Zwangsarbeit in Berlin
In einem Bericht für den Joint wird die jüdische Zwangsarbeit in Berlin Mitte Februar 1941 dargestellt:
Zwangs-Arbeitseinsatz für Juden in Berlin
Die Situation Mitte Februar 1941
Es wird allgemein angenommen, dass der jüdischen Bevölkerung Berlins der Transport nach Lublin (Polen), der das Schicksal der Wiener Juden war, erspart geblieben ist, weil die Berliner Juden zum Arbeitseinsatz verpflichtet werden. Anfangs war der Arbeitseinsatz für Frauen zwischen 20 und 45 Jahren und für Männer von 18 bis 55 Jahren obligatorisch. Vor einigen Wochen wurde die Altersgrenze um zehn Jahre heraufgesetzt, d. h. für Frauen auf 55 Jahre und für Männer auf 65 Jahre.
Man geht davon aus, dass von den 70 000 bis 80 000 Juden, die heute in Berlin leben, über ein Drittel, d. h. etwa 30 000, im Arbeitseinsatz stehen. Die Bezahlung erfolgt nach dem vorgeschriebenen Mindesttarif und beläuft sich auf etwa 72 Pfennige pro Stunde, während die nicht-jüdischen Arbeiter so viel wie ausgebildete Handwerker verdienen, also etwas zwischen 90 Pfennigen und einer Reichsmark pro Stunde.
Am 1. Mai 1940 wurde im Berliner „Jüdischen Nachrichtenblatt“ eine Anordnung veröffentlicht, der zufolge alle Juden im zuvor erwähnten Alter, die keine Arbeit haben, sich als Freiwillige zum Arbeitseinsatz bei der Jüdischen Gemeinde melden sollen. Offiziell heißt der Ort der Registrierung in der Oranienburger Straße: „Arbeitseinsatz der Jüdischen Gemeinde, Berlin.“ Juden, die glauben, dass sie der künftigen Arbeit körperlich nicht gewachsen sind, unterziehen sich in der letzten Zeit einer ärztlichen Voruntersuchung durch die Jüdische Gemeinde. Anhand der Untersuchungsergebnisse berät die Gemeinde den Betreffenden, ob sie die Zentraldienststelle für Juden über ihre körperlichen Gebrechen informieren sollen. Die für Juden zuständige Nebenstelle des Arbeitsamts der Stadt Berlin befindet sich in der Fontanestraße in Neukölln. Der Direktor ist Herr Eschhaus, der ehemalige Personalchef eines jüdischen Textilunternehmens in Berlin.
Der Berichterstatter hatte ein Ischiasleiden. In der Fontanestraße wurde er für arbeitsfähig befunden und bei der Eisenbahnbaufirma Dudek in Spandau eingesetzt. Das Arbeitsamt stellt meist Gruppen aus 15 bis 20 Juden zusammen, die unter einem nicht-jüdischen Vorarbeiter arbeiten müssen. Die Firma Dudek beschäftigte etwa zehn Gruppen bzw. 100 bis 150 Juden an unterschiedlichen Stellen in Berlin. Der Berichterstatter, der noch nie zuvor körperliche Arbeit verrichtet hatte, wurde der Gruppe „Wedding“ zugeteilt und musste Bruchsteine kennzeichnen, Schienen transportieren, Schrauben anzie-hen usw. Arbeitszeit war von 9 Uhr morgens bis 5 Uhr nachmittags, mit zwei Unterbrechungen von jeweils 15 Minuten, in denen die Arbeiter ihr von zu Hause mitgebrachtes Mittagessen verzehren und Getränke in der Kantine kaufen konnten. Nach ein paar Tagen wurde der Berichterstatter krank, woraufhin er nicht zur Arbeit erschien, mit der offiziellen Begründung, dass seine Schuhe vollkommen kaputt seien. Die Firma beantragte Arbeitsschuhe für ihn, die er auch tatsächlich erhielt. Deshalb nahm er nach etwa einer Woche die Arbeit wieder auf.
