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Chronik und Quellen
1938
November 1938

Pogrom in Bad Kissingen

Am 10. November 1938 berichtet die Kriminalpolizei Bad Kissingen über die lokale „Aktion gegen die Juden“:

Am 10. Nov. 1938, früh gegen 2 Uhr, wurde gegen die in Bad Kissingen wohnhaften Juden von unbekannter Seite eine Aktion durchgeführt.

Dabei wurden u.a. die Synagoge und die Autohalle der Gebr. Holländer-Stern in Brand gesetzt. Das Feuer wurde zuerst bei Holländer-Stern beobachtet. Die Autohalle, die aus Holz bestand, wurde sofort ein Raub der Flammen, desgleichen brannten auch die dort hinterstellt gewesenen und dem Holländer-Stern gehörigen 2 Mietkraftwagen vollkommen aus.

Die Feuerlöschpolizei, die sofort von der Polizeiwache aus, nach Bekanntwerden des Brandes, alarmiert wurde, mußte sich in der Hauptsache auf den Schutz der Nebengebäude beschränken.

Die Inneneinrichtung der Synagoge ist zum größten Teil ausgebrannt. Das Gebäude an sich erlitt anscheinend keinen größeren Schaden. Ein solcher ist auch von außen nicht wahrnehmbar. Es sind lediglich die zersprungenen Fensterscheiben zu sehen. Auch in diesem Falle ist ein Schaden durch die Sicherheitsmaßnahmen der Feuerlöschpolizei bei den angrenzenden Gebäudeteilen nicht entstanden.

Gegen 4 Uhr früh war der Brand in der Synagoge, sowie am Autoschuppen restlos gelöscht.

Etwa um die gleiche Zeit wurden bei sämtlichen jüdischen Einwohnern die Schaufensterscheiben und ein großer Teil der Wohnungsfenster eingeschlagen. Zu Gewalttätigkeiten bei Personen und Plünderungen ist es in keinem Fall gekommen. Irgendwelche Demonstrationen haben nicht stattgefunden. Jedoch haben sich vor den Judenhäusern Ansammlungen gebildet, wobei sich die Teilnehmer in Schmährufen gegen die Juden ergingen. Um evt. Übergriffe bezw. Ausschreitungen der erregten Menge vorzubeugen, sah sich der Herr Stadtkommissar Dr. Conrath veranlaßt, einen großen Teil der Juden zu ihrer persönlichen Sicherheit in Schutzhaft zu nehmen.

Die Beweggründe, die die erregte Menge zu dieser Handlungsweise veranlaßten, sind auf den Mord des Gesandtschaftsrates vom Rath durch den Juden Grynszpan in Paris zurückzuführen.

Am 10.Nov. 1938, in der Zeit von 3-5 Uhr früh, wurden in das hiesige Amtsgerichtsgefängnis zur Inschutzhaftnahme folgende Juden eingeliefert:

[Es folgen 29 Namen.]

Bei dem Bezirksrabbiner Dr. Max Ephraim, Maxstraße 10 in Bad Kissingen wohnhaft, der seine Wohnung in der Schule des Synagogengebäudes inne hat, wurde in der gleichen Nacht früh gegen 5 Uhr eine Durchsuchung vorgenommen, da bei ihm der Verdacht nahe lag, daß er im Besitze von Auslandskorrespondenz ist. Ephraim macht zur Zeit eine Auslandsreise und ist zu Informationszwecken unterwegs. Verdächtiges Schriftenmaterial wurde bei ihm nicht vorgefunden. Seine Frau war im Besitze eines Geldbetrages von 167 RM, der angeblich aus Sammlungen von Winterhilfsgeldern und Botenbeträgen von ihren Rassegenossen herrührt. Der Betrag wurde vorläufig sichergestellt und wird hier verwahrt.

 

Am 11. November 1938 fügte die Kriminalpolizei unter dem Betreff „Vergrabungen im Judenfriedhof hier“ Folgendes hinzu:

In der Nacht vom 9./10.Nov. 1938 mußten, wegen allgemeiner Empörung der Bevölkerung, die der Mordanschlag gegen den Gesandtschaftsrat vom Rath in Paris auslöste, eine Anzahl hiesiger Juden aus Gründen ihrer persönlichen Sicherheit in Schutzhaft genommen werden.

Beim Vollzug dieser Maßnahme wurde bekannt, daß im hiesigen Judenfriedhof vor einiger Zeit verschiedenes, belastendes Material vergraben worden sei.

