SD-Bericht aus Hannover
Im Januar (?) 1939 erstattet der SD-Oberschnitt Nord-West (II 112) seinen „Bericht für 1938“:
Der Rückgang der Auswanderung gegen Ende des Jahres 1938 kennzeichnet die Lage des Judentums zu Beginn der Berichtszeit. Die Lage in Palästina war ungeklärt, die ausländischen Staaten verschärften ihre Einwanderungsbestimmungen, wesentliche Einschränkungen waren dem Judentum in Deutschland im Jahre 1937 nicht gemacht worden und so herrschte die Meinung vor, daß die nationalsozialistische Revolution in Bezug auf die Juden beendet sei und ihre weitere Existenz in Deutschland nicht bedroht wäre.
Aber gleich zu Beginn des neuen Jahres, im Januar, wurde der Glaube an die Sicherheit ihrer Existenz durch die Ausschaltung der jüdischen Ärzte aus dem Verband der Angestellten-Krankenkassen und die Herabsetzung bezw. Entziehung der Kontingente erschüttert.
Vor dem Anschluß Östreichs [sic] entwickelten die Juden eine außerordentliche Geschäftigkeit und Betriebsamkeit. Sie kamen häufiger zusammen und besuchten sich gegenseitig. Ihre Hoffnung war ja schließlich die ganzen Jahre, daß eine außenpolitische Verwicklung dem nationalsozialistischen Staate ein Ende bereiten würde; und dies schien jetzt zu geschehen.
Nach dem vollzogenen Anschluß standen sie jedoch auch diesem Ereignis wohlwollend gegenüber, denn sich versprachen sich davon eine glänzende Geschäftsbelebung und eine Verstärkung des jüdischen Einflusses. Sie mußten aber bald einsehen, daß durch die Politik des Reiches in Östreich garnicht [sic] an eine Verstärkung des jüdischen Einflusses im Reich gedacht werden konnte, ja, daß sie nicht einmal Geschäfte mit Östreich tätigen konnten. Dazu kam noch, daß die östreichischen jüdischen Organisationen finanziell vollständig heruntergewirtschaftet waren.
Am 28.3.1938 folgte das Gesetz über die Rechtsverhältnisse der jüdischen Kultusvereinigungen , das diesen Verbänden die Stellung einer Körperschaft öffentlichen Rechtes nahm und sie zu rechtsfähigen Vereinen bürgerlichen Rechtes erklärte.
Auf wirtschaftlichem Gebiete verteidigten die Juden zu Beginn des Jahres ihre Stellung mit zäher Beharrlichkeit und einigem Erfolg. Zwar war gegen die staatlichen Maßnahmen kein direkter Widerstand möglich, aber die erlassenen Bestimmungen wurden durch Tarnungs- und Täuschungsmanöver umgangen. Am häufigsten wurde der Weg der Arisierung jüdischer Geschäfte unter Vorschieben von Strohmännern gewählt.
Eine fühlbare Erschütterung der jüdischen Wirtschaft brachte die Kenntlichmachung jüdischer Geschäfte in Schleswig-Holstein, Bremen und Hannover, sowie der Ausschluß der Juden aus der Börse.
Eine zu der selben Zeit in Wien anläßlich der Eingliederung der Ostmark ins Reich von Generalfeldmarschall Göring gehaltene Rede, in der er betonte, daß mit nationalsozialistischer Gründlichkeit und in Kürze die bisher in Östreich erdrückende wirtschaftliche Vormachtstellung der Juden beseitigt würde, wirkte auch auf die Juden im hiesigen Gebiet. Bezeichnend war, dafür das Manöver eines Kieler jüdischen Geschäftes, das versuchte, durch Preisherabsetzungen um etwa 75% seine Waren möglichst schnell abzusetzen. Das sofortige Einschreiten der Industrie- und Handelskammer bewahrte die arischen Lieferanten vor größeren Verlusten.
