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Chronik und Quellen
1940
November 1940

Auswanderung per Schiff

Michael Meyer beschreibt in einem Vortrag am 21. August 1941 seine Emigration, die ihn im Herbst 1940 auf verschiedenen Flüchtlingsschiffen nach Palästina geführt hat:

Eine Wanderung nach Erez-Israel im Jahre 1940

Vor Antritt unserer Reise hatte ich meiner Frau auf ihren Wunsch eine kleine Reise-Tefillah geschenkt. Als Widmung hatte ich hineingeschrieben: Lo janum welo jischen schomer Jisrael. Dieser Passus aus der Gebets-Liturgie unseres Volkes, den ich bewußt gewissermaßen als Motto über unsere Fahrt ins Ungewisse gesetzt hatte, hat sich von Anfang bis Ende bewahrheitet. Wunder über Wunder geschahen, die ich mir nur erklären kann dadurch, daß ein unsichtbares Wesen seine schützende Hand über uns hielt und die Gefahren, die uns ständig umlauerten, von uns abwendete.

Ich beabsichtige nun aber nicht, mich in übersinnliche Betrachtungen zu verlieren. Ich will Tatsachen berichten und überlasse es Ihnen, diese Tatsachen Ihrer Weltanschauung zu koordinieren oder einfach zur Kenntnis zu nehmen.

Den Hintergrund einer Wanderung im Jahre 1940, einer Wanderung aus Deutschland in ein fernes Land, bildet die damalige Judensituation unter dem Naziregime. Es erscheint mir wichtig, diese Situation in einer kurzen Schilderung in Ihr Gedächtnis zurückzurufen, um Ihnen die Spannungen zu vergegenwärtigen, unter denen wir vor unserer Auswanderung lebten.

Nach Erlaß der Nürnberger Judengesetze vom September 1935 und den dazu ergangenen Ausführungsverordnungen war vom Sommer 1937 bis zum Sommer 1938 eine gewisse Stagnation eingetreten. Man ließ die Juden in den Schranken, die man ihnen gezogen hatte, ziemlich unbehelligt. Im jüdischen Kulturbund, im jüdischen Lehrhaus, in den Synagogen konnten sie nach ihren Wünschen leben. Verpönt und gefährlich war nur jeder Eingriff in die Sphäre der Arier. Es war aber Juden keineswegs verwehrt, z. B. Rechtsansprüche gegen Arier bei Gerichten zu verfechten. In nichtpolitischen Angelegenheiten setzten auch Juden ihr Recht bei Gericht durch. Mehrere solcher Urteile befinden sich in meinem Lift in Hamburg. (Sollte das Wunder geschehen, daß wir den Lift noch erhalten, so würde ich die Urteile als historische Dokumente der Nationalbibliothek übergeben, falls sie Wert darauf legen sollte.)

Als charakteristisch für die Zeit bis Mitte Juni 1938 möchte ich noch ein Beispiel erwähnen, das zwar uns persönlich betrifft, aber sich gerade einen Monat vorher abgespielt hatte und, wie gesagt, besonders charakteristisch ist. Wir hatten Mitte Mai 1938 die Bar-mizwah unseres Sohnes noch völlig ungestört in unserer Wohnung in Charlottenburg, Niebuhrstraße, feiern können. Ich war allerdings so vorsichtig gewesen, den in unserem Hause wohnenden Zellen-Obmann zu befragen, ob es erlaubt sei, zu einer religiösen Einsegnungsfeier etwa hundert Verwandte und Freunde in unserer Wohnung zu empfangen. Der Nazimann sagte mir: „Gegen religiöse Feiern von Juden haben wir nichts einzuwenden.“ Auch die übrigen Hausbewohner, sämtliche Arier, fragte ich, ob sie etwas gegen die Feier einzuwenden hätten. Keiner antwortete ablehnend. Einige wünschten sogar Glück für die Zukunft unseres Jungen, darunter ein Ministerialrat des Finanzministeriums. Zu einem Imbiß kamen dann von der Synagoge Pestalozzistraße nicht nur hundert, sondern mehr als dreihundert. Es verlief aber, wie gesagt, alles ohne Störung.

