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Chronik und Quellen
1941
März 1941

Widerspruch gegen Antisemitismus

Martin Neugebauer wird am 12. März 1941 in Bielefeld verurteilt, da er antijüdischen Äußerungen widersprochen hatte:

Im Namen des Deutschen Volkes!

In der Strafsache gegen den Hilfsarbeiter Martin Neugebauer in Gütersloh, geboren am 1. November 1891 in Gütersloh, wegen Vergehens gegen das Heimtückegesetz.

Die II. Strafkammer des Landgerichts in Bielefeld hat in der Sitzung vom 12. März 194, an der teilgenommen haben:

Landgerichtsdirektor Meyer zu Schwabedissen als Vorsitzender, Landgerichtsrat Strümp-ler, Landgerichtsrat Brandau als beisitzende Richter, Staatsanwalt Dr. Göke als Beamter der Staatsanwaltschaft, Justizsekretär Köbbing als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle, für Recht erkannt:

Der Angeklagte wird wegen Vergehens gegen § 2 des Heimtückegesetzes vom 20. Dezember 1934 zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahre verurteilt. Die Untersuchungshaft wird angerechnet. Die Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt wird angeordnet. Die Kosten des Verfahrens fallen dem Angeklagten zur Last.

Gründe:

Der Angeklagte besuchte nach der Schulentlassung vorübergehend die Präparanden-anstalt in Schildesche, um sich auf den Lehrerberuf vorzubereiten. Er kam dann in die kaufmännische Lehre, war in den Bethelanstalten zur Missionarsausbildung und als Pfleger tätig. Nach einem Aufenthalt in dem Pädagogium Beuggen zur Heranbildung von Lehrern war er eine Zeitlang Schüler des Musikkonservatoriums in Bielefeld und hatte dann bis zum Ausbruch des Weltkrieges verschiedene kaufmännische Stellungen. Den Weltkrieg machte er in verschiedenen Verwendungen mit und wurde als Vizefeldwebel entlassen. Der Revolution zeigte er sich zunächst geneigt und hatte Briefwechsel mit Rosa Luxemburg und Liebknecht. Dann beteiligte er sich an den Kämpfen im Baltikum. Nach seiner Rückkehr war er einige Zeit im Dienst der Polizei, den er angeblich aus Gewissensnöten aufgab. Er hatte unterdessen im Jahre 1921 geheiratet. Die Ehe wurde 1924 wegen Ehebruchs der Frau geschieden. Nach dem Abschied aus dem Polizeidienste betätigte er sich als Schriftsteller und als Agent für Blindenkonzerte und Zeitschriften. Er war im Jungdeutschen Orden und erstattete währenddessen Anzeige gegen sich selbst, um sich von dem Vorwurf zu reinigen, er sei an dem Verrat Schlageters beteiligt. Im Jahre 1926 wurde er wegen Betruges und einer sittlichen Verfehlung verurteilt. Nach Verbüßung der Strafen war er mehrere Jahre auf Wanderschaft in den Ländern des Südostens und des Balkans. Nach seiner Heimkehr nach Deutschland war er wiederum als Schriftsteller und Zeitungsagent tätig. Er wurde 1931 Mitglied der NSDAP, schied aber im Januar 1933 aus, als er wegen seiner Ablehnung des Rassegedankens und anderer Unstimmigkeiten ausgeschlossen werden sollte. Anfang Januar 1933 schloß er eine neue Ehe. Die Ehe gestaltete sich unglücklich. Sie wurde im Jahre 1935 aus seinem Verschulden geschieden, da er dem Trunke ergeben sei und von dem Arbeitseinkommen seiner Frau hatte leben wollen. Im Herbst 1934 war er wegen angeblicher Verfolgungsideen zur Beobachtung in der Provinzialheilanstalt in Gütersloh. Danach hatte er Arbeit in Fabriken und hielt sich länger im Ausland auf. Er wurde im Jahre 1936 wegen Zechprellerei und wegen Beleidigung, begangen durch eine Schamverletzung vor Frauen, bestraft. Dann hat er sich mit gelegentlichen schriftstellerischen Arbeiten beschäftigt und eine Arbeit in Wiedenbrück aufgenommen. Wegen eines im September 1937 begangenen versuchten Sittlichkeitsverbrechens (§ 176 Ziff. 3 StGB.) wurde er zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Im Frühjahr 1939 meldete er sich zu den Arbeiten am Westwall. Er wurde im Juni 1939 wegen staatsfeindlicher Äußerungen in Haft genommen und durch Urteil des Sondergerichts Köln vom 3. Mai 1940 unter Annahme verminderter Zurechnungsfähigkeit wegen Vergehens gegen § 2 des Heimtückegesetzes vom 30.12.1934 zu fünf Monaten Gefängnis verurteilt, die durch die Untersuchungshaft als verbüßt galten. Im April 1940 trat er als Holzarbeiter bei der Tischlerei Henke in Gütersloh ein.