Die stärksten Positionen im Wirtschaftsleben blieben die Konfektionsbranche, der Produktenhandel und das ambulante Gewerbe. Gerade in den beiden letztgenannten Berufen gelang den Juden die Tarnung am besten, da sie bei dem verhältnismäßig unaufgeklärten Landvolk ihren Absatzmarkt hatten. Die Schleswig-Holsteinischen und Friesischen Viehmärkte waren nach außen hin zwar judenrein, aber zu Beginn des Jahres 1938 übten doch noch etwa 150 jüdische Viehhändler ihren Beruf aus.
Leicht gemacht wurden den Juden auch ihre Tarnungsversuche durch die unverständliche Haltung arischer Firmen und Händler. Diesen Versuchen setzte die Verordnung gegen die Tarnung vom 22.4.1938 ein Ende, der dann am 26.4.1938 die Verordnung über die Anmeldung jüdischen Vermögens folgte.
Schon vor der Verordnung über die jüdischen Vermögen rechnete man mit Maßnahmen der Regierung, um die jüdische Wirtschaft und damit das Judentum in Deutschland zu vernichten. Hatten die Juden bisher noch eine abwartende Haltung der Auswanderung gegenüber eingenommen, beschlossen die vermögenden Juden, jetzt schnellstens auszuwandern. Die Anzahl der Arisierungsanträge nahm zu und die Auswandererzahlen stiegen.
Die im Frühjahr 1938 wieder verstärkt einsetzende Aufklärungsarbeit der Bewegung hatte ihren Höhepunkt in der Rede des Reichsministers Dr. Goebbels zur Sommersonnenwende. Diese Rede war eine scharfe Einweisung der Juden in ihre Schranken, über die sie infolge der bisherigen Großzügigkeit und Nachsicht des Volkes mit anmaßender Frechheit hinausgegangen waren.
Eine erste Auswirkung dieser zentral geleiteten Aufklärungs- und Propagandaarbeit sind die im Juni 1938 vom Reichsinnenministerium herausgegebenen Richtlinien über den Besuch jüdischer Kurgäste in Bädern und Kurorten . Diese Maßnahmen machten sich sofort zahlreiche Kurorte und Bäder zu Nutze und erließen ein Aufenthaltsverbot für Juden im größtmöglichen Maßstab. Ihr Auftreten in den Bädern der Nord- und Ostsee, in den Kurorten des Harzes und der Lüneburger Heide hatte dauernd zu unliebsamen Zwischenfällen und Beschwerden Anlaß gegeben. Noch in der Sommersaison verstanden die Juden, sich von ihren Stammpensionen durch erhebliche Mehrzahlung aufnehmen zu lassen. Dieses Vorgehen wurde erleichtert durch die materialistische Auffassung einzelner Verkehrsvereine und nach wie vor judenfreundlicher Pensionsinhaber. Das darauf behördlicherseits erlassene völlige Aufenthaltsverbot brachte dann die gewünschte Klarheit. Die obenerwähnte Aufklärungsarbeit wurde seitens der Partei besonders in Schleswig-Holstein zielbewußt weitergeführt und trat besonders durch die Aufführung des Films ''Juden ohne Maske'' in Erscheinung. Durch die Gaufilmstelle wurde dieser Film in etwa 800 Dörfern ohne eigene Lichtspielhäuser aufgeführt.
Ein weiterer harter Schlag gegen die Juden erfolgte im Spätsommer, als auf Grund einer Verordnung vom 6.7.1938 alle Wandergewerbescheine und Legitimationskarten eingezogen wurden. Die hier anfänglich unternommenen Umgehungsversuche waren erfolglos. Man sah ein, daß gegen diese Maßnahmen nicht anzukommen war und der einzig mögliche Weg noch die Auswanderung war.
Dem im Januar 1938 erfolgten Ausschlusses der jüdischen Ärzte aus dem Verband der Angestellten-Krankenkassen, folgte die Aufhebung der Bestallungen jüdischer Ärzte mit Wirkung vom 30.9.1938.