Die geschilderte Situation änderte sich plötzlich Mitte Juni 1938. Es trat eine erhebliche Verschärfung und Gefährdung der Lage der Juden ein. Die Nazis hatten wohl Mut daraus geschöpft, daß sie nach der Annexion Österreichs, die einige Monate vorher im März erfolgt war, die dortige Judenfrage mit einer unerhörten Brutalität radikal angepackt hatten, ohne bei der europäischen Kulturmenschheit auf Widerstand zu stoßen. So glaubte man, es sich leisten zu können, die große Synagoge in München niederzureißen und am Abend des 17. Juni aus den jüdischen Cafes und Restaurants sämtliche Gäste herauszuholen, auf Lastwagen ins Polizeipräsidium zu schleppen und von dort aus alle diejenigen in die Konzentrationslager zu stecken, die irgendwie einmal kriminell bestraft waren. Um dem unmenschlichen Vorgehen einen Schein des Rechts zu geben, stützte man sich auf eine Verordnung, die den Polizeibehörden die Befugnis gab, asoziale Elemente in Arbeitslager zu bringen. Auf Grund dieser Verordnung wurden in den folgenden Wochen noch Tausende von Juden, die einmal wenn auch noch so geringfügig bestraft worden waren, verhaftet und nach Sachsenhausen, Buchenwald oder Dachau gebracht. Weitere Verschärfungen folgten nun Schlag auf Schlag. Die Ausschaltung der Juden aus zahlreichen Wirtschaffsbetrieben, die Löschung der Approbation der Ärzte per 30. September 1938, die Löschung der Anwälte per 30. November 1938 und anderes. Die Tendenz, die die Nazisten verfolgten, war sehr bald klar. Man wollte durch Terror und durch Entziehung der wirtschaftlichen Grundlagen eine Massenauswanderung der Juden erzielen. Es entschloß sich auch ein Teil zur Auswanderung, aber doch nur ein kleiner Teil, meist nur die Kriminellen, die man ins KZ gebracht hatte. Die Zahl der Auswanderer war aber offenbar der Gestapo nicht genügend. Sie holte daher zu neuen Schlägen aus. Am 28. Oktober 1938 erfolgte schlagartig die Ausweisung der jüdischen Polen und die sofortige zwangsweise Abschiebung der jüdischen Polen über die Grenze nach Polen. Es kamen aber nur einige Eisenbahnzüge über die Grenze. Die polnischen Behörden wehrten sich gegen weitere Abschiebungen.

Dann kam die grausige Nacht vom 9. zum 10. November und die Folgezeit: Die Zerstörung der Synagogen, die viehische Ermordung zahlreicher Juden, besonders in der Provinz, die Demolierung von Wohnungen und Geschäften, die Einsperrung von Zehntausenden in KZs, die systematische Beraubung von Juden durch Judenbuße, durch Fortfall aller Steuervergünstigungen, durch indirekten Zwang zum Verkauf von Geschäften, Fabriken und Grundstücken, weit unter Preis, durch den Zwang zur Ablieferung von Gold und Silber und durch vieles andere. Die Vorgänge sind Ihnen ja, auch wenn Sie sie nicht selbst erlebt haben, bekannt. Es genügt, sie durch Stichworte ins Gedächtnis zurückzurufen. Sie wissen ja auch, daß alle diese Greueltaten motiviert wurden mit der Volksseele, die angeblich wieder einmal kochte wegen der Erschießung des Gesandtschaftsbeamten Rath durch Grünspan. In Wirklichkeit waren alle Maßnahmen lange vor dem Attentat vorbereitet, und man hatte nur einen günstigen Augenblick zur Loslassung des furor teutonicus abgewartet. All die skizzierten Abscheulichkeiten veranlaßten endlich die Massenauswanderung, die die Gestapo erstrebt hatte. Meine Frau und ich hatten allerdings uns vor dem 10. November 1938 zur Auswanderung entschlossen. Unser Junge war bereits im März 1939 mit der Jugend-Alijah ins Land gekommen. Er hatte schon seit 1931 die zionistische Schule in Berlin besucht. Auch für meine Frau und mich kam nur Erez Israel in Frage. Ich gehörte bereits seit 1917 der Zionistischen Organisation an und hatte mich schon seit 1911 aktiv zionistisch betätigt. Wir hatten auch unsern Jungen bewußt von Anfang an für eine künftige Alijah erzogen.

