„Meldungen aus dem Reich“
Der Sicherheitsdienst der SS berichtet am 29. Januar 1942 Folgendes über das Thema „Die Auswirkung der Polizeiverordnung über die Kennzeichnung der Juden vom 1.9.1941“:
Nach nunmehr aus allen Teilen des Reiches (Berlin, Weimar, Darmstadt, Würzburg, Nürnberg, Frankfurt/M., Breslau, Oppeln, Bielefeld, Wiesbaden, Fürth, Bremen, Braunschweig, Augsburg, Schwerin, Halle, Königsberg, Dessau, Hamburg, Köln, Koblenz, Stettin, Kattowitz, Leipzig, Neustettin, Dresden, Karlsruhe, Linz, München) vorliegenden Meldungen hat sich der Erlaß der Verordnung über die Kennzeichnung der Juden in der Bevölkerung im allgemeinen günstig ausgewirkt. Es wird überall betont, daß diese Verordnung einem lange gehegten Wunsch weiter Bevölkerungskreise, besonders an Plätzen mit noch verhältnismäßig zahlreichen Juden, entsprochen habe.
Aus Meldungen ergibt sich allerdings auch übereinstimmend, daß die Sonderbehandlung der mit Deutschblütigen verheirateten Juden in der Bevölkerung Befremden und Unwillen hervorgerufen habe. Die in der Verordnung vorgesehenen Ausnahmen seien von Volksgenossen sogar vielfach als eine ''halbe Maßnahme'' kritisiert worden. Insbesondere hätte man überall die Feststellung machen können, daß in der Allgemeinheit eine radikale Lösung des Judenproblems mehr als jeder Kompromiß Verständnis findet und daß in weitesten Kreisen der Wunsch nach einer klaren äußeren Scheidung zwischen dem Judentum und den deutschen Volksgenossen besteht. Bezeichnend sei es, daß vielfach in der Kennzeichnungsverordnung nicht etwa eine abschließende Maßnahme, sondern erst ein Auftakt zu weiteren einschneidenden Verordnungen mit dem Ziel einer endgültigen Bereinigung der Judenfrage erblickt wird.
Gerade die Ausnahmebestimmungen der Kennzeichnungsverordnung seien einmal grundsätzlicher Art, zum anderen befaßten sie sich mit den praktischen Auswirkungen der Ausnahmebestimmungen.
So werde - wie es in den Meldungen heißt - die getroffene Regelung, wonach bestimmte Juden von der Kennzeichnungspflicht ausgenommen sind, insofern nicht verstanden, als dadurch die durch die Nürnberger Gesetze festgelegte Personengruppe der Juden und Mischlinge in zwei neue Gruppen geteilt würde. Damit sei die rassische Gesetzgebung aber noch komplizierter geworden als bisher.
Man müsse aufgrund der Kennzeichnungsverordnung nunmehr folgende Einteilung treffen:
I. Gekennzeichnet:
1. Volljuden (mit 4 oder 3 jüdischen Großelternteilen)
2. ''Halbjuden'', im mosaischen Glauben erzogene Mischlinge 1. Grades, sog. Geltungsjuden.
II. Nicht gekennzeichnet:
1. Volljuden in ''privilegierter Ehe'' (Mischehe )
A. männliche Volljuden bei Vorhandensein von ehelichen Abkömmlingen,
B. weibliche Volljuden
1. bei Vorhandensein von ehel. Abkömmlingen
2. während der Dauer einer kinderlosen Mischehe.
2. ''Halbjuden'', nicht mosaisch erzogene Mischlinge I. Grades
3. Mischlinge 2. Grades.
Wie in den Meldungen durchweg zum Ausdruck kommt, stehe eine solche Einteilung der jüdischen Personengruppe auf Grund der Kennzeichnungsverordnung im Widerspruch zu der bisherigen Rassegesetzgebung, die eine in Bezug auf die Rechtsstellung eingeteilte Stufenleiter vom Volljuden zum Arier aufgrund des jeweiligen Blutanteils kenne. Es sei nunmehr so, daß gewisse Volljuden nicht gekennzeichnet seien, während Mischlinge I. Grades mit einem 50%igen arischen Blutsanteil gekennzeichnet seien und somit eine mindere Rechtsstellung als jene Volljuden hätten.
