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Chronik und Quellen
1941
Juli 1941

Lage der Juden in Breslau

Ein Auswanderer schildert im Sommer 1941 die Situation der Juden in Breslau 1940/41:

Jüdisches Leben in der Provinz Schlesien und in Breslau 1940/41.

Provinz

Die kleinen Städte, Oels, Grottkau, Münsterberg, Cosel und viele andere dürften so gut wie judenrein sein. Auch in Liegnitz leben nur wenige Familien. Nach meiner dunklen Erinnerung acht. Das Leben dort sehr unangenehm. Verhältnismäßig am besten in den größeren Städten. Oberschlesien (Beuthen, Gleiwitz): keine Meldung, wie in Breslau (etwa vierteljährlich dort) und beschränkte Freizügigkeit.

Die Einwanderung nach Breslau ist nicht bedeutend, wie ich glaube. Früher jedenfalls sind die reichen Provinz-Juden nach Berlin eingewandert, so lange dahin die Einwanderung möglich war - wie mir der Dezernent der Gemeinde vor Jahren mit Befriedigung mitgeteilt hat. Die Zahl der nach Breslau einwandernden Provinz-Juden kann ich ohne Unterlagen auch nicht entfernt schätzen. Vielleicht ist eine Zahl von 200 bis 500 annähernd richtig.

Jetzige Einwohnerschaft in Breslau.

Etwa einschließlich der Eingewanderten 6 bis 7000 früher 18 000. Es arbeiten

1. etwa 6 bis 8 jüdische Rechtsanwälte („Consulenten“)
2. etwa 40 bis 50 jüdische Ärzte („Krankenbehandler“) und etwa 15 Zahnärzte
3. Arzt-, Anwalts-, Krankenhaus-, Pflege-, Küchen-, Verwaltungs-, Haus- usw. Personal.
4. Das Gesamtpersonal der Verwaltung der Gemeinde nebst den angeschlossenen Organisationen und des Hilfsvereins.

zu 3.) und 4.) jetzt um 40 % herabgesetzt. Nach meiner dunklen Erinnerung früher 1400 (höchst ungenau).

5. Schneider, Schneiderinnen, Barbiere, Badehauspersonal, Schuhmacher, Friseusen und andere von dem Regierungspräsidenten zugelassene Berufsangehörige (insgesamt etwa 50 bis 100).

Arbeitsdienst

Alle Männer von 16 bis 60 Jahren und alle Frauen von 16 bis 55 Jahren sind meldepflichtig, von den Vertrauensärzten (jüdischen) untersucht und zum großen Teil mit Arbeiten, zum Teil niedrigster Art, vielstündig und schwer, beschäftigt. (Sortieren von Papier, Lumpen, Scherben usw. aus dem von der städtischen Marstallverwaltung geholten Hausabfall, Schneeschippen.) Meistens in Vororten oder an der Peripherie der Stadt. Lohn: RM i,-wovon noch Straßenbahnkosten, 30 Pf., abgehen. Tageslohn. (Zu- und Abgangsweg etwa 1 Stunde.) Andere im Straßenbau und anderen Betrieben beschäftigt. Ich kenne auch einen gelernten Gärtner, bei den Linke-Hoffmannwerken. Der Lohn, auch des letzteren, bleibt erheblich hinter den arischen Arbeitslöhnen zurück.

Die Behandlung der jüdischen Arbeiter durch die Betriebsinhaber bezw. sonst leitenden Stellen, durch die Aufseher, Vorarbeiter und andere Arbeitskameraden ist fast durchweg einwandfrei. Alle erkennen den Arbeitswillen der Juden und ihre Leistungen an, nehmen auch auf den Mangel an Übung, also den Mangel an Geschicklichkeit und körperlichen Fähigkeiten, Rücksicht.

Nicht wenige Krankheiten infolge Überanstrengung. Die (aufs engste) zusammengelegten jüdischen Krankenhäuser überfüllt. Auch Mischlinge und Evakuierte aus Polen werden in Krankenhäusern behandelt.

Die meisten Juden sind bleich, abgemagert und schäbig gekleidet, selbstverständlich auch die früher wohlhabenden. Auf der Straße sind sie schwer und nicht sofort erkennbar, mindestens ein Teil. Von Frauen gilt dies weniger. Es gibt natürlich auch sogenannte reiche Juden, vielleicht mehr, als der einzelne gefühlsmäßig annimmt. Ich meine, heute über RM 100 000,-, bei wahrer Schätzung vielleicht 150 bis 200. Reichtum nur auf dem Papier. Sperrkonto, das unnachsichtig streng von den besonders übelwollenden Beamten dieser Abteilung der Devisenstelle verwaltet und beaufsichtigt wird. Freigabebetrag sehr gering.

