Das SD-Hauptamt berichtet
Im November 1938 erstattet das SD-Hauptamt (II 112) in Berlin folgenden „Lagebericht“ über den Oktober 1938:
Judentum
Die allgemeine Lage stand im Monat Oktober unter dem Eindruck des Münchener Abkommens. Hatte die Judenschaft im September noch auf eine Besserung ihrer Lage im Konfliktfalle gerechnet, die nach vielfach von jüdischer Seite geäußerter Ansicht nur mit einer Niederlage Deutschlands enden könnte, so bewirkte der friedliche Abschluß der tschechischen Frage eine starke Resignation. Diese zeigte sich hauptsächlich in einer sonst unbekannten Versammlungsstille und einer besonders starken Uninteressiertheit bei den Veranstaltungen des Kulturbundes . Hinzu kam, daß auf Grund des Überfalls auf eine deutsche Reisegesellschaft in Antwerpen für sämtliche jüdischen Organisationen in Berlin ein vierwöchentliches Betätigungsverbot erlassen wurde. Die Festlichkeiten aus Anlaß der beiden jüdischen Feiertage, des Versöhnungsfestes am 5.10. und des Laubhüttenfestes in der Zeit vom 10. bis 16.10., wurden in aller Stille begangen.
Die bereits im Vormonat gemeldete Selbstauflösung kleinerer jüdischer Vereine und Gemeinden nahm ihren Fortgang. Zur Eröffnung des jüdischen Winterhilfswerkes erließ die Reichsvertretung der Juden in Deutschland einen Aufruf, in dem sie zu einem noch größeren Einsatz als im Vorjahre aufforderte. In der aus diesem Anlaß veranstalteten Eröffnungsfeierlichkeit betonte Direktor Heinrich Stahl als der Leiter der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, daß die seelische Betreuung notleidender Juden neben der materiellen Befriedigung immer mehr in den Vordergrund treten müsse.
Die zunehmende Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage der Juden hatte weiter stark ansteigende Arisierung und Liquidierung jüdischer Geschäfte zur Folge.
Die zunehmende antijüdische Einstellung der Bevölkerung, die hauptsächlich durch das provozierende und freche Auftreten einzelner Juden während der außenpolitischen Krisenzeit hervorgerufen wurde, fand ihren stärksten Ausdruck in Aktionen gegen die jüdische Bevölkerung, die im Süden und Südwesten des Reiches teilweise pogromartigen Charakter annahmen. Dabei wurden in zahlreichen Städten und Ortschaften die Synagogen zerstört oder in Brand gesteckt und die Fenster jüdischer Geschäfte und Wohnungen zerschlagen. Im Gau Franken und in Württemberg wurden die Juden einzelner Ortschaften z.T. durch die Bevölkerung gezwungen, ihren Wohnsitz sofort unter Mitnahme des Nötigsten zu verlassen. Diese von den Ortsgruppen oder Kreisleitern angeregten und von den Gliederungen der Partei durchgeführten Aktionen hatten zumeist rein örtlichen Charakter. Dabei konnte festgestellt werden, daß die katholische Bevölkerung zumeist die Art des Vorgehens mißbilligte.
Eine weitere erhebliche Beunruhigung der jüdischen Bevölkerung brachte der durch eine Anordnung des polnischen Ministeriums des Innern bezüglich der Erneuerung der im Ausland ausgegebenen Konsularpässe notwendig gewordene, auf 2 Tage bis zum 29.10., 24h, begrenzte Ausweisungsbefehl der Geheimen Staatspolizei für sämtliche Juden polnischer Staatsangehörigkeit. Von diesem Erlaß wurden etwa 75.000 Juden betroffen. Mit Sonderzügen und Omnibussen wurden die Juden an die Grenze gebracht. Da die technische Abwicklung in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit nur in beschränktem Maße erfolgen konnte, mußten zahlreiche Juden von den örtlichen Polizeidienststellen in Haft genommen werden. Auf Intervention der polnischen Regierung wurden die in Haft genommenen polnischen Juden wieder entlassen und die noch nicht über die Grenze abgeschobenen Juden in ihre Wohnorte zurücktransportiert. Zur endgültigen Regelung der Frage traten die Vertretungen beider Regierungen in Verhandlungen ein.
Das Verhältnis der Juden gegenüber dem deutschen Volke wurde durch eine Reihe neuer Gesetze bzw. durch neue Ausführungsbestimmungen zu geltenden Gesetzen weiter abgegrenzt. So waren alle Personen deutscher Staatsangehörigkeit sowie Staatenlose, die im Sinne des § 5 der 1. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 14. November 1935 als Juden gelten, gehalten, bis zum 31.12.38 die Ausstellung einer Kennkarte zu beantragen.