Wenn dies auch vielleicht von geringerer Bedeutung sei, so könne jedoch die Tatsache nicht übersehen werden, daß auf diese Weise durch die Kennzeichnungsverordnung Gesichtspunkte in die Rassengesetzgebung hineingebracht worden seien, die keinerlei rassenpolitische Grundlage hätten.
Bisher sei nur an einer Stelle der Nürnberger Gesetze von den rassischen Gesichtspunkten abgewichen worden. Bei der Unterteilung der Gruppe der Halbjuden in die den Juden gleichgestellten ''Geltungsjuden'' und jüdischen Mischlingen I. Grades spielten Fragen wie die Zugehörigkeit zur mosaischen Religion, der Erziehung im jüdischen Sinne usw. eine Rolle. An dieser Stelle sei eine Abweichung von allein rassischen Erwägungen vielleicht noch vertretbar.
Unverständlich, so heißt es immer wieder in den Meldungen, sei jedoch vom Standpunkt einer konsequenten nationalsozialistischen Rassepolitik die Sonderbehandlung von Volljuden, die mit Ariern verheiratet sind. Die Volksgenossen wiesen stets darauf hin, daß die nationalsozialistische Schulung das Volk zu der Erkenntnis habe kommen lassen, daß die Judenfrage eine Rassefrage sei. Der Grundsatz ''Jud' bleibt Jud''' sei hier von ausschlaggebender Bedeutung. Die Ehe mit einem Arier habe daher - rassisch gesehen - genau so wenig Einfluß auf den jüdischen Teil wie z.B. die christliche Taufe. Sie könne daher auch nicht zur Grundlage einer Privilegierung bestimmter Juden genommen werden. Wenn die Begründung für die Ausnahme in der Kennzeichnung des jüdischen Ehepartners in Mischehen angeführt werde, so müsse darauf hingewiesen werden, daß die Artvergessenheit solcher Arier, die - wie es heißt - ''legalisierte Rassenschande '' trieben, eine Rücksichtnahme nicht verdiene. Im Gegenteil, so werde vielfach geäußert, müßten solche artvergessenen Arier ebenfalls gekennzeichnet werden. Seien aber die Ausnahmebestimmungen aus Achtung vor dem deutschen Blut im Mischling erlassen, so läge eine erhebliche Inkonsequenz vor, als der gleiche arische Blutsanteil auch in den gekennzeichneten ''Geltungsjuden'' vorhanden sei. Überhaupt könnten bei der Behandlung der Juden aufgrund der Rassegesetzgebung nur Wertmaßstäbe angelegt werden, die in der Person des jeweiligen Juden selbst begründet sind.
Aber selbst ohne diese Überlegungen beständen gegen die Ausnahmebestimmungen des § 3 der Polizeiverordnung insofern Bedenken, als ihre Fassung sehr weit sei und daher auch Möglichkeiten umfasse, denen jede sittliche oder moralische Voraussetzung fehle, wie folgendes Beispiel zeigt:
Ein Jude hat sich im Jahre 1915 mit einer Arierin verheiratet. Aus dieser Ehe ist 1916 ein Kind hervorgegangen. Bereits 1916 hat sich der Jude von der Arierin getrennt und nicht wieder geheiratet. Um die Arierin und das Kind hat sich der Jude seit seiner Trennung nicht mehr gekümmert. Dennoch braucht er den Judenstern nach § 3 Buchstabe a der VO nicht zu tragen, weil er einmal mit einer Arierin verheiratet war. Es kommt hier sogar noch hinzu, daß das Kind die Vaterschaft des Juden zu bestreiten versucht.
Was die praktischen Auswirkungen der Kennzeichnungsverordnung im Hinblick auf die Ausnahmebestimmungen des § 3 anbelangt, so sind nach den Meldungen Erfahrungen gemacht worden, die die Gefährlichkeit der Ausnahmebestimmungen aufzeigten. Das Ziel der Kennzeichnungsverordnung, dazu beizutragen, eine saubere Trennung zwischen Juden und Deutschblütigen und eine dementsprechende Behandlung in der Öffentlichkeit herbeizuführen, sei nur zum Teil erreicht worden. In gewisser Hinsicht könne man sogar von einer gegenteiligen Wirkung der Kennzeichnungsverordnung sprechen.