Den Entschluß zur Alijah faßte ich im Juli 1938, sogleich nachdem die Gesetze über die Ausschaltung der Juden aus dem Wirtschaftsleben ergangen waren. Ich erkannte darin den radikalen Umschwung und rechnete auch mit dem baldigen Ende der jüdischen Anwaltschaft. Da echte Kapitalistenzertifikate auf normalem Wege schon damals schwer zu erhalten waren, wandte ich mich an eine Stelle, von der ich aus Erfahrungen in meiner Anwaltspraxis wußte, daß sie Baseler Kapitalisten-Zertifikate gegen Zahlung bestimmter Summen verschaffte oder vermittelte. Dieser Weg war bis dahin stets ganz glatt geglückt. Es wurde mir von der Stelle gesagt, daß ich mich gedulden müsse, bis ein Herr Stein oder seine Braut aus Darmstadt nach Berlin kommen würde. Ich möchte aber die erforderlichen RM 2000, die schwarz gezahlt werden müßten, stets bereithalten, damit nach Ankunft des Herrn Stein die Erledigung sogleich vorgenommen werden könnte. Nach einigen Monaten kam die Braut des Herrn Stein nach Berlin. Wir trafen uns, und ich zahlte ihr die RM 2000, natürlich ohne Quittung. Sie machte sich einige Notizen und sagte mir nur: Das Geld würde schwarz nach Palästina transferiert; ich würde demnächst, etwa im Dezember, vom Palästina-Amt Basel die Mitteilung erhalten, daß uns ein Verwandten-Anforderungs-Zertifikat zur Verfügung stände; das Zertifikat müsse mit Rücksicht auf das deutsche Finanzamt so bezeichnet werden, in Wirklichkeit würde es ein Kapitalisten-Zertifikat sein. Ich glaubte nunmehr, alles Meinige für unsere Alijah getan zu haben. Mein Optimismus war nach den Erfahrungen, die man bis dahin mit den Baseler Zertifikaten gemacht hatte, durchaus begründet. Jedoch der 10. November machte einen Strich durch die Rechnung. Unter den Massen, die damals verzweifelt nach Auswanderungsmöglichkeiten suchten, bemühten sich auch einige hundert um Baseler Zertifikate. Diese Möglichkeit, die bis dahin nur in eingeweihten Kreisen wenigen bekannt gewesen war, war in weiteren Kreisen ruchbar geworden. Und die Manager waren so gewissenlos, jedem, der sich an sie wandte, ein Zertifikat zu versprechen. Auch wenn sie gewisse Vorbehalte machten, nahmen sie auf jeden Fall den Obolus entgegen, und dieser betrug nach der Katastrophe vom 10. November meist erheblich mehr als 2000 Mk, da man sich nicht scheute, die Verzweiflung auszubeuten. Es wurde allmählich bekannt, daß als Hauptmanager hinter der ganzen Angelegenheit ein gewisser Brender stand, der seinen Wohnsitz in Palästina haben sollte. Man nannte daher diese Art Zertifikate auch Brender-Zertifikate. Brender selbst kam im Januar 1939 nach Berlin und wurde hier von denen bestürmt, denen seine Agenten Zertifikate versprochen hatten. Es war ohne weiteres klar, daß die Versprechungen in so großem Umfange gar nicht erfüllt werden konnten. In Basel hatte immer nur eine kleine Zahl solcher Zertifikate zur Verfügung gestanden. Es waren diejenigen Zertifikate, die in der Schweiz nicht ausgenutzt wurden, weil dort kein wesentliches Auswanderungsbedürfnis bestand. Der gleiche Gesichtspunkt traf auch auf Länder wie Belgien und Holland zu. Brender bemühte sich daher, auch in diesen Ländern mit Hilfe der dortigen Palästina-Ämter unausgenutzte Zertifikate zu erhalten, um wenigstens einen Teil seiner Kunden befriedigen zu können.