Es wurde daher am 10. Nov. 1938, im Laufe des Nachmittags unter Zuziehung von 6 Juden an einer bezeichneten Stelle im Judenfriedhof gegraben. Dabei wurden aus einem etwa 2 m tiefen Schacht, circa 30 Säcke, die mit jüdischen Schriften, Büchern, Gebetsrollen usw. gefüllt waren, zu Tage gefördert.

Das gesamte Material, das noch gesichtet werden muß, wurde vorläufig in den Luftschutzkeller des Kreishauses gebracht.

Bei dem Gang der Schutzhäftlinge vom Amtsgerichtsgefängnis zum Judenfriedhof, während der Grabung dort und auf ihrem Rückweg, hat sich die Bevölkerung Bad Kissingens in nicht mißzuverstehenden Äußerungen gegen das Judentum ausgesprochen.

Nach den Angaben des Synagogendieners, Hugo Albert, verh. Schneidermeister (arisch ), wurden die betr. Gegenstände am Freitag, den 4.11.38 mit Hilfe der Juden Neustädter, Schloß, Adler und Heymann verscharrt. Die Grube selbst hat Albert am 1. u. 2. Nov. 38 im Auftrag des Juden Bretzfelder ausgehoben, der die Angelegenheit vorher mit dem Rabbiner Dr. Ephraim u. Neustädter besprochen hatte. Es handelt sich bei den fraglichen Utensilien um solche, die von dem Juden Sanibert Holländer mittels seines Kraftwagens, aus den einzelnen Judengemeinden im Bezirk herbeigeholt wurden.

 

Am 4. November 1938 folgte folgende Mitteilung:

Aufgrund des Befehls des Chefs der Sicherheitspolizei, Rundschreiben der Gestapo Würzburg vom 11.11.38, wird im Nachgange zu der bereits erfolgten fernmündlichen Mitteilung noch berichtet:

1) Im Laufe der Aktion wurden in Bad Kissingen folgende Geschäfte zerstört:

Neumann Karl, Ludwigstraße 4,     Schaden ca. 1.000 RM
Müller Leopold, untere Marktstr. 9, '' '' 1.000 RM
Gebr. Liebmann,'' '' 11,'' '' 1.500 RM
Adler Hirsch, Theresienstr. 1,'' ''     500 RM
Baumblatt Hermann, Badgasse 4, '' ''     200 RM
Apolant Emma, Menzelstr. 8,         '' '' 1.000 RM
Seelig Geschwister, v.d. Thannstr. 8,           '' ''20.000 RM
Isr. Kinderheilstätte, Salinenstr. 34,'' ''20.000 RM
Isr. Kurhospiz, Altenberg 2,             '' '' 1.000 RM
Holländer-Stern, Maxstr. 23a,       '' '' 2.500 RM
Regensburger Kurt, A. Hitlerstr. 12,           '' ''     600 RM
Losmann Benn, Hemmerichstr. 33,             '' ''     300 RM
Stern Thekla, Hemmerichstr. 29, '' ''       200 RM
Grünbaum Sophie, Grabengasse 9,             '' ''       10 RM
Kugelmann Felix, Maxstr. 1,         '' ''     500 RM
Münz Philipp, Theresienstr. 7,     '' ''     500 RM

   schätzungsw. Gesamtschaden      55.000 RM

2) Der ziffermäßig geschätzte Gesamtschaden ist 55.000 RM

3) Fälle, bei denen bereits bei den Versicherungsgesellschaften Schäden gemeldet sind, sind nicht bekannt.

4) Die Zahl der durch die Zerstörung jüdischer Geschäfte erwerbslos gewordenen Angestellten und Arbeiter beträgt 21.

5) Die Anzahl der im Zuge der Aktion festgenommenen Juden betrug 28, davon 27 männliche und 1 weibliche, unter 18 Jahren 1. Die weibliche Jüdin wurde noch im Laufe des 11.11.38 entlassen.

6) Von den 27 männlichen Juden waren 14 lagerfähig, diese wurden noch im Laufe des 12.11.38 von der Gestapo Würzburg abgeholt.

Noch am gleichen Tage 12.11.38, wurden weitere 8 Juden wegen Gebrechlichkeit und hohen Alters aus der Schutzhaft entlassen, sodaß sich z.Zt. noch 5 Juden, die wegen Krankheit und infolge ihrer Kriegsbeschädigungen nicht lagerfähig sind, in Schutzhaft befinden.

