Berichte aus Minden
Nach dem 10. November 1938 berichtet der Landrat des Kreises Minden zur „Judenaktion“:
Zu den Fragen 1-10 und 12-13 Fehlanzeige.1
Zu Frage 11: Der festgenommene Jude Siegfried Meier aus Rehme hatte 305,64 RM Bargeld in Besitz. Dieser Betrag ist ihm angenommen [sic]. Er wird beim Amte Rehme verwahrt.
Zu Frage 14: Abfällige Äußerungen über die Aktion sind nicht bekannt geworden. Von den Einwohnern, auch von denen, die den nationalsozialistischen Staat bejahen, wird jedoch allgemein die Vernichtung der Warenvorräte, insbesondere der Bekleidungsstücke, für unzweckmäßig gehalten. Zweckmäßigerweise hätten diese der NSV zugewiesen werden sollen.
Am 18. November ergänzt er zu einigen Fragen:
Zu Frage 13.: Der festgenommene Jude Viehhändler Siegfried Seelig hat für Hinterbliebene nicht zu sorgen.
Zu Frage 14: Zerstörungen sind nicht vorgenommen worden. Abfällige Äußerungen sind nicht gefallen.
Am 24. November 1938 berichtet er schließlich zur „Aktion gegen Juden“:
Als Anlage überreiche ich Abschrift meines der Geheimen Staatspolizei - Staatspolizeistelle - Bielefeld eingereichten Berichts vom 18.11.1938 über die Aktion gegen die Juden am 9. und 10.11.1938.
Ergänzend berichte ich, daß die Aktion das erforderliche Verständnis in weiten Kreisen der Bevölkerung nicht überall gefunden hat. M.E. liegt dies fast ausschließlich in dem völligen Nichtverstehen der gesamten Judenfrage . Es fehlt die tiefe Erkenntnis für das Judentum als Parasitentum. Die Bevölkerung ist vielfach noch der Ansicht, insbesondere durch die Einstellung der Kirche , daß das Judentum ein uns gleichwertiges, wenn nicht gar das ''auserwählte'' Volk sei. Nur eine gründliche anhaltende Aufklärung kann hier Wandel schaffen. Nicht zuletzt nehmen auch die Kreise eine ablehnende Haltung ein, die mit den Juden in Geschäfts- oder sonstigen Verbindungen stehen, oder früher gestanden haben. Durch diese Aktion ist bewiesen, daß gewisse Leute mit Juden in Verbindung stehen, von denen eine solche Handlungsweise nicht erwartet wurde. Leider hat sich gezeigt, daß vielfach Intellektuelle dem Judentum zuneigen, und zwar dieselben Kreise, die 1933 gegen die NSDAP standen.
Von der Stadt Minden wird zu den Ereignissen am 18. November 1938 folgender Bericht erstattet:
1. In Minden ist die Synagoge bis auf die Umfassungsmauern niedergebrannt. Das Innere der Synagoge ist durch den Brand vernichtet. Die Höhe des entstandenen Schadens steht noch nicht fest. Der Einheitswert für Grundstück und Gebäude beträgt nach Auskunft beim Finanzamt Minden 15.500,- RM.
2. Es sind folgende Geschäfte oder gewerbliche Räume zerstört oder beschädigt worden:
1. Einheitspreisgeschäft des Juden Alfred Pfingst, geb. am 16.4.1889 zu Rischofsburg, hier, Bäckerstraße 74/76. Es wurden 15 Schaufenster zertrümmert. Außerdem wurden die Ladeneinrichtung, wie Verkaufstische, Spiegelglas und dergl. sowie die Warenbestände beschädigt oder zum Teil zerstört.
Die zertrümmerten Schaufenster haben einen Wert von etwa 3.000,- RM. Die Schadenshöhe für die Beschädigung des Ladens und der Waren steht noch nicht fest. Sie wurde von der Ehefrau des Pfingst auf 30-40.000,00 RM geschätzt.
2. Schuhhaus Adolf Levy, geboren am 17.8.1870 zu Minden, hier Bäckerstraße Nr. 3 wohnhaft. Es sind 2 Schaufensterscheiben, 2 Oberlichtfenster und 2 Türscheiben zertrümmert. Im Laden sind 2 Dekorationsständer zertrümmert und einige Schuhwaren beschädigt. Die Scheiben haben einen Wert von etwa 400,- RM. Die Schadenshöhe für die Ständer und die Schuhe gibt Levy auf etwa 70 RM an.