Es würde zu weit führen, zu schildern, daß wir und einige hundert andere ein Brender-zertifikat nicht erhielten. Es ist dies ein besonders trauriges Kapitel, das auch den Gegenstand von Prozessen bildet, die hier im Lande schwebten und noch schweben. Brender, der nach meiner Schätzung mindestens 400000 MK transferiert hat, und zwar, wie ich bestimmt weiß, RM 20,- zu einem Pfund, also mindestens £ 20 000 ohne nennenswerte Gegenleistung eingenommen hat, weigert sich, Rückzahlungen zu leisten. Und die Gerichte haben leider bisher die Klagen gegen ihn abgewiesen. Sie stehen auf dem Standpunkt, daß aus Transaktionen, die nach den deutschen Devisengesetzen verboten sind, auch hier im Lande keine Ansprüche hergeleitet werden können.

Es war also nichts mit einem Brenderzertifikat. Inzwischen war der neue Krieg ausgebrochen, und selbst viele von denen, für die bereits ordnungsmäßige Zertifikate ausgefertigt oder in sicherer Aussicht waren, hatten das Nachsehen, nachdem die englischen Konsulate in Deutschland geschlossen waren. Es gab nun, von ganz besonderen Ausnahmefällen abgesehen, nur noch eine einzige Möglichkeit, nach Erez Israel zu gelangen. Eine sogenannte S.H.-Fahrt. S.H. bedeutet Sonder-Hachscharah. Der Ausdruck wurde gewählt, um zu tarnen, daß es sich um illegale Alijah handelte. Aus dem gleichen Grunde ist das Palästina-Amt Berlin, das in Wirklichkeit diese illegale Alijah, die auch Alijah B genannt wurde, organisierte, und zwar zusammen mit seinen Unterorganisationen, dem Hechaluz und der Jugend-Alijah, nicht offiziell hervorgetreten. Vorbereitung und Durchführung der Transporte lagen offiziell in den Händen eines sogenannten Ausschusses für jüdische Übersee-Transporte.

Illegal waren die Transporte natürlich nur den Engländern gegenüber, in Deutschland waren sie legal und konnten nur legal sein, da alle jüdischen Stellen unter Aufsicht der Gestapo standen, und jede Auswanderung, von vereinzelten Ausnahmen abgesehen, nur mit Wissen und Willen der Behörden möglich war. Vor Kriegsausbruch waren bereits zwei solcher Transporte vom Berliner Hechaluz organisiert worden, und zwar mit Erfolg. Die Teilnehmer dieser S.H. 1 und S.H. 2 waren nach mannigfachen Strapazen und Gefahren gelandet, ohne den Engländern in die Hände zu fallen. Die S.H. 3 ging nach Kriegsausbruch im Oktober 1939 ab, kam nach drei Monaten gleichfalls glücklich an, die Teilnehmer fielen aber den Engländern in die Hände und wurden in Athlit interniert, von wo die Frauen schon nach kurzer Zeit, die Männer nach 6 Monaten entlassen wurden. Auch die Teilnehmer dieser Fahrt hatten viele Gefahren und Strapazen überstanden. Es war sogar auf dem Schiff ein Feuer ausgebrochen, das zwar sofort gelöscht werden konnte, einem jungen Mädchen aber das Leben kostete.

