Das SD-Hauptamt berichtet
Am 8. September 1938 erstattet das SD-Hauptamt (II 112) folgenden „Monatslagebericht“ über den August 1938:
Judentum
Die Situation der Judenschaft hat sich in Auswirkung der seit Beginn des Jahres laufend erlassenen Ausschließungsverordnungen stetig verschlechtert. Abgesehen von der verschiedentlich örtlich vorgenommenen Kennzeichnung jüdischer Geschäfte wird aus allen Teilen des Reiches übereinstimmend über ein Anwachsen der Arisierung jüdischer Betriebe berichtet. Nur in wenigen Fällen werden Widersätzlichkeiten der Juden gegen diese Wirtschaftsmaßnahmen gemeldet. So sollen sich Juden in einem Gebiet von Mainfranken geweigert haben, ihren Besitz zu verkaufen, da sie damit rechnen, daß in einer bevorstehenden Zeit wieder günstigere Bedingungen für sie bestehen werden.
Neben den bekannten gesetzmäßigen und verordnungsmäßigen Maßnahmen sind die insbesondere in Berlin im vergangenen Monat unternommenen polizeilichen Schritte gegen die Juden erwähnenswert. Die Anweisung des Polizeipräsidenten von Berlin verfolgt das Ziel, der Judenschaft den Aufenthalt in Deutschland so zu erschweren, daß trotz der schwierigen finanziellen Bedingungen ihr Wunsch zur Auswanderung eine Förderung erfährt. Es soll deshalb auswanderungsbereiten Juden jede Unterstützung in der Beschaffung der für die Abwanderung notwendigen Dokumente gewährt werden.
Die Folge aller dieser Maßnahmen ist die im gesamten Reichsgebiet zu beobachtende sehr stark verminderte Vereinstätigkeit, die sich zum Teil in zahlreichen Selbstauflösungen von Hilfs- und Unterstützungsorganisationen äußert. Die Stellung der Kultusgemeinden , die rechtlich durch das Gesetz über die Änderung der Rechtsverhältnisse der israelitischen Kultusgemeinden sehr stark erschüttert wurde, verschlechtert sich nunmehr auf finanziellem Gebiet so stark, daß es bald in einigen Gebieten des Reiches fast unmöglich wird, die Fürsorgeunterstützten weiter zu unterhalten. Das bedeutet für die Zukunft eine wachsende Zunahme des jüdischen Proletariats und die Belastung der öffentlichen Fürsorge, wenn nicht die beschäftigungslosen Juden durch die Auswanderung aus dem Reichsgebiet entfernt werden können.
Die Auswanderungsmöglichkeiten sind aber durch internationale Maßnahmen so stark im Abnehmen begriffen, daß von einer geregelten Auswanderung - in gewissem Maße abgesehen von der Ostmark - kaum mehr gesprochen werden kann. Selbst wenn die notwendigen Unterstützungen von ausländischen jüdischen Organisationen zur Verfügung gestellt und die Devisen vom Reich frei gemacht werden, wird diese Frage in der Zukunft hiermit nicht ohne weiteres zu lösen sein. Kommen doch für die Aufnahme einer größeren Anzahl von Juden nur noch Palästina und im nächsten Einwanderungsjahr die U.S.A. in Frage.
Dieses Mißverhältnis zwischen der Auswanderungswilligkeit der Judenschaft und den zur Verfügung stehenden Auswanderungsmöglichkeiten hat zu einer Beunruhigung geführt, die sich bereits in einigen Fällen in einer versteckten Opposition gegen die Maßnahmen des Reiches äußert. So wurde anläßlich des Abbruchs der Synagoge in Nürnberg folgender anonymer Drohbrief an Gauleiter Julius Streicher gesandt: ''Denke an das Dichterwort: Allzu straff gespannt zerreißt der Bogen. Dein Schicksal ist besiegelt! Dein Todesurteil ist gesprochen! Deine Rolle ist ausgespielt!''