Lifts und sonstiges Reisegepäck der Auswanderer wird beschlagnahmt und versteigert. Genaue Erkundigungen der Gestapo. Besonders scharf in Frankfurt am Main. Ein sehr wohlwollender Spediteur sandte mehrere Wochen vor meiner Ausreise das Gepäck über Basel, so daß ich bei der Abmeldung am Tage der Ausreise die erfolgte Absendung des Gepäcks der Gestapo senden konnte. Sie war über die Einzelheiten der Spediteurbetriebe genau unterrichtet.

Immer größer werdende Zahl der Wohlfahrtsempfänger und immer kleiner werdendes jüdisches Steueraufkommen.

Gemeinde nicht mehr Körperschaft des öffentlichen Rechtes, sondern privater rechtsfähiger Verein, von der Gestapo fortgesetzt beaufsichtigt. Gemeinde, Anstalten und Stiftungen und alle sonstigen Vermögensmassen verschmolzen zur Reichsvereinigung, von der Gestapo beaufsichtigt. Die Herren an der Spitze sehr sparsam und wenig angenehm. Zahlungen häufig nur auf Klageandrohung. (Eigene Erfahrung als Stiftungsvorsteher.) Begründung: Katastrophale Lage der Reichsvereinigung, vielleicht wirklicher Grund: Furcht vor der Gestapo.

Ghetto

Völliges geistiges Ghetto, tatsächliches Ghetto wird gefürchtet. In Berlin Bannstraßen. In der elektrischen Bahn in Breslau nicht die geringste Änderung. Andere in anderen Städten, z. B. Dresden. Im allgemeinen kein Haß, eher Mitgefühl.

Behördliche Anordnungen

Verboten: Betreten der meisten Grünanlagen und Kinderspielplätze, das Sitzen auf öffentlichen Bänken (mit Ausnahme der Straßenbahnen), Friseure völlig verboten (Widerstand einzelner Friseure). Autofahren, ganz genaue Zeiten und Tage für Kolonialwaren und Geschäfte, genau bezeichnete Verkaufszeit und Inhalt. Neueste Anordnung vor etwa 3 Monaten: Jeder Jude hat bei Inverbindungtreten mit einer Behörde oder Privatperson unter Vorlegung seiner Kennkarte seinen vollen, also auch religiösen Namen unter Hinzufügung, daß er Jude sei, zu nennen. (Streitfragen: Straßenbahn?) In den Schulungsabenden offenbar bekanntgegeben. Hülsenfrüchte, Fische, Keks, verboten, keine Kleiderkarten. Nähmaterial bis zu 20 Pfg. Für Auswanderer.

In Berlin mußte ich einen Revers unterschreiben: kein Angehöriger darf den Auswanderer bis zum Zuge begleiten, muß also vor dem Bahnterrain bleiben. Vorhänge verschlossen; kein Auswanderer darf ans Fenster gehen.

Aussehen

Sehr viele, meistens Männer, bleich, abgemagert, in schäbiger Kleidung, schwer im ersten Augenblick erkennbar. Angeblicher Ausspruch Hitlers: In einigen Jahren wird es in Deutschland nur jüdische Friedhöfe und Schnorrer geben. Herausgehen nur mit dem Rucksack und 10 Mark.

Jüdisches Leben in Breslau

Vorstand. (Führerprinzip). Bis vor wenigen Monaten Vorsitzender Stadtrat Less. Etwas heimlich, etwa im Mai, ausgewandert. (Volksmund: Deutschland ohne Hess. Breslau ohne Less.) Jetziger Vorstand: 1. Vorsitzender: Landgerichtsrat a.D. Dr. Kohn, vornehm, kenntnisreich, gewissenhaft. 2. Gemeinderabbiner Dr. Lewin: scharfer Verstand, umfassendes Wissen, glänzender Redner, Gedanken und Sprache in der Gewalt, hochgebildet, auch in der Kultur der Umwelt, fleißig, schnell in seinem Dezernat, im wesentlichen Wohlfahrt (gründlich), aber stark angefeindet und aufs höchste unbeliebt, ohne das geringste Gefühl und ohne die geringste Verbindung mit dem einzelnen. 3. Großkaufmann Kaim, sehr vornehm, sehr ruhig, nicht übermäßig menschenfreundlich. 4. Orthodoxer Gemeinderabbiner Hamburger, still, gläubig, hilfreich, Wohltun übend (wie seine Gattin). Hilfsverein.