Wie in der Zeit vor dem Anschluß Östreichs, gab die politische Hochspannung vor der Eingliederung des Sudetenlandes den Juden die Möglichkeit, sich freier zu bewegen. Das Augenmerk des Volkes war auf die Entwicklung der politischen Lage gerichtet, und so hatten sie die beste Gelegenheit, ungezwungener und offener aufzutreten. Fest steht, daß sich die Juden in der Spannungszeit vermehrt gegenseitig besuchten, wobei es angeregte Unterhaltungen bis tief in die Nacht hinein gab. Ob irgendwelche Informationen von außen Gegenstand der Diskussionen war, läßt sich nur vermuten. Vor allen Dingen nutzten sie die Gerüchtemacherei und die Angstpsychose der intellektuellen Gegner aus. Für den Fall eines Krieges herrschte Angst vor dem Konzentrationslager , sowie auch die knappere Zuteilung von Lebensmitteln vor. Über den eventuellen Ausgang eines Krieges wurde seitens der Juden keine Meinung geäußert, woraus zu schließen wäre, daß mit einer Niederlage gerechnet, mindestens aber darauf gehofft wurde. Nach den Münchener Besprechungen ergingen sich die Juden in Vermutungen über eine Intervention Englands und Frankreichs zugunsten der deutschen Juden, die sich aber durch die nachfolgenden Ereignisse als gegenstandslos erwiesen.
Auf Grund der Verordnung der polnischen Regierung über die Einführung eines Paß-Prüfungsvermerkes für im Ausland lebende Polen, wurde von der Reichsregierung die Abschiebung von Juden polnischer Staatsangehörigkeit angeordnet, da damit gerechnet werden mußte, daß den Juden kein Paß-Prüfungsvermerk erteilt würde und die polnischen Juden damit staatenlos geworden wären.
Die Abschiebung von etwa 1.300 polnischen Juden wurde von der Bevölkerung fast nicht bemerkt. Unter den Juden löste sie jedoch Unsicherheit und Hilfslosigkeit aus, die besonders durch die Überraschung und die Schnelligkeit der Aktion hervorgerufen wurde.
Durch Verordnung vom 14.10.1938 wurden mit Wirkung vom 1.11.1938 die Bestallungen der jüdischen Rechtsanwälte aufgehoben und nur eine geringe Anzahl von ihnen wurde als Rechtskonsulenten bei den Gerichten zugelassen.
Nachdem bereits am 8.11.1938 verschiedentlich Einzelaktionen gegen Juden und jüdische Geschäfte stattfanden, setzte die Judenaktion in der Nacht vom 9. auf den 10.11.1938 einheitlich ein. Die Aktion wurde von der SA und SS durchgeführt.
Anschließend an die Zerstörung jüdischer Geschäfte und der Büroräume jüdischer Organisationen wurden die Synagogen entweder demoliert, in Brand gesteckt oder gesprengt. Plünderungen wurden nur aus Bremen, Hannover und einigen kleineren Orten bekannt.
In der Nacht vom 9.11. bis zum Morgen des 11.11.1938 wurden von der Staatspolizei und dem SD die Verhaftungen durchgeführt. Es wurden annähernd 3.200 Juden festgenommen. Während der Aktion und an den Folgen hierbei erlittener Verletzungen starben 21 Juden.
Die Aufnahme der Protestaktion in der Bevölkerung war sehr unterschiedlich. Während mit der Demolierung der Synagoge sämtliche Volksgenossen, mit Ausnahme kirchlicher Kreise , einverstanden waren, fand die Zerstörung der Geschäfte und Privatwohnungen starke Ablehnung.
Bürgerliche Kreise operierten meistens mit Redewendungen wie ''die armen Juden'', ''sie sind doch schließlich auch Menschen'', usw., demgegenüber große Teile der Arbeiterschaft nur von dem angerichteten Schaden sprachen. Verschiedentlich zeigte sich sogar, daß auch Parteigenossen die Art der Durchführung der Aktion ablehnten.