Die S.H. 4 ging im November 1939 ab; sie fror in dem damaligen frühen und strengen Winter auf der Donau an der jugoslawischen Küste ein. Die Teilnehmer, meist Jugendliche, wurden in Cladowe in Jugoslawien in ein Lager gebracht und haben dort durch Hunger und Kälte sowie durch schlechte Unterkunftsverhältnisse viel aushalten müssen. Vielfache Bemühungen, ihnen zur Weiterfahrt zu verhelfen, scheiterten. Erst im Frühjahr dieses Jahres, als die Nazigefahr auch für Jugoslawien näherrückte, kamen die Jugendlichen ins Land auf Grund von Jugendalijah-Zertifikaten, die der immer wieder tatkräftigen Miss Szold zu verdanken waren.

Die S.H. 5 wurde nicht von Berlin aus organisiert, sondern von Wien, von dem dortigen Ausschuß für jüdische Übersee-Transporte in der Roten Turmgasse. Dieser Transport fuhr von Wien aus auf der „Pencho“ die Donau hinunter. Auf das traurige Schicksal der Teilnehmer werde ich noch zurückkommen. Auch die S.H. 6 wurde von Wien aus organisiert. Über ihr Schicksal ist mir nichts bekannt, jedenfalls nichts in Erinnerung.

Ich komme nun zur S.H. 7. Das ist die S.H., die meine Frau und ich mitmachten. Wie schon erwähnt, gab es nach Kriegsausbruch keine andere Möglichkeit. Wir meldeten uns für einen S.H.-Transport in vollem Bewußtsein der Gefahren und Strapazen, die mit einem solchen verbunden waren. Ich war darüber ziemlich informiert, da ich seit Frühjahr 1939 auf dem Palästina-Amt Berlin ehrenamtlich arbeitete und die Berichte über die vorangegangenen Transporte zu meiner Kenntnis gekommen waren.

Es war nicht leicht, mit der S.H. 7 mitzukommen. Der Andrang war ungeheuer. Die Möglichkeit solcher Transporte war früher fast nur in zionistischen Kreisen bekannt gewesen, insbesondere in den Kreisen des Hechaluz, der sie im wesentlichen nur für die chaluzi-sche Jugend organisierte. Seit Februar 1940 war aber diese Möglichkeit in ganz Deutschland bekannt geworden. Damals war die Hapag an das Palästina-Amt Berlin herangetreten und hatte ihm vorgeschlagen, für die illegalen Transporte nach Palästina Schiffe zur Verfügung zu stellen. Das Palästina-Amt wollte hierauf zunächst nicht eingehen, weil es befürchtete, daß die Gestapo dahinter stände, und viele unerwünschte Menschen auf diese Weise abgeschoben werden sollten. Nach einigen Verhandlungen wurde aber erreicht, daß die Anträge auf Mitnahme beim Palästina-Amt einzureichen waren und ausschließlich diesem die Auswahl der mitzunehmenden Personen überlassen blieb. Es ergoß sich nun eine Flut von Anträgen aus ganz Deutschland über das Palästina-Amt. Im Laufe von zwei, drei Monaten meldeten sich etwa 30 000 für die Apala. Apala war der von der Hapag vorgeschlagene Name für die Transporte; sie wollte mit ihrem eigenen Namen nach außen nicht hervortreten. Viele von denen, die sich meldeten, hatten wohl nicht ernstlich die Absicht, nach Palästina auszuwandern; es lag ihnen nur daran, gegenüber der Gestapo einen Nachweis ihrer Auswanderungsbemühungen in den Händen zu haben. Der allergrößte Teil aber meinte es ernst.

Das Palästina-Amt setzte nun Kommissionen zur Prüfung und Entscheidung der Anträge [ein] und stellte hierfür Richtlinien auf. Danach sollten im wesentlichen nur solche für die Mitnahme bestätigt werden, die entweder zionistische Verdienste aufzuweisen hatten oder deren Unterbringung im Lande gesichert war. Voraussetzung einer Bestätigung war ferner gesundheitliche Eignung für die Fahrt und für das Land sowie die Beschaffung der Passagekosten in Dollars. Die Dollars waren notwendig, weil von den Teilnehmern selbst 80000 Dollars aufgebracht werden mußten. In der Regel wurden von älteren Menschen 200 Dollars pro Person verlangt. Bei altverdienten Zionisten, den Watikim, sowie bei den Chaluzim begnügte man sich mit geringeren Beträgen oder ließ überhaupt die Dollarforderung fallen. Die Dollars konnten natürlich nur im neutralen Auslande beschafft werden mit Hilfe von Verwandten und Freunden; sie mußten bei einer Bank in Zürich eingezahlt werden.