 

Parallel dazu berichtete das Bezirksamt Bad Kissingen am 11. November 1938 über „Strafbare Handlungen der Juden“:

1. In der Nacht vom 9. auf 10.11. ist die Kraftwageneinstellhallt der Gebrüder Holländer-Stern in der Maxstraße mit den darin befindlichen 2 Kraftwagen niedergebrannt. Bei der noch in der Nacht stattgefundenen Ortsbesichtigung habe ich den Eindruck gewonnen, daß diese Halle nicht den bestehenden Vorschriften entsprach, denn der eine Wagen scheint zu lang gewesen zu sein und stand daher mit seinem rückwärtigen Teil im Freien. Es scheint sonach unmöglich gewesen zu sein, die Halle abzuschließen. Auch scheint die Halle nach Art des Materials nicht entsprochen [sic] zu haben. Dieser Zustand war in so unverantwortlicher, als unmittelbar nebenan sich die Öl- und Benzinlager der Tankstelle Treubig befinden, ferner ein Wohnhaus mit Kolonialwarenhandlung.

Selbst, wenn der Brand von fremden Personen absichtlich gelegt worden sein sollte, was sich kaum nachweisen läßt, trifft die Eigentümer der Vorwurf, daß sie gegen die Vorschriften über die Errichtung von Kraftwageneinstellhallen verstoßen und durch Unterlassung der vorgeschriebenen Sicherungsmaßnahmen sich der fahrlässigen Brandstiftung schuldig gemacht haben

2. Von einem der bei der Festnahme der Juden beteiligten SA -Männer wurde erzählt, daß ein Jude bei einer jüdischen Witwe im Bette liegend vorgefunden worden sei und daß im gleichen Zimmer die 12jährige Tochter dieser Witwe im Bette gelegen sei. Hiernach besteht begründeter Verdacht auf Vorliegen eines Sittlichkeitsverbrechens.

Gegen die beteiligten Juden wollen sofort nach Feststellung des Sachverhalts Strafanzeige erstattet und über das Ergebnis anher berichtet werden.

 

Am 30. November 1938 ergänzte das Bezirksamt in seinem Monatsbericht:

Die nach den September-Ereignissen eingetretene politische Ruhe und Entspannung ist in den Gemeinden des Amtsbezirks, in denen noch Juden wohnen, am Anfang dieses Monats infolge der gegen die Juden durchgeführten Zerstörungsaktionen dadurch etwas gestört worden, als ein Teil der Bevölkerung mit der Art der Gegenmaßnahmen wegen der Ermordung des Gesandtschaftsrates vom Rath nicht ganz einverstanden war. Diese Leute vertraten den Standpunkt, daß durch die Inhaftnahme der Juden, Schließung ihrer Geschäfte und Auferlegung der Buße von 1 Milliarde Reichsmark das Judentum genug gestraft gewesen wäre. Sie meinten ferner, die Vernichtung der Sachwerte würde sich nicht mit den Anforderungen, die zur Erfüllung des Vierjahresplanes an das Volk gestellt werden, vereinbaren lassen, denn auch das in jüdischem Besitz befindliche Gut sei Volksvermögen. Diese Mißbilligung machte sich dann auch in gewissen staatsabträglichen Äußerungen Luft, so daß mehrere Anzeigen wegen Vergehens gegen das Heimtückegesetz die Folge war. In Bad Kissingen, Maßbach, Poppenlauer und Steinach wurden bei Juden Fensterscheiben, Schaufenster, Innen- und Wohnungseinrichtungen zertrümmert, 2 Autos verbrannt und die Inneneinrichtungen der Synagogen zerstört bezw. ausgebrannt. Die männlichen Juden wurden in Bad Kissingen noch in der Nacht vom 9. auf 10.11.38, die vom Bezirk in den darauffolgenden Tagen, soweit sie für haftfähig gehalten werden konnten, in Schutzhaft genommen. Insgesamt waren im Amtsgerichtsgefängnis Bad Kissingen 37 Juden haftiert, von denen 24 infolge Krankheit und hohen Alters wieder entlassen werden mußten. Die übrigen 13 befinden sich nun im Konzentrationslager.

 

Die Gendarmerie Bad Kissingen schließlich teilte am 24. November 1938 mit:

Die allgemeine politische Lage hat seit der letzten Berichtszeit keine Änderung erfahren. Die aus Anlaß der Ermordung des Legationsrates vom Rat [sic] durchgeführte Aktion gegen die Juden hat bei einem Teil der Bevölkerung Zustimmung und beim anderen Teil Mißbilligung hervorgerufen. Während der größte Teil die Aktion als notwendig für die Lösung der Judenfrage betrachtet, mißbilligte es der andere Teil, daß größeres Volksgut durch die Aktion vernichtet wurde. Diese Leute waren der Ansicht, daß durch die Inhaftnahme der Juden, Schließung ihrer Geschäfte und Auferlegung einer möglichst hohen Kontribution das Judentum genügend gestraft worden wäre.

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