Reisebeschränkungen
Im Reichsverkehrsministerium wird am 25. Februar 1941 über Reisebeschränkungen für Juden diskutiert:
Die Frage der Reisebeschränkung der Juden auf den Verkehrsmitteln wurde am 25. Februar 1941 im Reichsverkehrsministerium besprochen. Anwesend waren die aus der Anlage ersichtlichen Ressortvertreter.
Zu Beginn der Sitzung erläuterte der Vorsitzende (Min.-Rat Dr. Friebe) den Sachstand und gab den Inhalt der Schreiben des Herrn Reichsministers des Innern vom 28. November 1940 und 11. Januar 1941 bekannt.
Min Rat Dr. Lösener (R Min d Innern) und ORR Dr. Mann (Beauftragter für den Vierjahresplan) bestätigten, daß sich die in den genannten Schreiben vertretene Auffassung inzwischen nicht geändert habe. Es solle auch in Zukunft der Geheimerlaß des Beauftragten für den Vierjahresplan vom 28. Dezember 1938 insoweit wirksam sein, als ein Verbot der Benutzung von Eisenbahnen, Straßenbahnen, Vorort-, Stadt- und Untergrundbahnen, Omnibussen und Schiffen im Nahverkehr durch Juden nicht ausgesprochen werden solle. Min Rat Dr. Lösener teilte mit, daß die Juden infolge der ihnen polizeilich auferlegten besonderen Beschränkungen ihres öffentlichen Auftretens, insbesondere bei der Befriedigung ihrer wirtschaftlichen und kulturellen Bedürfnisse (z. B. Benutzung bestimmter Schulen) gezwungen seien, in gewissen Entfernungen die Eisenbahn und andere Verkehrsmittel zu benutzen. Dies solle auch in Zukunft nicht verhindert werden.
Min Rat Dr. Friebe vertrat unter Zustimmung aller Sitzungsteilnehmer den Standpunkt, daß man das Erfordernis einer polizeilichen Genehmigung für Reisen von Juden im Fernverkehr nicht nur für die Eisenbahn einführen könne, sondern sich auf alle Verkehrsmittel, also auch auf den Luft- und Kraftwagenverkehr sowie auf die Binnen- und Seeschiffahrt, erstrecken müsse.
Min Rat Dr. Schleicher (Reichsluftfahrtministerium) teilte mit, daß für die Benutzung der Verkehrsflugzeuge zur Zeit keine Beschränkungen für Juden bestünden, daß aber auch nach seiner Meinung solche einzuführen seien, wenn die Eisenbahn sie einführt. Min Rat Dr. Schuster (Reichspostministerium) teilte mit, daß die Omnibusse der Reichspost ausschließlich im Nahverkehr verkehrten und daß sie deshalb nach den Grundsätzen des Reichsministers des Innern von Beschränkungen frei bleiben müßten.
Was die gesetzliche Durchführung der Reisebeschränkung für Juden im Fernverkehr anbetrifft, so führte Dr. Friebe aus, daß dies nicht im Wege einer Änderung der Eisenbahn-Verkehrsordnung geschehen könne, weil es sich hier um eine öffentlich-rechtliche (polizeiliche) Regelung handeln müsse, bei der für den Fall der Zuwiderhandlung empfindliche Strafen, gegebenenfalls auch Freiheitsstrafen, vorzusehen seien. Die EVO, die eine privatrechtliche Durchführungsverordnung zum Handelsgesetzbuch sei, könne solche Bestimmungen aber nicht einführen. Da das Reisen von Juden nicht vollständig verboten, sondern von einer polizeilichen Genehmigung abhängig gemacht werden solle, sei es auch aus Zweckmäßigkeitsgründen die gegebene Lösung, wenn der für den Erlaß von Polizeiverordnungen zuständige Reichsminister des Innern eine entsprechende Polizeiverordnung erlasse. Diese Lösung sei um so mehr geboten, als das Reisen von Juden in allen Fernverkehrsmitteln von einer polizeilichen Genehmigung abhängig gemacht werden solle und sich der Beförderungsvertrag teilweise hier ausschließlich auf vertraglicher Grundlage wie z. B. bei den Kraftomnibussen der Reichsbahn abwickele. Aufgabe der Reichsbahn und der anderen Verkehrsmittel sei es, bei der Durchführung dieser Polizeiverordnung, soweit es ihnen möglich sei, mitzuwirken und Anzeigen sowie eigene Wahrnehmungen über Verstöße an die für die Strafverfolgung zuständigen Polizeibehörden weiterzuleiten.
Min Rat Koffka (Reichsjustizministerium) schloß sich den Ausführungen von Dr. Friebe in vollem Umfang an; auch nach seiner Meinung sei die vorliegende Frage nicht durch die Verkehrsgesetzgebung, sondern ausschließlich im Rahmen der Judengesetzgebung zu lösen. Die EVO sei beherrscht von dem Gedanken der Beförderungspflicht. Der in § 9 EVO enthaltene Ausschluß der Beförderung von Reisenden mit gemeingefährlichen Krankheiten sei ausschließlich von dem Gesichtspunkt der Rücksicht auf die Mitreisenden getroffen. Für das Verbot von Reisen der Juden im Fernverkehr seien aber nicht in erster Linie Rücksichten auf die Mitreisenden maßgebend, sondern andere außerhalb des Verkehrsgebiets liegende Gründe, insbesondere der Abwehrgesichtspunkt und die Frage der Behandlung der Juden im öffentlichen Leben überhaupt.
