Bericht aus Bad Reichenhall
Am 15. Dezember 1938 erstattet die Gendarmerie Bad Reichenhall Bericht über den Selbstmord einer ortsansässigen Jüdin:
Am 13. Dezember 1938 20 Uhr ist die am 15.12.1871 in Mannheim geborene und seit 1.5.1921 in Bayerisch Gmain wohnhafte Jüdin [N.N.a] derzeitigen Wohnung Villa Edelweiß in Bayerisch Gmain Hs. Nr. 8 1/5 infolge selbst vorgenommener Vergiftung durch Veronal gestorben. Die Verlebte ist am 1.5.1921 von Karlsruhe nach Gmain zugezogen und war Besitzerin der Villa Edelweiß. Ihr Ehemann [N.N.b] war arischer Abstammung und Schauspieler. Letzterer ist am 26.12.1924 gestorben. Seit dessen Tod lebte die Verstorbene in Bayerisch Gmain sehr zurückgezogen. Wie festgestellt wurde, ist sie im Jahre 1907 aus der jüdischen Gemeinde ausgetreten. Die in letzter Zeit erfolgten Maßnahmen gegen die Juden in Deutschland ließ sich die Verlebte sehr zu Herzen gehen, lebte in einer gewissen Angst, daß ihr noch einmal ein Leid angetan werde und äußerte sich auch schon wiederholt, daß sie lebend ihre Villa nicht verlassen werde, falls sie hiezu gezwungen werden sollte.
Ihre einzige Stütze war ihr Hausmädchen [N.N.c] geb. am 7.12.1911 in Neubeuern, BA Rosenheim, die bei ihr seit 1931 in Stellung war.
Nach den Feststellungen und Angaben der [N.N.c] wurde am 9. Dezember 1938 gegen 17 Uhr an die Haustüre der [N.N.a] ein Plakat angebracht mit der Aufschrift ''Alle Juden endlich einmal heraus''. Dieses Plakat hat das Hausmädchen [N.N.c] noch am gleichen Abend der [N.N.a], die bereits schon im Bette lag, da sie sich tags zuvor infolge eines Sturzes leicht verletzt hatte, übergeben. Über diese neuerdings erfolgte Maßnahme gegen die Juden regte sich die [N.N.a] furchtbar auf, frug ihr Dienstmädchen [N.N.c] wiederholt, wann sie die Villa verlassen müsse und was wohl geschehen werde. Am gleichen Abend gegen 20 Uhr verlangte sie von der [N.N.c] eine Tasse Tee und betonte ausdrücklich, daß sie ihn sehr süß haben wolle. Ihr Wunsch wurde ihr von [N.N.c] auch erfüllt. Am nächsten Tage, den 10. Dezember 1938 in der Früh fand [N.N.c] [N.N.a] bewußtlos im Bett liegend vor. [N.N.c] verständigte sofort mehrere Ärzte in Reichenhall, die aber die ärztliche Behandlung der [N.N.a] ablehnten und sie zu dem jüdischen in Reichenhall wohnhaften Arzt Dr. Ortenau verwiesen. Dr. Ortenau übernahm dann die Behandlung der [N.N.a].
Am 10. Dezember 1938 in der Früh wurden in der Schublade neben ihrem Bett zwei leere Veronalfläschchen gefunden. Demzufolge war anzunehmen, daß sie das Veronal am Abend des Vortages mit dem Tee zu sich genommen hat.
[N.N.a] hat das Bewußtsein nicht mehr erlangt, und ist am 13. Dezember 1938 20 Uhr gestorben. Nach dem ärztlichen Gutachten ist sie an Vergiftung erlegen. Die Ursache der Tat war Nervenzerrüttung durch die erfolgten Maßnahmen gegen sie als Jüdin.