Die Beratung des Publikums, das täglich zu Hunderten aufs Palästina-Amt kam, über all die einschlägigen Fragen erforderte einen ganzen Stab von Mitarbeitern. Ich gehörte zu den Beratern. Ich gehörte auch der Kommission an, die über die endgültige Bestätigung zu entscheiden hatte. In den Beratungsstunden waren viele schiefe und unsinnige Ansichten zu berichtigen und Illusionen zu zerstören. Es gab auch drollige Szenen. Eines Tages kam ein altes Mütterchen von fast 70 Jahren und sprach den Wunsch aus, man möchte sie doch mitnehmen nach Apala, sie war der Meinung, das sei irgendein Land in Übersee. Wir mußten ihr leider sagen, daß sie bei ihrem Alter den zu erwartenden Anstrengungen nicht gewachsen sei und daher nicht mitgenommen werden könne.

Von den Zehntausenden, die sich gemeldet hatten, konnte natürlich nur ein kleiner Teil bestätigt werden. Wir kannten die Schwierigkeiten der Organisierung solcher Transporte. Wir kannten insbesondere die Schwierigkeit der Beschaffung von Schiffen. Wir hatten zur Hapag-Apala nicht das Vertrauen, daß es ihr gelingen werde, Schiffe zu stellen. In Betracht kamen - es war nach Ausbruch des Krieges - nur Schiffe neutraler Länder. Auch in den neutralen Ländern war infolge der gewaltigen Schiffsversenkungen jeder Schiffsraum eine Kostbarkeit. Dazu kam das Risiko der Fahrt durch Kriegsgebiete und das Risiko einer erheblichen Bestrafung, die Kapitän und Mannschaften zu gewärtigen hatten, wegen Vergehens gegen die palästinensischen Einwanderungsvorschriften.

Unsere Vermutung, daß die Hapag keine Schiffe stellen könnte, bestätigte sich. Es bemühten sich daher nach den gleichen Methoden, nach denen man für die früheren S.H.-Fahrten Schiffe erhalten hatte, die Ausschüsse für Überseetransporte in Berlin und Wien, unterstützt von der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland und vom Joint. Die Geduld der für die Fahrten Bestätigten wurde aber auf eine harte Probe gestellt. Meine Frau und ich gehörten zu den Bestätigten. Wir wurden von Woche zu Woche, von Monat zu Monat vertröstet. Bald hieß es, Schiffe seien zwar da, und zwar griechische Schiffe, aber die griechische Regierung habe die Ausfahrt verboten; dann hieß es, die Ausfahrt sei zwar gestattet, aber es sei kein Kapitän zu finden. Nachdem ein Kapitän verpflichtet war, war die Schiffsmannschaft nicht zu beschaffen. Nachdem auch die Schiffsmannschaft gedungen war, verlangte der griechische Reeder eine Vorauszahlung von 20 000 Dollar; erst nach deren Zahlung sollten die Schiffe aus dem Hafen Piräus nach der Donaumündung am Schwarzen Meer auslaufen. Darauf wollte man sich nicht einlassen. Man hatte zu dem griechischen Gauner kein Vertrauen. Nachdem auch diese Schwierigkeiten beseitigt waren und die Schiffe tatsächlich in Tulcea an der Donaumündung angekommen waren, wurde uns gemeldet, daß sie noch gar nicht für einen Massentransport eingerichtet waren.

