Das SD-Hauptamt berichtet
Am 8. Oktober 1938 erstattet das SD-Hauptamt (II 112) folgenden „Lagebericht“ über den September 1938:
Die Stimmung unter der Judenschaft im Reichsgebiet wurde im vergangenen Berichtsabschnitt fast ausschließlich durch die außenpolitische Lage bestimmt, die zu den verschiedenartigsten Gerüchten über die mögliche Behandlung der Juden im Kriegsfall Anlaß gab. Während in einigen wenigen Fällen ein freches Auftreten von Juden gemeldet wurde - welche im Kriegsfall eine Niederlage Deutschlands erhofften -, befürchtete die Judenschaft allgemein, in Konzentrationslagern untergebracht oder auf andere Weise unschädlich gemacht zu werden.
Die Auswirkung dieser Psychose zeigte sich in der sehr geringen Tätigkeit der Organisationen (nur Berlin hat eine Steigerung der Veranstaltungen zu verzeichnen), die sich nur in religiösen Feiern anläßlich des jüdischen Neujahrsfestes äußerte. Aus diesem Anlaß erließ der ''Reichsverband der Juden in Deutschland '' einen Aufruf, in dem darauf hingewiesen wurde, daß alle Kraft zum Aufbau der neuen jüdischen Heimat eingesetzt werden müsse. Der Aufruf gipfelte in der Feststellung: ''Wir Juden sind das Geschlecht, das des Ewigen gewiß ist. So wir mit Gott sind, wird Gott mit uns sein''.
In der Praxis wirkt sich diese Haltung dahingehend aus, daß mit wenigen Ausnahmen, trotz aller Schwierigkeiten an der Durchführung der Auswanderung gearbeitet wird. Die hierbei versuchten zahlreichen Fälle illegaler Grenzüberschreitung haben zu scharfen Gegenmaßnahmen der an Deutschland angrenzenden Staaten geführt, welche entweder den Sichtvermerkzwang einführten oder mit seiner Einführung drohten, wenn nicht von deutscher Seite die illegale Auswanderung endgültig abgestellt werde.
Auf diese Abwehrmaßnahmen des Auslandes ist es auch zurückzuführen, wenn in Einzelfällen eine Tendenz zum Verbleiben in Deutschland beobachtet wird.
Parallel mit der laufend weitergeführten Arisierung des Wirtschaftslebens geht eine Verarmung der jüdischen Kultusgemeinden und Organisationen, die sich insbesondere auf die Fürsorgetätigkeit negativ auswirkt. So fallen in steigendem Maße Juden der öffentlichen Fürsorge zur Last , die, soweit sie arbeitsfähig sind, zusammen mit deutschen Arbeitern auch bei der Ausführung öffentlicher Arbeiten eingesetzt werden.
Die zunehmende Verarmung hat weiterhin die Selbstauflösung zahlreicher kleiner jüdischer Gemeinden in der Provinz bewirkt, wie auch von kleinen Organisationen, die sich im allgemeinen den großen für die Auswanderung tätigen Vereinigungen anschließen.
Als die einzige größere Aktion der Judenschaft ist die Sammlung zum Erwerb einer Siedlung in Palästina anzusehen, die den Namen ''Tel Sikaron'' - Siedlung des Gedenkens, tragen soll. Bei allen jüdischen Gemeinden werden Zeichnungslisten ausgelegt, die zugleich die Geschichtsbücher der Judenschaft in den einzelnen Provinzen werden sollen. Der Reichsverband, der Vorstand der jüdischen Gemeinde Berlins und die Zionistische Vereinigung haben zur Förderung dieses Planes des ''Keren Kajemeth '' einen Aufruf veröffentlicht.
Aufforderungen zu freiwilligen Spenden wurden auch von anderen jüdischen Organisationen veröffentlicht, die sich teilweise auch an die Auswandernden bzw. die bereits Ausgewanderten wenden. Auch hierdurch wird die finanzielle Notlage aller jüdischen Vereinigungen erhellt.
