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Chronik und Quellen
1939
Juni 1939

Das SD-Hauptamt (II 112) berichtet

Am 8. Juli 1939 erstattet das SD-Hauptamt (II 112) folgenden „Lagebericht für Juni:

Judentum

Der tatsächlich vorhandene Wille der gesamten Judenschaft zur Auswanderung wurde noch durch die Anfang Juni erfolgte Ausweisung polnischer und solcher Juden, die ihre polnische Staatsangehörigkeit verloren hatten, wesentlich verstärkt. Selbst jene Juden, auf welche die November-Ereignisse und die damit verbundene restlose Ausschaltung des Judentums aus dem gesamten öffentlichen Leben infolge des zeitlichen Abstandes keine wirklich nachhaltige Wirkung mehr ausübte, mußten durch die neuesten staatlichen Maßnahmen erkennen, daß die nationalsozialistische Staatsführung unbedingt willens ist, die endgültige Lösung des Judenproblems in Deutschland unerbittlich vorwärtszutreiben. Auch diese Juden gehen jetzt verstärkt an die Vorbereitung ihrer Auswanderung heran.

Mit dem stetigen Druck im Inlande wird also auch zwangsläufig ein erhöhter Auswanderungswille der Juden erreicht.

Die Möglichkeiten, Auslaßventile für diesen Druck zu schaffen, werden aber immer geringer. Aus fast allen Ländern der Erde, die überhaupt für eine Einwanderung in Frage kommen, werden Einwanderungsbeschränkungen gemeldet, die sich oft sogar eindeutig gegen die jüdische Einwanderung richten. Als eine weitere Erschwerung kommt hinzu, daß in letzter Zeit ausländische Schiffahrtgesellschaften häufig mindestens die Hälfte der Passagen in Devisen beglichen haben wollen, was bei der bekannten Devisenknappheit eine fast unüberbrückbare Schwierigkeit ist. Auch der Umstand, daß sich die Reedereien, um im Falle von Landungsverboten gesichert zu sein, gleichzeitig die Rückfahrtkosten vergüten lassen, erschwert die jüdische Auswanderung ungemein. Einzelne Reedereien gehen überhaupt nur ungern und nach Erhalt umfangreicher Zusicherungen an Judentransporte heran. Dies wirkt sich praktisch so aus, daß eine riesige Verknappung des Schiffsraumes zu verzeichnen ist.

Zur Verdeutlichung der Schwierigkeiten möge folgender Fall dienen: Der Hapag-Dampfer St. Louis, der mit 937 Passagieren auf der Überfahrt nach Cuba von den neuen cubanischen Einwanderungsbestimmungen überrascht wurde, mußte, da ein Von-Bord-Gehen der Juden nicht möglich war, unverrichteter Dinge die Rückreise nach Europa antreten. Die St. Louis machte am 17.6. wieder in Antwerpen fest. Die gesamten Passagiere kamen durch Vermittlung des ''Joint '' in England, Frankreich, Belgien und Holland unter. Ein anderer Dampfer, der ''Orinoco'', konnte noch rechtzeitig im Antwerpener Hafen erreicht und nach Hamburg zurückbeordert werden. Den Passagieren wurde die ungehinderte Wiedereinreise in das Reich ermöglicht.

So wird auch die vorsichtige Haltung, insbesondere der ausländischen Reedereien, verständlich.

Wenn auch die Schwierigkeiten keineswegs verkannt werden, so darf auch in der Zukunft nicht im geringsten bei den Juden der Eindruck entstehen, als würde in irgendeinem Punkt von staatlicher Seite kurz getreten. Die bisherige Praxis hat gezeigt, daß nur dann, wenn die Juden in Deutschland offensichtlich bedrängt sind, die jüdischen Hilfsorganisationen wirklich positive Hilfe leisten.

Unbeschadet aller aufgezeigten Hindernisse konnte in der Berichtszeit eine geringe Zunahme der jüdischen Auswanderung festgestellt werden. (Dabei ist interessant, daß sich unter den jüdischen Auswanderern in letzter Zeit ein großer Prozentsatz befindet mit einem Durchschnittsalter von 45 und mehr Jahren). Die jüdischen Auswanderungsberatungsstellen hatten ebenfalls eine häufig um nahezu 50% höher liegende Anzahl von Ratsuchenden zu verzeichnen.

Die jüdische Vereinstätigkeit ruht auch weiterhin vollkommen. Lediglich finden vereinzelt Veranstaltungen des ''Jüdischen Kulturbund in Deutschland e.V.'' statt. Diese sind aber, wie verschiedentlich gemeldet wird, auch nicht mehr in dem Maße wie früher besucht, obgleich dort neben rein jüdischen Filmen auch deutsche Filme gezeigt werden dürfen.

In der Wirtschaft schreitet die Abwicklung der jüdischen Geschäfte unter Mitwirkung der staatlichen Treuhänder fort. Zu welchem Zeitpunkt der Gesamtkomplex erledigt sein wird, ist allerdings bei den oft schwierigen Verhältnissen nicht abzusehen. Gemäß einer Vereinbarung der Reichsregierung mit der polnischen Regierung werden zur Zeit alle im Besitze von Juden polnischer Staatsangehörigkeit befindlichen Einzelhandelsgeschäfte und Handwerksbetriebe aufgelöst. Die Inhaber werden, wie in der Vereinbarung festgelegt ist, nach Polen zurückwandern.