Am Abend des 20. Mai 1940 war er in der Wirtschaft Stieler in Gütersloh. Verschiedene Gäste, unter ihnen die Zeugen Pieper, Schmidt, Hoffschild und Grüschow, unterhielten sich über den gegenwärtigen Krieg und kamen auf die Kriegsschuld zu sprechen. Pieper meinte, die Juden seien schuld am Kriege. Der Angeklagte mischte sich darauf in die Unterhaltung ein und erklärte, die Juden hätten nicht die geringste Schuld, das würde den Leuten nur so vorgeredet. Pieper blieb bei seiner Auffassung, die Juden hätten an allen letzten Kriegen die alleinige Schuld, sie hätten es verdient, daß man sie totschlage. Der Angeklagte kam sogleich auf ihn zugesprungen und rief, er stelle sich vor jeden Juden, der angegriffen werde, und wenn er sich totschießen lassen müsse. Er nahm die Juden weiter in Schutz, mäßigte sich aber, als er den Widerspruch der Anwesenden merkte, und äußerte, er trete vor jeden, der ungerecht angegriffen würde.

Der Angeklagte gesteht ein, die vorerwähnten Äußerungen in der Wirtschaft Stieler getan zu haben. Er hat damit die Juden in Schutz genommen und in Schutz nehmen wollen. Seine Reden richten sich gegen die antisemitische Einstellung der NSDAP und auch gegen die auf dem Rassegedanken aufbauenden Gesetze und Anordnungen des Staates. Denn wenn er sich vor jeden Juden stellen will, der angegriffen wird, so bringt er damit zum Ausdruck, daß er die Ausmerzung der Juden aus dem deutschen Volks- und Wirtschaftsleben und die dadurch möglichen Maßnahmen mißbilligt und sie zu verhindern suchen will. Darüber hinaus wendet er sich durch die Erklärung, die Juden hätten mit der Entstehung des jetzigen Krieges nichts zu tun, gegen die von allen Stellen des Staates und der Partei vertretene Auffassung, daß gerade das Judentum zum Kriege gehetzt und dadurch den Krieg heraufbeschworen habe. Wenn er das als falsch hinstellt, so bekämpft er die Anordnungen, die für die Kriegsführung getroffen sind. Seine Reden sind somit geeignet, nicht nur die zur Abwehr der Kriegsgefahr geschlossene Front und die Einheitlichkeit des Volkes 211 zersetzen, sondern auch das Vertrauen des Volkes zur politischen Führung zu untergraben. Der Angeklagte will zwar sein Verhalten aus einer Treue zum Staat verstanden wissen und gibt vor, er habe den Zeugen Pieper durch sein Eingreifen nur vor Schritten bewahren wollen, die für die Allgemeinheit schädliche Folgen hätten haben können. Seine Worte, den Leuten werde nur vorgeredet, die Juden seien schuld am Kriege, zeigen aber klar, daß es ihnen nicht um derartige Absichten, sondern darum gewesen ist, gegen die Führung zu hetzen und sie böswillig herabzusetzen. Er hat im übrigen den Rassegedanken seit langem abgelehnt. Das hat [er] bei seinen Reden in der Wirtschaft Stieler anderen gegenüber wieder einmal zum Ausdruck bringen wollen, wie er auch schon früher seine verneinende Einstellung zum Staat durch die vom Sondergericht in Köln geahndeten Äußerungen hat in Erscheinung treten lassen.

Die Äußerungen des Angeklagten sind in dem Wirtschaftsraum der Gastwirtschaft Stieler gefallen. Es mag dahingestellt bleiben, ob sie von einer unbestimmten Zahl von Personen haben wahrgenommen werden können und ob sie damit öffentlich gemacht sind. Nach Lage der Dinge haben sie zum mindesten weiter in die Öffentlichkeit dringen können. Damit hat der Angeklagte gerechnet und auch rechnen müssen.