Die Berichterstattung der Presse über den Einfluß der Juden in der deutschen Geschichte, Politik und Wirtschaft, die nach der Aktion einsetzte, hat das Verständnis der Bevölkerung für einen rücksichtslosen Kampf gegen das Judentum geweckt.
Die Gesetze und Verordnungen wie, die Zahlung der Kontribution, des Verbot, nach dem 1.1.1938 noch Betriebsführer zu sein, die Aufhebung jüdischer Handwerksbetriebe, das Verbot des Besitzes von Waffen, die Entziehung der Führerscheine, das Verbot des Besuch deutscher Schulen und Hochschulen, des Besuchs von Theater-, Film und sonstigen künstlerischen Veranstaltungen sind Maßnahmen des Staates, die den Anschluß den Juden aus dem gesamten Wirtschafts- und Kulturleben zum Ende des Jahres 1938 zur Folge hatten.
Die wirtschaftliche Lage der Juden und jüdischen Organisationen ist katastrophal.
Die jüdischen Hilfsorganisationen sind nicht in der Lage, die Zahl der hilfsbedürftigen Juden auch nur annähernd zu betreuen. Die vermögenden Juden sind gleich im Anschluß an die Judenaktion ausgewandert, so daß auch von dort keine Unterstützung zu erhalten ist.
In Schleswig-Holstein z.B. ging die Fürsorgebehörde aus anfänglichen Einzelfällen heraus mehr und mehr dazu über, den immer zahlreicher werdenden Anträgen der Juden auf Wohlfahrtsunterstützung nach eingehender Prüfung stattzugeben.
Lediglich in Hamburg wurde eine derart katastrophale Lage verhindert, da nach Maßgabe und Genehmigung der Staatspolizeistelle bei der jüdischen Gemeinde ein Sonderfonds für auswandernde arme Juden gebildet wurde.
Infolge der überstürzten Abreise von Juden nach der Aktion wurde die Zahlung der Gemeindesteuern unterlassen und es bestand die Gefahr, daß die Hilfsorganisationen illiquid wurden.
Es wird deshalb vor der Erteilung eines Passes an die Juden, gleich welcher Religion, ein Unbedenklichkeitszeugnis der jüdischen Gemeinde verlangt, das diese wiederum nur aushändigt, wenn etwa noch rückständige Steuern bezahlt sind.
Die jüdische Gemeinde zieht von allen auswandernden Juden, die reichsfluchtsteuerpflichtig sind, eine Sonderabgabe zur Förderung der Auswanderung unbemittelter Juden in Höhe von 20% der Reichsfluchtsteuer ab.
Bei der Bemessung der Höhe dieser Abgabe wurde ein reichsfluchtsteuerpflichtiges Vermögen von 200 Millionen RM zugrundegelegt, so daß im Laufe der Zeit 8-10 Millionen RM in diesen Sonderfonds fließen werden.
Mit diesem Beitrag ist die Auswanderung sämtlicher mittelloser Juden des Bereiches Hamburg gesichert.
In der Zeit vom 4.12.-31.12.1938 flossen in diesem Sonderfonds RM 430.000 zu. In der gleichen Zeit wurden an 54 Familien mit rd. 170 Köpfen Auswanderungsbeihilfen in Höhe von etwa RM 20.000 gezahlt. Ohne diese Beihilfen, die jeweils RM 300-400 betrugen, hätten diese Familien vorerst gar nicht auswandern können.
Das jüdische Stiftungsvermögen und das Eigenvermögen des jüdischen Religionsverbandes Hamburg sind sichergestellt. Im Einvernehmen mit der Sozialverwaltung der Stadt Hamburg sollen dem jüdischen Religionsverband alle jüdischen Wohlfahrtseinrichtungen , wie Stifte und Altersheime unterstellt werden, wie überhaupt das gesamte jüdische Fürsorgewesen vom Religionsverband übernommen werden soll. Die Kosten können aus den verbleibenden Mitteln des vorerwähnten Sonderfonds bestritten werden. Für die Finanzierung der Auswanderung und Fürsorge können die jüdischen Mittel als ausreichend angesehen werden.