Während vor Inkrafttreten der Kennzeichnungsverordnung jeder Volksgenosse selbst darauf acht gegeben habe, nicht in Berührung oder Verkehr mit Juden zu kommen, und aufgrund des durch die jahrelange nationalsozialistische Schulung geweckten Rassebewußtseins sowie einer in diesem Zusammenhang gewonnenen Urteilsfähigkeit im allgemeinen eine erfolgreiche Abwehrstellung gegen das Judentum bezogen habe, habe nunmehr durch die Kenntlichmachung der Juden kraft Gesetzes des Staates selbst diesen Schutz des Volksgenossen erhöhen wolle. Da jetzt jeder darauf achte, ob jemand durch den gelben Stern gekennzeichnet und damit Jude ist, entgehe ihm umso eher der nicht gekennzeichnete Jude. Ferner habe die Kennzeichnung als Jude dem nicht gekennzeichneten Teil der Judenschaft erhebliche Vorteile verschafft. Rechtlich habe sich zwar die Stellung dieser Juden nicht geändert, doch maßten sich die nicht gekennzeichneten Juden heute bereits wieder Rechte an, die ihnen nicht zuständen, jedoch in Unkenntnis der wahren Sachlage erreichbar wären.
Nach den Meldungen kommt es nicht selten vor, daß sich die nicht gekennzeichneten Juden besonders herausfordernd benähmen und sich manchmal sogar als Arier bezeichneten. Weiter sei festzustellen, daß sich diese Juden in zunehmenden Maße bereits wieder in das deutsche Kulturleben einschlichen und Theater, Kinos, Kaffeehäuser usw. besuchten. Auch als Hamsterer von Mangelwaren hätten sich die nicht gekennzeichneten Juden in vielen Fällen betätigt. Eine nicht zu unterschätzende Gefahr sei auch darin zu erblicken, daß dem nicht gekennzeichneten Juden die Tarnung leicht gemacht sei, daß er sich dadurch unauffällig unter deutsche Volksgenossen mischen und dadurch nicht für jüdische Ohren bestimmte Dinge erfahren könne. Als Nachrichtenübermittler innerhalb der Judenschaft seien solche Vertreter der jüdischen Rasse auf jeden Fall gut geeignet. Schließlich seien auch Anzeichen dafür vorhanden, daß die nicht gekennzeichneten Juden ihre Sonderstellung ausnützten und für die gekennzeichneten Juden Besorgungen erledigen.
Nach einigen Meldungen habe die Nichtkennzeichnung bestimmter Juden bei einer Anzahl von Volksgenossen sogar zu der Folgerung geführt, daß ein Verkehr mit solchen Juden gestattet sei. In nicht wenigen Fällen habe man diese Juden den Ariern gleichgesetzt aus dem Rückschluß heraus, daß Juden ja gekennzeichnet seien. Auch sei es böswilligen Deutschblütigen nunmehr leicht gemacht, ungestört mit Juden zu verkehren. Schließlich müsse noch auf die große Gefahr der erhöhten Rassenschande hingewiesen werden. In Kreisen besonders der Parteigenossenschaft seien die Ausnahmebestimmungen deshalb häufig auch ''Privilegierung der Rassenschande'' genannt worden.
Schwierigkeiten seien auch insofern entstanden, als die Tatsache, daß ein Jude von der Kennzeichnung ausgenommen ist, nicht ohne weiteres nachkontrollierbar ist, da die Kennkarte des Juden noch keinen entsprechenden Vermerk enthält. Von der Kennzeichnungspflicht nicht ausgenommene Juden könnten sich daher, wenn man sie auf der Straße wegen Nichttragens des Judensterns anhalte, darauf berufen, jener privilegierten Gruppe von Juden anzugehören. Daß sich infolge mangelnder Kontrollmöglichkeiten Juden verschiedentlich der Kennzeichnungspflicht entzögen, sei durch erfaßte Äußerungen aus jüdischen Kreisen bekannt.
In der großen Zahl der vorliegenden Meldungen kommt übereinstimmend zum Ausdruck, daß die bisher getroffenen Maßnahmen nicht als endgültig angesehen würden. Insbesondere wird allgemein erwartet, daß sämtliche Sonderbestimmungen zugunsten der Juden und der jüdischen Mischlinge und der mit ersteren ehelich verbundenen Arier baldmöglichst aufgehoben werden. Auch sei zu wünschen, daß die jüdischen Wohnungen eine entsprechende Kennzeichnung erhielten. Am meisten würde jedoch eine baldige Abschiebung aller Juden aus Deutschland begrüßt werden.