Min Rat Büttner (RVM) betonte, daß nach seiner Meinung die Durchführung der Verordnung durch die Verkehrsdienststellen auf große Schwierigkeiten stoße, wenn keine scharfe Abgrenzung des Fernverkehrs vom Nahverkehr getroffen würde. Wenn man keine feste Kilometergrenze einführen könne, käme in Frage, die Juden lediglich von der Benutzung der D- und Eilzüge auszuschließen.
Nach Ansicht des Vorsitzenden (Dr. Friebe) und der anderen Sitzungsteilnehmer sei die Beschränkung des Reiseverbots auf die schnellfahrenden Züge zu eng.
Min Rat Dr. Lösener erklärte, daß er persönlich der Ansicht der anderen Sitzungsteilnehmer beipflichte, wonach die Angelegenheit nicht in der EVO, sondern durch eine besondere Polizeiverordnung für alle Verkehrsmittel im Fernverkehr zu regeln sei. Da er nur für die allgemeine politische Behandlung der Judenfrage zuständig sei, könne er darüber, ob sein Ministerium bereit sei, eine entsprechende Polizeiverordnung zu erlassen, keine bindende Erklärung abgeben, da für diese Frage ausschließlich der Chef der Deutschen Polizei und Reichsführer SS, Abteilung Sicherheitspolizei (Sachbearbeiter Reg Assessor Jagusch), zuständig sei. Er verkenne die Schwierigkeiten nicht, die in der Abgrenzung des Fernverkehrs vom Nahverkehr lägen, und sei der Meinung, daß hier eine bewegliche, auf den Einzelfall abgestellte Grenze zu ziehen sei, die des näheren in einer Durchführungsbestimmung zu der beabsichtigten Polizeiverordnung geregelt werden könne. Er möchte sich allerdings dem Vorschlag von Min Rat Reiser (RVM), den Juden für Reisen im Nahverkehr ein für alle Mal Ausweise auszustellen, aus praktischen Gründen nicht anschließen, da er auf Grund der gemachten Erfahrungen keine neue Art von Ausweisen einführen wolle.
Min Rat Dr. Genest (RVM) führte aus, daß die Frage der Benutzung der Bahnhofswirtschaften durch Juden im gleichen Sinne und in der gleichen Verordnung geregelt werden müsse wie das Reisen der Juden im Fernverkehr überhaupt, so daß Juden in Zukunft nur insoweit Bahnhofswirtschaften und andere Nebenbetriebe der Reichsbahn (Friseurläden) benutzen dürften, als sie eine Reisegenehmigung besitzen. Er hält eine solche Regelung auch deshalb für erforderlich, weil sich häufig schon aus der Benutzung der Bahnhofswirtschaften durch Juden Unzuträglichkeiten mit deutschen Volksgenossen ergeben haben. Es bestand allgemeines Einverständnis darüber, daß dieser Antrag in der Verordnung über die Reisebeschränkung von Juden mitberücksichtigt werden solle. Dies könne am zweckmäßigsten dadurch geschehen, daß man die Benutzung aller Verkehrsmittel im Fernverkehr von einer polizeilichen Genehmigung abhängig mache und in der Durchführungsverordnung bestimme, daß unter „Benutzung der Verkehrsmittel“ auch die Inanspruchnahme ihrer Nebenbetriebe (Bahnhofswirtschaften, Friseurläden, Buch- und Zeitungshandlungen und andere Geschäfte) falle.
Reg Rat Dr. Graef (Reichsarbeitsministerium) erklärte, daß er mit der beabsichtigten Regelung grundsätzlich einverstanden sei. Im Hinblick darauf, daß beim Arbeitseinsatz der Juden mit häufigerer Benutzung der Verkehrsmittel durch sie zu rechnen sei, bitte er, daß, wie bereits im Schreiben des Herrn Reichsministers des Innern vom 28. November 1940 vorgesehen sei, in solchen Fällen an die Stelle der polizeilichen Zuständigkeit für die Genehmigung der Reise diejenige des Arbeitsamts tritt. Alle Anwesenden waren hiermit einverstanden.
ORR Dr. Ottmann (Reichswirtschaftsministerium) erklärte, daß er mit dem beabsichtigten Vorgehen vom Standpunkt seines Ministeriums in vollem Umfange einverstanden sei. Es bestand Einverständnis darüber, daß von dem Reiseverbot die im Schreiben des Reichsministers des Innern vom 11. Januar 1941 erwähnten in privilegierten Mischehen lebenden Juden ausgenommen werden sollen. Auch über die Abgrenzung dieses Begriffs bestand Einigkeit.
Landgerichtsrat Dr. Lampe (Stellvertreter des Führers) führte aus, daß auch nach seiner Meinung die Reisebeschränkung für Juden im Fernverkehr auf alle hierfür in Frage kommenden Verkehrsmittel erstreckt werden müsse. Er habe gegen die beabsichtigte Regelung keine Einwendungen zu erheben. Er beabsichtige jedoch, die vorgeschlagene Regelung einigen Gauleitern zur Stellungnahme zuzuleiten und sie zu befragen, welche Erfahrungen mit der Benutzung der Verkehrsmittel durch Juden im Nahverkehr gemacht worden seien. Er werde das Ergebnis dieser Umfrage dem RVM und dem Reichsminister des Innern mitteilen und bitte, die endgültige Regelung der Angelegenheit solange auszusetzen.