Von obiger Regelung wurden die übrigen Unterabschnitte in Kenntnis gesetzt und angewiesen, die Einführung dieses Sonderfonds bis zu einer zentralen Regelung des Reiches bei den zuständigen Staatspolizeistellen anzuregen.
In den ersten Monaten des Jahres versuchten die Zionisten durch Vorträge eine Intensivierung der Auswanderung nach Palästina zu erzielen. Das Versagen der Konferenz in Evian und des zwischenstaatlichen Komitees in London, die Araberunruhen und endlich die Herabsetzung der Einwanderungsquote für Palästina um 50%, ließen die Auswanderung nach Palästina im Sommerhalbjahr wieder ziemlich zurückgehen. Aufnahmewillig blieben lediglich die USA, die Mittel- und Südamerikanischen Staaten.
Die gesetzlichen Maßnahmen während des Sommers ließen die Auswanderungsziffern so ansteigen, daß am Ende des III. Quartals die Zahl der Auswanderer bereits um das doppelte höher war, als die Gesamtzahl des Jahres 1937. Bemerkenswert ist die Zunahme der Auswanderung nach Ostasien, insbesondere Schanghai.
Infolge der Judenaktion stellte sich eine totale Stockung der Auswanderung ein, da sämtliche vermögende Juden in Haft saßen. Nachdem diejenigen, denen eine sofortige Auswanderung möglich war, entlassen wurden, nahm die Abreise im November gegenüber den Vormonaten um das doppelte zu, während sie sich im Dezember sogar verdreifachte. Bis Ende des Jahres wurden etwa 2/3 der Verhafteten zum Zwecke der Auswanderung verhaftet.
Die Vereinstätigkeit der Juden war wesentlich geringer als im Vorjahre. Lediglich in Hannover fanden zu Anfang des Jahres die Veranstaltungen der Zionisten und des Kulturbundes einige Beachtung.
Die Zionisten beschäftigen sich mit Auswanderungspropaganda. Diese jedoch hatte keinen Erfolg, da durch die Araberunruhen und die Herabsetzung der Einwanderungsquoten um 50% keine Lust und Möglichkeit bestand, nach Palästina auszuwandern.
Im Herbst wurde das zionistische Umschulungslager bei Flensburg auf Grund skandalöser Zustände aufgelöst.
In Hamburg versuchte die Staatszionistische Organisation Mitglieder zu werben. Trotz gut besuchter Veranstaltungen mit Besucherzahlen bis zu 200 Personen gelang es ihr nicht, festen Fuß zu fassen. Bei ihrer Auflösung im August hatte sie 25 Mitglieder.
Im Herbst löste sich der Kulturbund, Ortsverband Osnabrück auf; der Ortsverband Hannover wurde auf Anordnung des Ministeriums für Volksaufklärung und Propaganda mit Wirkung vom 31.12.1938 aufgelöst.
Von den assimilatorischen Verbänden betätigte sich der CV mit der Rechts- und Wirtschaftsberatung, während die anderen Vereine die Auswanderung nach den USA, Mittel- und Südamerika und den Dominions propagierte.
Die jüdischen Verbände wurden durch die Aktion zerschlagen. Es arbeiten lediglich die jüdischen Gemeinden und die Hilfsorganisationen.
Bis zum endgültigen Entscheid über die jüdischen Verbände wurde dem früheren Syndikus der Hamburger jüdischen Gemeinde Dr. Plaut , die vorläufige Leitung der noch bestehenden Organisationen übertragen.
Die jüdische Winterhilfe in Hamburg betreut bis jetzt etwa 3.000 Personen, deren Zahl aber noch auf etwa 5.000 anwachsen wird. Ihre Unterstützung aus jüdischen Mitteln kann als gesichert angesehen werden.