Nach vier Wochen, in denen der Berichterstatter aufgrund seiner Krankheit und wegen eines Mangels an geeigneter Kleidung nur zehn Tage gearbeitet hatte - die Arbeit fand teilweise im Wedding und teilweise in Hakenfelde statt -, wurde er der Gruppe „Papestraße“ zugeteilt, in der weniger anstrengende Schaufelarbeiten verrichtet werden mussten. Seine Versetzung wurde durch den Besitzer der Firma veranlasst, der im Rahmen der Möglichkeiten immer vernünftig handelte. Doch der Vorarbeiter, Herr Piontek, war ein Menschenschinder und glühender Antisemit. Er drohte dem jüdischen Arbeiter oft mit der Faust und versuchte, ihn zu schlagen. Danach blieb der jüdische Arbeiter zu Hause, reichte Klage beim Arbeitsamt ein und bat um die Versetzung in ein anderes Unternehmen. Ihm wurde mitgeteilt, dass er nur versetzt werden könne, wenn sein Arbeitgeber ihn offiziell entlasse. Daraufhin suchte der Arbeiter Herrn Dudek auf, und dieser kündigte ihm dann widerstrebend, vermutlich weil er fürchtete, Schwierigkeiten zu bekommen. Im Arbeitszeugnis des Arbeiters heißt es, ihm sei gekündigt worden, weil er „für Arbeit im Oberbau ungeeignet sei“.
Drei Tage später wurde der jüdische Arbeiter vom Arbeitsamt zusammen mit zehn anderen Juden einem Schmalspurschienenwerk in Falkensee zugeteilt. Die Arbeit dort war viel leichter. Drei Männer arbeiteten im Hof (säubern, sortieren usw.), drei mussten die Schienen umladen (die Schmalspurschienen sind viel leichter zu tragen als normale Schienen), und drei arbeiteten in der Werkstatt am Gewindestrehler und an den Bohrmaschinen. Er mochte die Arbeit, da er sie als Vorbereitung für seine Auswanderung und als eine Art Fortbildung betrachtete. Der Vorarbeiter war außerordentlich nett. Der Berichterstatter zeigte ein Foto, auf dem der Vorarbeiter zusammen mit den jüdischen Arbeitern abgebildet ist. Er schloss sich ihnen an, wenn sie in die Kantine gingen und auf dem Nachhauseweg. Die anderen Arbeiter auch, [...]. Sie tauschten Zigaretten und Bier wurde [...] wahlweise von Juden und Nicht-Juden. Der einzige Antisemit war der Seniorchef, der ständig wetterte gegen das „Judenpack, das man schon längst hätte erschießen oder aufhängen sollen“. Die jüdischen und nichtjüdischen Arbeiter reagierten auf solche Ausbrüche mit Schweigen. Als der Vorarbeiter in Urlaub ging, nahm der Sohn des Chefs seinen Platz ein. Dieser war aktives Mitglied in der Nationalsozialistischen Partei, und die Juden hatten große Angst vor ihm. Aber im Gegensatz zu seinem Vater, Herrn M. Grass, war er ebenso nett wie der Vorarbeiter und ging auch mit den Juden zusammen in die Kantine usw.
Ende November, d. h. nach etwa fünf Monaten, wurden die in diesem Unternehmen beschäftigten Juden entlassen. Gerüchten zufolge wurden diese Kündigungen auf Anweisung von oben ausgesprochen, weil die Juden von nun an nur noch in Fabriken arbeiten sollten.
Vier Tage nach seiner Entlassung von der Firma Grass wurde der jüdische Arbeiter der „Gruppenfahrbereitschaft beim Oberbürgermeister der Reichshauptstadt Berlin“ zugeteilt. Angesichts der allgemeinen Knappheit an Autos und Fahrzeugen sowie an Arbeitskräften ist es die Aufgabe dieser Einrichtung, Privatfirmen und öffentlichen Einrichtungen bei Bedarf, und wenn die Angelegenheit als dringlich erachtet wird, Autos und Arbeitskräfte zuzuteilen.