Getrennt von der Gemeinde, aber selbstverständlich im inneren Zusammenhang. Nach Ausscheiden des Landesgerichtsrats Dr. Kohn jetzt: 1. Rechtsanwalt Dr. Spitz 2. Rechtsanwalt Dr. Goldmann, angeblich jetzt abgebaut. 3. Pollak, früher Vorsitzender des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten in Breslau, jetzt auch Verbindungsmann zwischen Gemeinde und Hilfsverein einerseits und Gestapo andererseits. (Verantwortliche, meist unerfreuliche Tätigkeit.)

Die Persönlichkeit, Fähigkeiten und [das] Tun der Herren werden aufs schärfste kritisiert. Meines Erachtens zu Unrecht. (Enttäuschte Hoffnungen wegen der Ungunst der Verhältnisse.) Ich habe niemals Grund zur Klage gehabt; im Gegenteil, so häufig ich kam, trotz der Überbürdung der Herren, stets Gehör und Freundlichkeit gefunden. Von einzelnen substantiierten Klagen habe ich wenig gehört, bin auch gegenüber solchen Darstellungen mißtrauisch. Ein Jugendfreund hat mir mitgeteilt, seine Reise nach Shanghai sei mißglückt, weil ein erforderliches Visum durch Schuld des H.V. verfallen sei, sein Gepäck sei schon in Shanghai. Ein anderer, Arzt, hat darüber geklagt, daß seine Ausreise mißglückt wäre, wenn er nicht durch eigene Maßnahmen und durch Maßnahmen der Hapag Fehler des H.V. im letzten Augenblick korrigiert hätte. Hier habe ich gehört, daß an der Ungeschicklichkeit der Herren, besonders des erstgenannten, Hunderten (?) die Ausreise unmöglich geworden sei. Vielleicht sind die Herren (Bürokraten) nicht behende genug.

In der inneren Verwaltung tätig, die Gattin eines früheren Rechtsanwalts, hervorragend tüchtig und überlastet, Frau Dr. Mannsberg. Gehälter bei allen Arbeitern der Gemeinde und der angeschlossenen Organisationen beim Hilfsverein in fast unerträglicher Weise gekürzt. Den Geistlichen Gehalt vollkommen entzogen, übrigens, wie verlautet, auch den Geistlichen anderer Religionen; sie sollen gezwungen werden, irgendeinen Beruf zu ergreifen. (Rußland.)

Jüdische Wissenschaft

Fränckelsches Rabbinerseminar geschlossen, ebenso Bibliothek. Alle übrigen Bibliotheken der Gemeinde geschlossen oder aufgelöst, zumal das Haus enteignet. Also überhaupt keine jüdische Wissenschaft. Der neue Tempel, 1863 gebaut, und vor wenigen Jahren restauriert, am 10. November vollkommen zerstört und dem Erdboden gleichgemacht. Jetzt sollen Garagen gebaut werden.

Neueste Anordnung Goebbels: Alle Bilder, Sammlungen, Bücher, die einen antiken Wert haben (also auch die alten Talmudfolianten), müssen angegeben und offenbar abgegeben werden. (Genaueres Vorbehalten).

Kultus

Täglich und an Sonn- und Feiertagen Gottesdienst, soweit nicht, was wohl nur im Jahre 1939 vorgekommen ist, polizeilich verboten. In der alten ehrwürdigen Storchsynagoge, die wohl von der Zerstörung nur wegen der umliegenden hart angrenzenden Häuser verschont geblieben ist. Am Versöhnungsfest liberaler Gottesdienst in dem Hause des früheren Vereins der „Freunde“. Offenbar keine Harmonie zwischen orthodoxen und liberalen. (Streit höchst unnötig in der Jetztzeit.) Bestrebungen, den orthodoxen Gottesdienst abzuschaffen. Im Winter Schwierigkeiten wegen Kohlenmangels.

Kulturbund

Bemühungen, Theatervorstellungen, Konzerte und Kino trotz größter Schwierigkeiten zu veranstalten, Bühne im „Freunde Haus.“ (Siehe oben.) Vorstellungen überfüllt, werden sehr belobt. Nur Juden Zutritt. Legitimation durch Ausweiskarte.

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