Der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten setzte sich intensiv für eine Auswanderung ein. Schon im Jahre 1937 wurden Gruppensiedlungen für jüdische Landarbeit geschaffen. Veranstaltungen, Sprach- und Schweißkurse sollten die Grundlagen für eine spätere Auswanderung bilden. Diese Kurse sollten aber vor allem dazu dienen, den Kindern der Bundesangehörigen die Auswanderung zu erleichtern. Die Mitglieder des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten selbst hofften, daß für sie noch Sonderregelungen getroffen würden.
Der Führer der Agudas Jisroel , Ortsverband Hannover, der Jude Storch, setzte sich in mehreren Versammlungen für eine Überseewanderung ein, da Palästina nicht alle Juden fassen könne. Bemerkenswert war die Erkenntnis, daß nach seiner Auffassung die Juden nicht assimilieren dürften, sondern in Gruppensiedlungen orthodox leben müßten, denn, so führte er wörtlich aus: ''Je mehr Juden in ein fremdes Land einwandern und dort versuchen sich anzugleichen, desto größer wird in diesem Land der Antisemitismus.''
Am 30.4.1938 fand in Hannover eine Versammlung der jüdischen Mischlinge im Hause des CVJM statt. Der Redner, dessen Name nicht ermittelt werden konnte, sprach über die Stellung der Mischlinge zu Partei und Staat. Ferner erwähnte er, daß alle Mischlinge in einer Organisation zusammengeschlossen würden, die eine Denkschrift an den Führer richten wolle, in welcher die Zurücksetzung der Mischlinge im Dritten Reich behandelt werden solle.
Für katholische Nichtarier besteht in Hamburg der St. Raphaelsverein. Auf der Verwaltungssitzung im August in Passau wurde die Fürsorgerförderung für auswandernde katholische Nichtarier beschlossen. Eine Zweigstelle dieses Vereins soll in Wien errichtet werden. Gute Beziehungen bestehen zu England, Holland, Nord- und Südamerika und besonders zu New York. Anläßlich der hundertjährigen Geburtstagsfeier des Gründers dieses Vereins sprach der Bischof Dr. Berning.
Die Beziehungen zwischen dem Judentum und den Kirchen treten nach der Judenaktion klar zu Tage. Wenn auch eine vorsichtige Stimmenthaltung vorherrschte, so waren doch die Äußerungen einiger Pastoren recht aufschlußreich. So wurde am Sonnabend nach der Judenaktion in der Jesuitenkapelle in Hannover von den Leiden des Auserwählten Volkes gesprochen. Ein evangelischer Pastor forderte seine Kinder im Konfirmandenunterricht auf, für die Juden zu beten; er könne niemanden konfirmieren, der die Juden hasse. Pastor Reinhard, Hamburg sprach von Zuständen, schlimmer als in Rußland. Freiherr von Hodenberg, Celle, schrieb an den Landesbischof Marahrens, angesichts dieser Ausschreitungen solle die Kirche am Bußtag mahnend ihre Stimme erheben.
Der ''Kulturring'' in Hannover, der als Sammelbecken der gegnerischen Kreise bekannt war, hatte noch bis März jüdische Mitglieder. Auf Ersuchen der Staatspolizei wurden diese aus dem Verein entfernt.
Weiterhin wurde festgestellt, daß der in Göttingen bestehenden ''Gesellschaft der Wissenschaften'' noch eine große Anzahl von Juden und Judenstämmlingen, meist als korrespondierende Mitglieder aus dem Auslande, angehören. Der Rektor der Universität Göttingen hat sich mit dem Reichserziehungsministerium in Verbindung gesetzt.