Die Stimmung der Bevölkerung gegen die Judenschaft hat sich unter dem Eindruck der außenpolitischen Entwicklung verschärft, so daß - im Zusammenhang mit den laufend durchgeführten Arisierungen - jetzt auch der Umsatz jüdischer Geschäfte zurückzugehen scheint. An einigen Orten äußerte sich die Abneigung gegen die Judenschaft wieder in einem Vorgehen gegen jüdische Synagogen und Einzelpersonen. Derartige Vorgänge wurden insbesondere in Westfalen und im Rheinland beobachtet. In einem Fall auch in Pommern. Abweichend hiervon wird allerdings berichtet, daß in Forst (Provinz Brandenburg) 150 Arbeiter und Arbeiterinnen am Lohntag eine Sympathiekundgebung für den wegen Vergehens gegen das Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes verhafteten jüdischen Inhaber eines Konfektionsgeschäftes veranstaltet hatten.
Die Verfügung der Wehrmacht, wonach sich die ehemaligen jüdischen Sanitäts- und Veterinäroffiziere im Notfalle zur Dienstleistung zu melden haben, wird allgemein besprochen.
Das Verhältnis der Juden zur deutschen Volksgemeinschaft hat durch einige neue Erlasse eine weitere Klärung erfahren. Bezugnehmend auf frühere Erlasse zur Regelung des Aufenthaltes von Juden in Kurorten , bestimmt der Reichsminister des Innern in seiner neuen Verordnung, daß in Abänderung bestehender Anordnungen ''auswärtige Juden'' als Kurgäste aus Kurorten und Bädern, die im Zollgrenzbezirk liegen, ausgeschlossen werden können. Dabei ist es unerheblich, ob jüdische Kureinrichtungen bestehen, die an sich den Aufenthalt von Juden rechtfertigen würden. Die Maßnahme war notwendig geworden, weil festgestellt wurde, daß Juden den Aufenthalt an der Reichsgrenze zur Anknüpfung von Beziehungen zu Juden im Ausland benutzten.
In einer Durchführungsverordnung zum Reichsgesetz über die Änderung und Ergänzung familienrechtlicher Vorschriften hat der Reichsminister des Innern außerdem festgestellt, daß Juden vom deutschen Adoptionswesen ausgeschaltet werden.
Durch eine Anordnung des Reichsarbeitsministers sind jüdische Verkaufsstellen vom 1.10.38 an von der Annahme der Reichsverbillingsscheine für Speisefette, der Bezugsscheine für Konsummargarine und der kommunalen Wohlfahrtsscheine ausgeschlossen.
In Auswirkung des Gesetzes zur Änderung der Gewerbeordnung vom 6.7.38 haben die Wandergewerbsscheine und Legitimationskarten von Juden mit Wirkung vom 30.9.38 ihre Gültigkeit verloren. [...]
Danzig:
Die Judenschaft in Danzig stand ebenfalls unter dem Eindruck der Kriegspsychose, die sich darin äußerte, daß die prominentesten Juden, die bisher auch als Leiter der Organisationen fungierten, auswanderten. Zum Teil sind sie nach Gdingen übergesiedelt.
Hiergegen hat sich jetzt die polnische Regierung gewandt, indem sie in der Zeit vom 1.-18.9.1938 272 Juden aus angeblich militärischen Gründen aus dem Grenzgebiet ausgewiesen hat.
Zahlreiche, im Danziger Staatsgebiet ansässige Juden polnischer Staatsangehörigkeit wurden auf Grund des Ausbürgerungsgesetzes vom März des Jahres ausgebürgert. Damit tritt auch für Danzig das Problem auf - das für das Deutsche Reich durch eine vorläufige Maßnahme schon gelöst wurde - wie den Ausbürgerungsbestrebungen des polnischen Innenministeriums wirksam entgegengearbeitet werden kann.
Das jüdische Vereinsleben hat wieder in vollem Umfange eingesetzt.
Die Ausschließung der Judenschaft aus dem Danziger Wirtschaftsleben wird planmäßig, z.T. mit Unterstützung des Senats vorangetrieben. [...]