Über diese Institution wurde der Berichterstatter als Einzelperson einem kleinen Kohlenhändler in Lankwitz zugeteilt. Dort arbeitete er nur mit Nicht-Juden zusammen. Sie mussten die Kohle von einem Zug abladen, dann auf Lastwagen laden und an Privathaushalte ausliefern. Auch der Sohn des Kohlenhändlers arbeitete im Geschäft mit; er hatte am Polenfeldzug teilgenommen und war Mitglied der SS. Als er merkte, dass der jüdische Arbeiter nicht kräftig genug für diese harte Arbeit war, übertrug er ihm die Aufsicht über die anderen, nicht-jüdischen Arbeiter, d. h. er musste die Arbeit kontrollieren, das Geld einsammeln, die Quittungen ausstellen, die Trinkgelder entgegennehmen - die sehr großzügig ausfielen, da Kohle eine sehr begehrte Ware ist - und diese abends gerecht verteilen. Auch hier gingen sie zusammen in die Kneipe, um etwas zu trinken, und nahmen gemeinsam Mahlzeiten ein.
Der Berichterstatter gewann den Eindruck, dass die Angestellten vielerorts jüdische Arbeiter willkommen hießen, weil sie sich vor ihnen nicht in Acht nehmen mussten, sondern offen diskutieren und scharfe Kritik äußern konnten. Sie zogen Juden Parteimitgliedern vor, die sie bespitzelten und denunzierten. Der Berichterstatter war nur in Einzelfällen mit Antisemitismus konfrontiert. Die Luftangriffe hinterließen kaum einen Eindruck. Hass auf England war stärker verbreitet als Hass auf die Juden.
Jüdische Arbeiter können zusätzliche Lebensmittelkarten erhalten, wenn ihre Firma sie für sie beantragt. Viele Firmen scheuen sich, die Anträge zu stellen, doch manche tun es. Ob dem Antrag stattgegeben wird, hängt gänzlich von der Gemütsverfassung des Leiters des jeweiligen Amts für Lebensmittelkarten ab. Zusätzliche Karten können insbesondere für schwere Arbeit oder Überstunden (d. h. Arbeiter, die mehr als 11 Stunden täglich arbeiten, die Zeit, die sie für ihren Weg zu und von ihrem Arbeitsplatz benötigen, eingeschlossen) bewilligt werden.
Zusätzliche Lebensmittelkarten für
Schwerarbeiter Überstundenarbeit
500 g Fleisch pro Woche 100 g Fleisch pro Woche
1000 g Brot pro Woche 500 g Brot pro Woche
350 g Fett pro Woche 180 g Fett pro Woche
Die Verwendung von Zehntausenden Juden beim Arbeitseinsatz hat zu einem akuten Mangel an effizienten Arbeitskräften bei den jüdischen Organisationen geführt. Denn obwohl der Arbeitseinsatz offiziell auf freiwilliger Basis stattfindet, besteht praktisch ein Zwang, und die Behörden verlangen, dass alle Juden am Arbeitseinsatz teilnehmen. Freigestellt wird man nur in außergewöhnlichen Fällen, auf Sonderantrag. Die nachlassende Effizienz der jüdischen Gemeindeorganisationen lässt sich vor allem damit erklären, dass sie mittlerweile gezwungen sind, selbst für wichtige Arbeiten untaugliche oder sehr alte Personen einzustellen.
Vor einigen Wochen wurde ein „Arbeitslager“ in Wuhlheide bei Berlin errichtet, in das Juden und Nicht-Juden, „Arbeitsunwillige und Saboteure“, gebracht werden. Einzelheiten über die Bedingungen erfuhr der Berichterstatter nur durch Zufall. Die Bedingungen unterscheiden sich angeblich nicht von denen in den Konzentrationslagern.