Verfahren wegen Vergehens gegen die Devisenordnung und die Verordnung gegen die Tarnung wurden des öfteren anhängig gemacht. Eine Nachprüfung der Arisierungen durch die Gauwirtschaftsberatungen war bereits in Angriff genommen, mußte aber wegen der Judenaktion wieder zurückgestellt werden. Im Zusammenhang mit den Arisierungen wurde noch bekannt, daß bei den in letzter Zeit durchgeführten Arisierungen in Hameln, ausschließlich Personen, die der römisch-katholischen Kirche angehören, Käufer ehemals jüdischen Geschäfte waren. Eine ähnliche Beobachtung wurde in Hamburg gemacht, die aber durch Zahlen noch nicht belegt werden kann.
Die Stellung des Auslandes zu der deutschen Judengesetzgebung war während des ganzen Jahres eindeutig ablehnend. Ganz wenige Auslandszeitungen gaben sich die Mühe, die Judengesetze einmal objektiv zu betrachten. Besondere Ablehnung der Maßnahmen war in Holland und Dänemark zu spüren, die nach der Judenaktion zu einer Greuelhetze und im neuen Jahr sogar schon zu zwei Attentatsversuchen führte.
Auf Grund der Judenaktion wurden in Holland das Fußballspiel mit Deutschland abgesagt, am 1.12. Hetzfilme gegen Deutschland gezeigt und am 3.12. eine Straßensammlung zugunsten aus Deutschland geflüchteter Juden veranstaltet. Allein in Amsterdam wurden von 15 Personen 80.000 fl gestiftet.
Durch verstärkten Grenzschutz versuchte die holländische Regierung einen Übertritt von Juden aus Deutschland über die ''grüne Grenze'' zu verhindern.
Ein wirksames Aufklärungsmittel für die Volksgenossen waren die Berichte über die Rassenschandeprozesse. Die außerordentliche Frechheit der Juden wurde den meisten erst klar, als in einer Woche (9.-16.7.1938) sechs Juden wegen Rassenschande in Haft genommen und gegen zwölf weitere Strafverfahren eingeleitet wurden.
Als ein Mangel wird immer wieder empfunden, daß das Gesetz keine Handhabe bietet, die Frau zu bestrafen. Nachdem das Gesetz nun über drei Jahre in Kraft sei, könne eine genügende Aufklärung der Frau als gegeben gelten und damit wäre die Bestrafung dann als selbstverständliche Folge anzusehen.
Ein interessantes Urteil fällte das Schöffengericht Lüneburg. Eine Jüdin hatte sich wegen versuchter Abtreibung zu verantworten. Die Jüdin wurde freigesprochen, da sich das Gericht auf den Standpunkt stellte, daß der § 218 StGB nach der heute gültigen Rechtsauslegung eine Schutzbestimmung für den Nachwuchs des Deutschen Volkes sei. Es sei deshalb unmöglich, diese Bestimmung auf eine Frau anzuwenden, die der Deutschen Blutsgemeinschaft nicht nur nicht angehöre, sondern sogar Volljüdin sei.
Das Urteil wurde von der Oberstaatsanwaltschaft angefochten. Ob die Oberstaatsanwaltschaft durch die Entscheidung eines höheren Gerichtes einen Präzedenzfall schaffen will, oder ob die Urteilsbegründung angefochten wird konnte noch nicht ermittelt werden.
Der Führer des SA-Sturmes 1/77, Celle, SA-Obertruppführer Frisius leistete dem Befehl zur Teilnahme an der Judenaktion keine Folge. SA-Truppführer Blanke, Adjutant SA II/77, Celle, erklärte nach der Erklärung des Reichsministers Dr. Goebbels , die Aktion sei nicht organisiert gewesen, seinen Austritt aus der SA.
Gegen beide SA-Angehörigen wurde von der Obersten SA-Führung ein Verfahren eingeleitet.
Anzahl der jüdischen Auswanderer im Jahr 1938 im Unterabschnitt […]
Auswanderung 1937 = 1.434.
Auswanderung 1938 = 5.060
Durch Auswanderung ist die jüdische Bevölkerung im Jahre 1938 um rd. 22%, also mehr als ein Fünftel, zurückgegangen.