3. Polsterer und Dekorateur Isidor Simon, geboren am 26.2.1878 zu Minden, hier Obermarktstr. 9 wohnhaft. Es wurde eine Schaufensterscheibe zertrümmert. Außerdem im Schaufenster 1 Sessel und 1 Liegesofa beschädigt (Bezüge zerrissen).
Der Schaden der Schaufensterscheibe beziffert sich auf 300 RM. Die Beschädigung der Sachen beläuft sich auf etwa 15 RM.
4. Althändler Leopold Werberg, geb. am 24.10.1891 zu Minden, hier, Ritterstraße 27 wohnhaft. Es wurden 2 Schaufensterscheiben zertrümmert. Ferner wurde die Ladeneinrichtung durch Zerschlagen usw. zerstört. Die Scheiben haben einen Wert von etwa 400 RM, die Ladeneinrichtung wird von der Frau des Werberg auf 200 RM geschätzt.
5. Rechtsanwalt Dr. Eugen Leeser, geb. am 17.3.1883 zu Dülmen i.W., hier, Kampstraße 27 wohnhaft. Es wurden 2 Doppelfenster zertrümmert und mehrere Gegenstände im Büro zerschlagen. Der Schaden für die Doppelfenster wird auf etwa 180 RM und für das Büro auf etwa 300 RM geschätzt.
6. Friseur Max Simon, geboren am 23.9.1880 zu Minden, hier, Kampstraße 34 wohnhaft. Es wurde eine Schaufensterscheibe, 2 Türscheiben und 8 Fensterscheiben zertrümmert. Außerdem wurde die Friseurladeneinrichtung, wie Spiegel, Frisiertische, Friseurartikel und Puppen zerstört.
Der Wert der Fenster beträgt etwa 300 RM. Die Höhe des Schadens für die Ladeneinrichtung wird auf etwa 500 RM angegeben. Hauseigentümer: Johanne Seller (arisch) geb. 10.1.85 zu Minden, hier, Schenkendorfstr. 4.
7. Althändler Hirsch Ingberg, geboren am 2.12.1871 zu Warschau, hier, Kampstraße 32 wohnhaft (polnischer Jude). Es wurden zertrümmert 3 Schaufensterscheiben und 2 Wohnungsfenster, ferner die Ladeneinrichtung. Die Schadenshöhe für die Fenster beträgt etwa 80 RM. Für die Ladeneinrichtung wird sie auf 450 RM angegeben.
8. Fahrrad- und Maschinenhändler Wilhelm Nolting, geb. am 15.9.1877 zu Veltheim, hier, Viktoriastr. 2 wohnhaft. Es wurde ein Schaufenster mit Oberlicht zertrümmert. Die Höhe des Schadens beträgt etwa 400 RM.
Nolting ist Arier . Er hat diesen Laden an den Juden Spira (staatlos) vermietet.
3. Bei der Firma Alfred Pfingst, geboren am 16.4.1889 zu Bischofsburg, hier, Bäckerstraße 74/76, sind 39 Angestellte und Arbeiter und bei der Firma Adolf Levy geboren am 17.8.1870 zu Minden, hier Bäckerstr. 3 wohnhaft, sind 3 Angestellte arbeitslos geworden. Nach Rücksprache mit der DAF ist die größte Anzahl der Angestellten bereits anderweitig untergebracht worden. Der Rest wird in den nächsten Tagen anderweitig Arbeit finden.
4. Für Fortführung oder Arisierung der jüdischen Geschäfte ist in keinem Falle gesorgt worden. Der Kaufmann Alfred Pfingst, geboren am 16.4.1889 zu Bischofsburg, hier Bäckerstraße 74/76 wohnhaft, hat selbst Auftrag und Vollmacht an den Bücherrevisor Ludwig Köllmann, geboren am 28.10.1894, hier, Lichtenbergstr. 16 wohnhaft, gegeben, alle Handlungen vorzunehmen, um sein Geschäft abzuwickeln. Der darüber dem Köllmann ausgestellte polizeiliche Ausweis wurde zurückgezogen.
