, verzagt. Die neue Zeit hat begonnen, das neue Deutsche Reich ist aufgerichtet - für uns Juden haben sie den Einzug gehalten mit Schmälerung unseres bürgerlichen Rechts, Verletzung unserer persönlichen Würde, Einengung unserer religiösen Freiheit. Während alle die anderen mit wehenden Standarten hinausziehen in die Weite, auf die von frohem Lärm durchtobten Gassen und Plätze, bleibt dem Juden nichts anderes übrig als die herbe Mahnung des Propheten: „Geh mein Volk, komm in deine Kammern, mach deine Türen hinter dir zu. Wart ab eine Weile, ob der Sturmbraus vorüberzieht.“
Wir wollen in diesen Stunden gewaltiger Geschehnisse nicht anklagen, und noch weniger wollen wir uns verteidigen — verteidigen dagegen, daß man glaubt, den deutschen Juden außerhalb des Begriffs des nationalen Geschehens stellen und die nationale Erhebung mit seiner Demütigung einleiten zu müssen. Aber wir wollen, was an uns geschieht, zu begreifen suchen, um es tragen zu können. Dazu müssen wir den Blick von außen nach innen kehren. „Mein Volk, komm in deine Kammern.“ In die Kammern deiner Gottes- und Familienhäuser. Werde wieder, fühle dich wieder als eine Gemeinde; als eine Glaubens- und Gottesgemeinde. Wenn du leidest, so wisse auch, für wen und um was du leidest. Du wirst zur Erkenntnis kommen, daß, was zu sein und was zu hüten dir aufgetragen ist, wert ist, immer aufs neue erkämpft, in Schmerzen erworben zu werden. Du wirst zur Erkenntnis kommen, in den stillen Kammern deines jüdischen Gedenkens, wie viel Tausende und aber Tausende deines Glaubens um ihres Glaubens willen gelitten und ihn damit erhöht, in duldender Heiligung des Gottesnamens ihrem Judentum die Ewigkeit errungen haben.
„Über wen Schmerzen kommen, der prüfe seine Taten.“ Das ist erst recht der Weg nach innen. Nicht zu einer Prüfung wegen der Anklagen der Welt. Die haben wir kommen und gehen sehen und wiederkommen im Wandel der Zeiten. Die gehören zum Rüstzeug der Menschheit, die je und je in Tagen der Not ihr Opferlamm gesucht und gefunden hat, den „Mann der Schmerzen, vertraut mit Leid, von Menschen gemieden", verwundet ob fremder Schuld und geschlagen ob der Sünde der Welt. Nein, zu prüfen haben wir unser Wollen und Tun in den Dingen zwischen uns und Gott, in unserem Verhältnis zur jüdischen Gemeinde. Wie stark oder schwach da unsere Bindung geworden ist, wie groß oder klein unsere Treue, wie freudig oder ungern unser Opfer. Wohl uns, bei aller Anfechtung, wenn wir in dieser Prüfung vor unserem Gewissen bestehen können. Wir wissen dann, wofür wir unser Los gezogen haben.
Und darum, ihr jüdischen Männer und Frauen, Jünglinge und Jungfrauen, steht fest und treu, wie zum Vaterland, so zur Glaubensgemeinschaft! Verlaßt sie nicht in den Stunden der Not! „Wenn Israel im Drange ist“, sagt ein altes Wort, „und es reißt sich einer von ihm los, dann kommen die beiden Engel, die dem Menschen beigegeben sind und weisen mit der Hand auf sein Haupt und rufen: ‚Der da hat sich losgesagt von der bedrückten Gemeinde, er soll ihre Aufrichtung nicht mehr schauen.‘ Geh mein Volk, komm in deine Kammern. Dort, in Erfüllung deiner Pflicht an irdischer und himmlischer Heimat, magst du warten, ob und wann der Sturmbraus vorüberzieht. Warten und harren auf Den, der das Geschick der Menschheit lenkt und fügt, steigen läßt und sinken nach Seinem Willen; von dem wir aber auch wissen und bekennen: „Siehe, Er schläft und schlummert nicht, der Hüter Israels.“