Inzwischen war es bereits Sommer 1940 geworden. Italien war in den Krieg eingetreten, das Mittelmeer war unmittelbares Kriegsgebiet geworden. Frankreich war niedergeworfen. Hitlers Invasion in England und seine Diktatur über Europa drohten Wirklichkeit zu werden. Und viele befürchteten, daß Mussolini die Herrschaft über das gesamte Mittelmeer, auch über Palästina, zufallen würde. Die Situation war jedenfalls so, daß man die Hoffnung aufgeben mußte, noch aus Deutschland herauszukommen oder gar während des Krieges nach Palästina zu gelangen. Es ging bald das Gerücht, daß jede Auswanderung gesperrt würde; dann wieder hieß es, daß Juden bis zu 45 Jahren nicht mehr aus Deutschland herausgelassen würden. Aber das Unwahrscheinliche wurde Wirklichkeit oder wie ich anfangs sagte: Lo janum welo jischen ... Die Vorsehung wachte und schlug die Nazihäuptlinge mit Blindheit, so daß sie nicht erkennen konnten, wie sehr sie selbst sich schädigten dadurch, daß sie noch Juden, insbesondere Jugend, auswandern ließen. Anfang Juli 1940 befahl die Gestapo dem Palästina-Amt, aus der Zahl der für die S.H.-Fahrten Bestätigten 500 auszusuchen und die Liste der Ausgesuchten bis zum anderen Morgen 9 Uhr bei ihr, der Gestapo, einzureichen sowie den Abtransport dieser 500 mit größter Beschleunigung durchzuführen. Eine Kommission, der ich nicht angehörte, trat sofort zusammen, saß die ganze Nacht hindurch und stellte die Liste der 500 zusammen. Es war dabei nicht ohne scharfe Kämpfe abgegangen. Der Vertreter jeder einzelnen Gruppe suchte die Bestätigung einer möglichst großen Anzahl seiner Gruppe durchzusetzen, Vertreter der Chaluzischen Jugend, der Jugend-Alijah, des Bachad, der Watikim und anderer Gruppen. Man hatte schon damals das Gefühl, daß die bevorstehende Alijah die letzte aus Nazideutschland sein würde und daß Bestätigung oder Nichtbestätigung vielleicht eine Entscheidung über Leben und Tod sein würde.

Meine Frau und ich gehörten zu den 500. Wir waren in der Gruppe der Watikim bestätigt worden. Die Zugehörigkeit zu den Watikim allein hätte aber nicht genügt. Es gab außer mir noch Hunderte von Watikim. Den Ausschlag gab, daß für uns in Zürich 200 Dollar Passagekosten eingezahlt waren. Sämtliche Ausgewählten wurden nunmehr vom Palästina-Amt aufgefordert, einen Revers zu unterschreiben. Der Revers wies auf die Gefahren und Anstrengungen der Reise hin, schloß jede Haftung für Schäden aus und betonte insbesondere, daß keinerlei Haftung für eine Ankunft in Palästina übernommen werden könne. Die Unterzeichnung des Reverses bedeutete auch die strikte Anerkennung der Transportbedingungen. Diese waren auf Grund der früheren Erfahrungen abgestellt auf Einhaltung allerstrengster Disziplin und unbedingter Erfolgung aller Anordnungen der Transportleitung.

Unter den Ausgewählten gab es einige wenige, die Angst oder sonstige Bedenken hatten, die Fahrt mitzumachen. An ihrer Stelle wurden andere ausgewählt aus der großen Zahl derer, die wegen ihrer Nichtberücksichtigung protestiert hatten. In der endgültigen Liste, die von der Gestapo genehmigt wurde, waren 350 Jugendliche und Chaluzim bis zum Alter von 30 Jahren und 150 über 30jährige. Die verhältnismäßig große Zahl der Jugendlichen und Chaluzim erklärt sich daraus, daß die S.H.-Transporte im wesentlichen für junge Menschen organisiert wurden, die für den Aufbau des Landes naturgemäß wertvoller sind als ältere.