5. Viehhändler Walter Simon, geboren am 19.5.1892 zu Minden, hier Stiftsallee Nr. 6 wohnhaft. Es wurden an der Wohnung 5 Fensterscheiben, 2 kleine Haustürscheiben und ein Fensterrahmen zertrümmert. Ferner wurden die Gardinen von den Fenstern gerissen und draußen verbrannt. Der Schaden wird auf etwa 52 RM angegeben.
Geschwister Katz, Inh. Dora Katz, geboren am 24.8.80 zu Minden, hier Brüderstr. 27 wohnhaft. Es wurden 2 Doppelfenster und 2 kleinere Fenster zertrümmert. Schadenshöhe etwa 100 RM.
Gerätehaus der jüdischen Sportgruppe ''Hellmania'' an der Bleichstraße. Es wurden die Scheiben eines kleinen Fensters zertrümmert. Schadenshöhe etwa 6 RM.
6. Rabbiner i.R. Julius Hellmann, geb. am 13.3.1882 zu Antenhausen, hier, Bäckerstr. 74 wohnhaft. Es wurde die Wohnungseinrichtung zum Teil zertrümmert. Frau Hellmann verweigert darüber die Höhe der Schadensangabe und Auskunft über den Umfang der Beschädigung.
7. Ums Leben gekommen ist von den Juden niemand. Verletzt durch Mißhandlung wurde der Jude Alfred Pfingst, geboren am 16.4.1889 zu Bischofsburg, hier, Bäckerstr. 74/76 wohnhaft. Pfingst hat einige Kopfverletzungen leichterer Art erhalten. Der Täter konnte nicht festgestellt werden (unbekannt).
8. Polsterer Isidor Simon, geboren am 26.2.1878 zu Minden, hier, Obermarktstr. 9 wohnhaft. Es wurden 3 oder 4 Decken aus dem Schaufenster entwendet. Wert 10-15 RM.
Althändler Hirsch Ingberg, geb. am 2.12.1871 zu Warschau, hier, Kampstraße 32 wohnhaft. Es sind angeblich 10 Paar Arbeitsschuhe im Werte von 80 RM entwendet.
Geräteschuppen der jüd. Sportgruppe ''Hellmania'' an der Bleichstraße. Die Sportgeräte, wie Fußbälle, Diskusse, Stoppuhr, 1 Bandmaß, 1 Startpistole und 1 Speer wurden aus dem Geräteschuppen herausgeholt und auf der Straße weggeworfen. Die Gegenstände wurden bei der Polizei abgegeben. Es fehlen angeblich 1 Diskus und 1 Verbandskasten mit Inhalt.
Weitere Diebstähle sind bisher nicht bekannt geworden. Die Täter sind unbekannt.
9. In der Wohnung des Rechtsanwalts Leeser, Eugen, geboren am 17.3.1883 zu Dülmen i.W., hier, Kampstra. 27, wurde eine Mauserpistole Kal. 7,65 mit 2 Magazinen und 6 Schuß und ein Säbel sichergestellt.
In der Wohnung des Juden Sally Strauß, geboren am 22.10.92 zu Dützen Krs. Minden, hier, Stiftsallee Nr. 67 wohnhaft, wurde eine Selbstladepistole, ausländisches Fabrikat, Kal. 7,65 mit 8 Schuß sichergestellt.
In der Wohnung des Apothekers Ernst Lindemeyer, geboren am 18.6. 1884 zu Petershagen, hier, Markt Nr. 8 wohnhaft, wurde ein alter Kürassiersäbel sichergestellt. Die Waffen wurden freiwillig herausgegeben. Die Juden führten sie nicht bei sich.
10. In der Wohnung des Vorsitzenden der Synagogengemeinde , des Juden Albert Müller, geboren am 26.3.1869 zu Großrüden, hier, Wilhelmstraße 18 wohnhaft, wurde das Archivmaterial der Synagoge in einem Schrank versiegelt und vorläufig in der Wohnung des Müller belassen. Bei dem Archivmaterial handelt es sich um Akten, Briefe pp. aus den letzten 15 Jahren.