Andererseits zeigen sich die Auswirkungen dieses Zustandes in den Versuchen illegaler Auswanderung nach der Schweiz, nach Frankreich und den baltischen Staaten. In allen Fällen befand sich unter den illegalen Auswanderern ein großer Prozentsatz von Juden aus der Ostmark. Diese Versuche, die zumeist durch die starken Schutzmaßnahmen der Grenzstaaten zum Scheitern gebracht wurden, wirken sich einmal in der Verringerung der überhaupt noch vorhandenen Auswanderungsmöglichkeiten, zum anderen aber auch wirtschaftlich aus. So wurde in Lettland beobachtet, daß an der dortigen schwarzen Börse deutsches Geld in starkem Maße gehandelt wurde. In jeder Woche sollen etwa 30.000 RM in lettische Währung eingewechselt worden sein. In Riga allein wurden in den letzten zwei bis drei Monaten ungefähr 340.000 RM verzeichnet.
Auszunehmen von dieser finanziellen Niedergangsentwicklung ist nach den vorliegenden Meldungen in gewissem Maße die Provinz Sachsen, deren Judenschaft sich zu einem großen Prozentsatz aus ausländischen Staatsangehörigen zusammensetzt. Diese haben während der Saison einen starken Reiseverkehr nach der Tschechoslowakei entwickelt. Juden deutscher Staatsangehörigkeit haben zur Paßerteilung von ärztlichen Attesten Gebrauch gemacht.
Die ''Staatszionistische Vereinigung '' mit ihren gesamten Untergliederungen im alten Reichsgebiet wurde im Berichtsabschnitt aufgelöst, da ihr das Deutsche Reich schädigende Verbindungen zu jüdischen Organisationen der Jabotinsky -Gruppe im Ausland nachgewiesen werden konnten. Das Vermögen der Vereinigung wurde eingezogen. Bei den im Anschluß an die Aktion eingeleiteten Ermittlungen stellte sich heraus, daß die führenden Personen weder über die Tätigkeit der ihnen unterstellten Unterführer noch über die Verwendung der eingezogenen Beträge und Spenden unterrichtet waren.
Durch einen Runderlaß des Reichsministeriums des Innern vom 18.8.38 wurde bestimmt, daß Juden deutscher Staatsangehörigkeit oder Staatenlose zukünftig nur noch die besonders vorgeschriebenen jüdischen Vornamen tragen dürfen. Soweit sie bereits andere Vornamen führen, sind sie verpflichtet, mit Wirkung vom 1.1.1939 zusätzlich einen weiteren Vornamen zu führen, und zwar männliche Personen den Vornamen Israel, weibliche Personen den Vornamen Sarah. ''Der zusätzliche Vorname ist im Rechts- und Geschäftsverkehr stets zu führen, sofern es dort üblich ist, den Namen anzugeben''.
Die Betätigung jüdischer Sportvereine fand ihre endgültige Eingrenzung durch einen im Einvernehmen mit dem Reichssportamt veröffentlichten Erlaß des Geheimen Staatspolizeiamtes vom 24.8.1938.
Danzig
Die Vereinstätigkeit ruhte fast ebenso wie im Reichsgebiet. Dagegen wurde eine weitere Zentralisierung der Organisationen der Judenschaft dadurch herbeigeführt, daß der Kulturbund der Juden durch die Landeskulturkammer als einzige jüdische Kulturorganisation anerkannt wurde. Ihr obliegt als Fachorganisation die Betreuung der jüdischen Künstler und der Kunsterziehung, sowie die Durchführung künstlerischer Veranstaltungen.
Während sich auf wirtschaftlichen Gebiet keine Veränderungen bemerkbar machten, wurde festgestellt, daß zahlreiche Juden, die ihrer Tätigkeit in Danzig nachgehen, ihre Wohnungen im Stadtgebiet aufgeben, um in dem benachbarten polnischen Badeort Orlowo (Adlerhorst) neuen Hausbesitz zu erwerben.
Die Propagierung zur Führung gemeinsamer Haushalte bei der Judenschaft hat dazu geführt, daß sich Wohngemeinschaften mit einer Mitgliederzahl von etwa 10-14 Personen gebildet haben.