Der Angeklagte ist hiernach des Vergehens gegen § 2 Abs. 2 des Heimtückegesetzes vom 20.12.1934 überführt. Der Reichsminister der Justiz hat durch Erlaß vom 28. August 1940 - III g - 424/40 - die Strafverfolgung angeordnet.

Der Angeklagte ist bei Begehung der Tat nur vermindert fähig gewesen, das Unerlaubte der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln (§ 51 Abs. 2 StGB). Er ist nach den eingehenden und überzeugenden Gutachten der Sachverständigen Dr. Brunner und Dr. Hartwich ein haltloser, abwegiger und ethisch tiefstehender Psychopath. Beide Sachverständigen schließen das in Übereinstimmung mit dem vom Sondergericht Köln gehörten Reg. Med. Rat Dr. Kapp aus dem oben dargestellten unsteten und sprunghaften Ablauf seines Lebens, aus dem völligen Auseinanderfall zwischen seinem Wollen und seinen Anlagen und den tatsächlichen Leistungen und seinem sonstigen Verhalten und aus seinen Neigungen zu einem asozialen Leben. Nach Ansicht der Sachverständigen ist der Angeklagte weiter affekt-labil und nicht imstande, seinen Affekt zu steuern. Das ist nicht nur bei den Sittlichkeitsverfehlungen, sondern auch bei der jetzigen Tat hervorgetreten. Er hat bei dieser Tat unter Einfluß von Alkohol gestanden, ist auch durch die ihm unpassend erscheinenden Reden in starke Erregung geraten, hat sich aber nicht zurückhalten können und hat seinen Widerspruch in entgleisender Form zur Geltung bringen müssen. Seine Neigung, sich möglichst in Szene zu setzen, und seine psychopathische Reaktionsbereitschaft haben dabei mitgewirkt. Seine Einsichtsfahigkeit ist somit bei Begehung der Tat weitgehend beeinträchtigt und beschränkt gewesen.

Dieser verminderten Zurechnungsfähigkeit ist bei der Strafzumessung Rechnung zu tragen. Es ist indessen aber zu berücksichtigen, daß der Angeklagte sich schon mehrfach zu heimtückischen Äußerungen hat verleiten lassen und deswegen wiederholt Schwierigkeiten gehabt hat. Die jetzige Tat ist sogar kurze Zeit nach dem Urteil des Sondergerichts in Köln begangen. Die Bestrafung ist also bei ihm ohne nachhaltigen Einfluß geblieben. Der Angeklagte ist ferner in den letzten Jahren auch sonst in steigendem Maße straffällig geworden. Eine Gefängnisstrafe von einem Jahre erschien unter diesen Umständen als eine erforderliche, aber auch ausreichende Sühne für seine Tat. Die erlittene Untersuchungshaft ist hierauf mit Rücksicht auf seine Geständnisse in Anrechnung gebracht (§ 60 StGB.).

Der Angeklagte ist Psychopath und leidet an Affektstörungen. Die jetzige Straftat hat damit im unmittelbaren Zusammenhang gestanden. Wie der Sachverständige Hartwich zutreffend dargelegt hat und wie aus dem bisherigen Verlauf seines Lebens zu schließen ist, ist der Angeklagte weder durch Strafen noch durch ärztliche Behandlungen in seiner charakterlichen und geistigen Haltung zu bessern. Es wird daher aller Voraussicht nach auch in Zukunft wieder zu Störungen des Rechtsfriedens kommen. Nach seinen Verfehlungen auf sittlichem Gebiete ist er in moralischer Hinsicht wenig widerstandsfähig und daher insofern für die Öffentlichkeit sogar gefährlich. Ferner ist auch bei seinen staatsfeindlichen Neigungen mit der Wiederholung gleicher Vorgänge, wie sie jetzt in Frage stehen, zu rechnen. Die öffentliche Sicherheit erfordert es, diese Gefahren zu verhüten. Der Angeklagte hat daher gemäß § 42 StGB, in einer Heil- oder Pflegeanstalt untergebracht werden müssen. Die Kostenentscheidung folgt aus § 465 StPO.

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