11. - - - -
12. Die Synagoge samt Inventar mit dem dahinterliegenden Gemeindehaus ist versichert bei der Westf. Prov. Feuersozietät in Münster mit 80.000,- RM. Das Gemeindehaus ist nicht beschädigt worden. Von dem Vorsitzenden der Synagogengemeinde Albert Müller, geb. am 26.3.1869 zu Großrüden, hier, Wilhelmstr. 18 wohnhaft, ist der Brand der Synagoge bei der Versicherung gemeldet worden. Versicherungsansprüche in einer bestimmten Höhe sind bisher nicht gestellt worden. (Müller schätzt die Schadenshöhe der abgebrannten Synagoge mit Inventar auf etwa 60.000 RM).
Geschäft für Einheitspreise von Alfred Pfingst, geb. 16.4.1889 zu Bischofsburg, hier, Bäckerstr. 74/76:
Pfingst hat bei verschiedenen Versicherungen Versicherungen abgeschlossen. Siehe Anlage über die einzelnen Versicherungen. Versicherungsansprüche bei einzelnen Gesellschaften sind noch nicht gestellt worden.
Schuhhaus Adolf Levy, geb. am 17.8.1870 zu Minden, hier Bäckerstraße Nr. 3 wohnhaft. Levy hat die zertrümmerten Schaufenster bei der Berliner Glasschutzversicherung, Berlin-Schöneberg in Höhe des Wertes der zertrümmerten Scheiben versichert. Er hat Versicherungsansprüche in dieser Höhe bei der Versicherung angemeldet.
Polsterer Isidor Simon, geb. am 26.2.1878 zu Minden, hier, Obermarktstr. 9 wohnhaft. Das Schaufenster ist versichert bei der Frankfurter Versicherung, in welcher Höhe, konnte nicht angegeben werden. Versicherungsanspruch ist noch nicht gestellt.
Althändler Leopold Werberg, geb. am 24.10.91 zu Minden, hier, Ritterstraße 27 wohnhaft. Weerberg ist versichert bei dem Allianz- und Stuttgarter Verein, Filialdirektion Hannover. Die Höhe der Versicherung konnte nicht festgestellt werden. Versicherungsansprüche sind noch nicht gestellt.
Rechtsanwalt Dr. Eugen Leeser, geb. am 17.3.1883 zu Dülmen i.W., hier, Kampstraße 27 wohnhaft. Die Versicherung, bei der Leeser versichert hat, sowie die Höhe der Versicherung konnte nicht angegeben werden. Versicherungsansprüche sind noch nicht gestellt.
Friseur Max Simon, geboren am 23.9.1880 zu Minden, hier, Kampstraße 34 wohnhaft. Versichert bei dem Allianz- und Stuttgarter Verein Berlin. Versicherungsansprüche sind von Simon noch nicht gestellt. Die Hauseigentümerin Johanna Seller, geboren am 10.1.1885 zu Minden, hier Schenkendorferstr. 4 wohnhaft, ist ebenfalls bei dem Allianz- u. Stuttgarter Verein versichert, in welcher Höhe, konnte noch nicht festgestellt werden. Frl. Seller hat der Versicherung den Schaden gemeldet. Eine Schadenssumme ist von ihr nicht angegeben worden.
Althändler Hirsch Ingberg, geb. am 2.12.1871 zu Warschau, hier, Kampstraße 32 wohnhaft. Ingberg ist versichert bei der Albingia in Hamburg. Versicherungsansprüche sind noch nicht gestellt.
Geschwister Dora Katz, geboren am 24.8.1880 zu Minden, hier, Brüderstraße 27 wohnhaft. Die Geschädigten sind z.Zt. von Minden abwesend. Ob und bei wem und in welcher Höhe versichert, konnte noch nicht festgestellt werden.
13. Eine Notlage der Familienangehörigen der festgenommenen Juden ist im Ortspolizeibezirk Minden bisher nicht festgestellt worden.
14. Die Aktion wurde in der Bevölkerung vielfach mit ausdrücklichem Beifall aufgenommen. Andererseits wurde am Vormittag des 10. November auf dem Wochenmarkt und an anderen Stellen hier und da besondere Zurückhaltung im Gespräch geübt.