Der wegen der zunehmenden Verknappung deutscher Arbeitskräfte angeordnete Arbeitseinsatz von Juden ist in vollem Gange. Im Altreich hat es sich jedoch herausgestellt, daß die Zahl der voll einsatzfähigen Juden gegenüber derjenigen der Wohlfahrtsunterstützten sehr gering ist. Die zum Einsatz kommenden Juden stammen deshalb in vielen Fällen aus der Ostmark, wo die Altersgliederung normaler als im Altreich ist. Beim Arbeitseinsatz selbst haben sich in jenen Betrieben, wo die Juden mit Deutschen direkt zusammenarbeiten müssen, obgleich für Juden getrennte Speise- und Umkleideräume vorhanden sind, Schwierigkeiten ergeben. Hier zeigte es sich, insbesondere in katholischen Gegenden wieder einmal, wie wenig die nationalsozialistischen Rassenauffassungen durchgedrungen sind. Bei größeren Bauvorhaben ließ sich der Arbeitseinsatz von Juden insofern reibungsloser durchführen, als man die Juden in Lagern unterbrachte, wo sie von der umwohnenden Bevölkerung vollkommen abgeschlossen gehalten werden.

Das Gesetz über Mietverhältnisse mit Juden vom 30.4.39 setzt die deutschblütigen Hausbesitzer instand, unter Einhaltung der gesetzlichen Kündigungsfrist ihre jüdischen Mieter zu kündigen. Hierzu verlautet, daß es oft erst eines Protestes der in dem betreffenden Hause wohnenden deutschen Mieter bedarf, um den Vermieter zur Kündigung der Juden zu bringen.

Dem Willen des Gesetzgebers, die Juden auf den kleinstmöglichen Wohnraum zu beschränken, kommen die Juden infolge ihrer rasch fortschreitenden Verarmung insofern entgegen, als sich oft mehrere jüdische Familien eine größere Wohnung mieten, wobei jede Familie nur 1 Zimmer bewohnt.

Neue staatliche Maßnahmen gegen das Judentum sind im Berichtsmonat durch Herausgabe von Gesetzen nicht erfolgt. In diesem Zusammenhang ist lediglich die vom Reichsinnenminister im Einvernehmen mit dem Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda getroffene Regelung des Besuchs jüdischer Kurgäste in Bädern und Kurorten erwähnenswert. Die Richtlinien legen fest, daß jüdische Kurgäste in Heilbädern und heilklimatischen Kurorten dann zuzulassen sind, wenn ihnen durch ärztliches Attest eine Kurbehandlung verordnet ist und wenn sie außerdem getrennt untergebracht werden können. Es können ihnen gewisse örtliche und zeitliche Beschränkungen auferlegt werden. Mit Ausnahme der Angehörigen diplomatischer Vertretungen bezieht sich die Regelung ohne Unterschied auf in- und ausländische Juden.

Immer wieder zeigt es sich, daß jüdische Mischlinge 1. Grades, die die Ehegenehmigung nicht erhalten haben, trotzdem mit ihren deutschblütigen Partnern ehelich zusammenleben. Eine fehlende Reichsregelung macht ein Einschreiten in diesen Fällen unmöglich.

In der 1. und 2. DVO zum Gesetz über die Hitlerjugend wurde bestimmt, daß jüdische Mischlinge der allgemeinen Hitlerjugend angehören können, jedoch von der Stamm-H.J. ausgeschlossen sind. [...]

 

Danzig:

In Danzig ist die Judenfrage zur zeit völlig in den Hintergrund getreten. Dies ist einerseits bedingt durch den seit der Führerrede vom 28. April in Danzig bestehenden Zustand politischer Hochspannung und zum anderen durch die erwarteten kommenden außenpolitischen Ereignisse.

Nach ihrer Ausschaltung aus dem Danziger Wirtschaftsleben legen sich die Juden eine gewisse Zurückhaltung auf, so daß sie in der Öffentlichkeit kaum mehr in Erscheinung treten.

Zur Zeit befinden sich in Danzig noch ca. 2 000 Juden (ohne polnische Staatsangehörige).

Von den gesamten Danziger Juden sind nur noch etwa 160 im Erwerbsleben tätig. Dabei handelt es sich um die sogenannten ''Schutzjuden '', deren Tätigkeit aus wirtschaftlichen Gründen vorläufig noch geduldet wird.

Von der Zentralwohlfahrtsstelle der Jüdischen Gemeinde in Danzig werden rund 1000 Personen unterstützt. Die anderen leben von ihrem Vermögen oder von dem Erlös aus dem Verkauf ihrer Möbel und Wertsachen. Die Synagogengemeinde ist zur Gewährung der umfangreichen Unterstützungen nur imstande, weil der ''Joint '' laufend Zuschüsse zur Durchführung des sozialen Hilfswerkes gewährt. Da die Zahl der Unterstützungsempfänger jedoch stetig wächst, ist die jüdische Gemeinde dazu übergegangen, die Barunterstützungen wesentlich einzuschränken und durch die Einrichtung von Volksküchen eine Naturalunterstützung zu gewähren. Für die noch nicht unterstützungsreifen Juden wurde diesen Volksküchen eine ''Mittelstandsküche'' angegliedert.

Mittelpunkt des jüdischen Lebens in Danzig wird immer mehr die ehemalige jüdische Turnhalle. Dort werden Gottesdienste abgehalten und die Speisungen durchgeführt. Der große Garten dient den Juden als Erholungsstätte.

Nach dem restlosen Scheitern des illegalen Palästinatransports gelang bisher die Zusammenstellung eines neuen Transports für Shanghai noch nicht.

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