Bei der Bestellung von Personen zu Vormunden, Pflegern, Helfern oder Beiständen müssen zukünftig auf Grund eines Erlasses des Reichsministers des Innern die Grundsätze der Rassengesetzgebung berücksichtigt werden. Demnach kommen Juden, jüdische Mischlinge ersten Grades oder mit einem Juden Verheiratete für die Bestellung zum Vormund eines Deutschblütigen oder jüdischen Mischlings zweiten Grades nicht mehr in Betracht. Ebenso kommen Deutschblütige oder jüdische Mischlinge ersten Grades nur dann in Betracht, wenn hierfür besondere Gründe vorliegen.
Die bezüglich der Beteiligung von Juden an Luftschutzübungen bestehenden Zweifelsfragen wurden nunmehr durch Erlaß des Reichsministers der Luftfahrt entschieden. Wenn Deutschblütige und Juden in einem Hause zusammenwohnen, soll bei der Heranziehung zur Luftschutzdienstpflicht nach folgenden Gesichtspunkten verfahren werden: Befinden sich die Juden in einer Hausgemeinschaft in der Minderzahl, so sind sie nicht zur Durchführung des Selbstschutzes heranzuziehen; befinden sie sich aber in der Überzahl, so sind nur Juden zur Durchführung des Selbstschutzes heranzuziehen. Luftschutzwart kann ein Jude jedoch niemals sein.
Die am 14.10.38 veröffentlichte 5. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 27.9.38 bestimmt das Ausscheiden jüdischer Rechtsanwälte aus der Anwaltschaft bis zum 30. November. Im alten Reichsgebiet werden hiervon 1.753 jüdische Rechtsanwälte betroffen werden. Da in Wien am 1. Januar 1938 1.750 jüdische Anwälte noch 1450 deutschblütigen Anwälten gegenüberstanden, ist für die Ostmark eine Sonderregelung getroffen worden. Die Verordnung erstreckt sich auch auf die Ausschaltung der jüdischen Patentanwälte; im alten Reichsgebiet werden etwa 55 betroffen, in der Ostmark handelt es sich um etwa die gleiche Anzahl.
Eine allgemeine Übersicht über die Höhe der jüdischen Auswanderung aus dem alten Reichsgebiet gibt der Tätigkeitsbericht des ''Hilfsvereins der Juden in Deutschland'' für die Zeit vom 1.1. bis 30.9.38. Es geht daraus hervor, daß in dieser Zeit 5.187 Personen mit finanzieller Unterstützung zur Auswanderung gebracht werden konnten. Die Zahl der nichtunterstützten Auswanderer wird für die gleiche Zeit auf das Doppelte, also auf ungefähr 13-14.000 geschätzt. Das bedeutet eine Gesamtauswanderung aus dem alten Reichsgebiet von etwa 19.000 Juden.
Die Auswanderung der Juden aus Deutschland wurde dadurch weiterhin erschwert, daß wieder eine Anzahl Länder im Berichtsmonat eine vollständige oder teilweise Einreisesperre erlassen hat. Dazu gehören u.a. folgende Staaten:
USA Mexiko
Zentralamerik.Republ. Kuba
Trinidad Kolumbien
Equador Argentinien
BrasilienUruguay
Venezuela Paraguay
Bolivien Südafrikanische Union
Portugies. Ost- und Westafrika Ägypten
Belgisch Kongo Lyberia [sic!]
Australien
Soweit diese Länder nicht eine völlige Grenzsperre für Juden erlassen haben, haben sie die sog. ''Vorzeigegelder'' derart erhöht, daß die Einwanderung nur noch für besonders vermögende Juden in Betracht kommt. [...]
Danzig :
Während der kritischen Tage verhielt sich die Danziger Judenschaft verhältnismäßig ruhig.
In der Arbeit der jüdischen Organisation ist gegenüber dem Vorjahr ein bedeutender Rückgang eingetreten. Besonders die Arbeit der Zionistischen Organisation wurde durch die unklare Lage in Palästina beeinträchtigt. Im großen und ganzen macht sich eine Teilnahmslosigkeit an jüdischen politischen Veranstaltungen bemerkbar.
Die Arisierung der jüdischen Geschäfte wird nach wie vor von seiten des Staates mit Nachdruck betrieben.
Während bisher die Rasseschutzgesetze in Danzig noch nicht angewandt wurden, wurde zum ersten Mal auf Veranlassung des Gauleiters gegen jüdische Rasseschänder und deren deutschblütige Partner vorgegangen. [...]