Wir 500 rüsteten uns nun für die Abreise. Die Tatsache, daß nun doch noch mitten im Kriege ein Transport mit dem Ziel Palästina abgehen sollte, war die Sensation und das Tagesgespräch unter den Juden Berlins. Viele waren skeptisch und meinten, die Gestapo würde uns irgendwohin abschieben, andere meinten, wir würden, auch wenn wir mit den Schiffen auslaufen würden, niemals das Ziel erreichen, wir würden auf eine Mine laufen oder von Flugzeugen bombardiert werden oder von den Italienern gefangengenommen und interniert werden oder monatelang auf den Meeren umherirren, ohne landen zu können, oder wir würden sonst irgendwie zugrunde gehen. Ich wurde von meinen Freunden noch besonders gewarnt, weil ich einige Male eine Grippe mit hohem Fieber gehabt hatte und mir außerdem im Juli bei einem Unfalle noch einen Rippenbruch zugezogen hatte. Durch all diese Skeptiker und Pessimisten ließen wir uns jedoch nicht abschrecken. Wir waren, wie es sich für Juden gehört, Optimisten und mußten es sein. Es blieb uns auch gar keine andere Wahl, nachdem die Gestapo die Auswanderung der 500 befohlen hatte.

Wir mußten zunächst unsere Auswanderungspapiere in Ordnung bringen. Hierfür ließ uns die Gestapo noch einige Wochen Zeit. Hierbei waren mannigfache Klippen zu überwinden. Die Finanzämter prüften noch einmal sehr genau, ob alle Abgaben, insbesondere Reichsfluchtsteuer und Judenbuße ordnungsgemäß bezahlt worden warfen]. Auch die jüdische Gemeinde hatte zu bescheinigen, daß keine Steuerrückstände bestanden, insbesondere die jüdische Auswanderungsabgabe entrichtet war, die der Unterstützung der zurückbleibenden mittellosen Juden dienen sollte. Ich hatte auch eine Schwierigkeit beim Finanzamt, deren Behebung nicht einfach war. Das Finanzamt hatte eine Bescheinigung der Reichsbank verlangt, daß sie gegen die Ausstellung einer Unbedenklichkeitsbescheinigung keine Einwendungen habe. Ich hatte vorschriftsmäßig Gebührenforderungen gegen Devisenausländer der Reichsbank gemeldet, auch den Eingang solcher Forderungen. Einige Gebührenforderungen waren aber uneinziehbar. Es bedurfte langwieriger Verhandlungen mit der Reichsbank, um sie von einer Uneinziehbarkeit zu überzeugen. Die Reichsbank hatte zunächst den Verdacht, daß ich die Forderungen nur deshalb nicht eingezogen hätte, weil ich sie als Devisenwerte im Auslande stehenlassen wollte.

Nachdem alle Klippen siegreich überwunden waren und wir unsere Pässe erhalten hatten, mußten wir sie dem Palästina-Amt zur Beschaffung des erforderlichen Visums einreichen. Wir wollten nach Palästina, es wäre also das Visum des britischen Konsulats nötig gewesen. Aber erstens war das britische Konsulat wegen des Krieges geschlossen, und zweitens hätte es uns Zertifikatlosen kein Visum gegeben. Die Reichsvereinigung hatte aber vorgesorgt. Das Konsulat von Paraguay gab das Gewünschte gegen gute Bezahlung, die die Reichsvereinigung mit Hilfe des Joint leistete. Der Joint hatte auch die Garantie dafür übernehmen müssen, daß wir in Wirklichkeit Paraguay nicht heimsuchen würden.

Nun fehlte nur noch ein Letztes, das Ausreisevisum des Polizeipräsidiums, das nach gesetzlicher Vorschrift für jeden Grenzübertritt erforderlich war. Es wurde anstandslos erteilt, da ja das Polizeipräsidium über uns und über unsere Absichten bereits genau informiert war. Wir hätten nun endlich abfahren können, wenn nicht eine neue Schwierigkeit aufgetaucht wäre. Die griechische Regierung verbot plötzlich die Führung der griechischen Flagge. Eine andere Flagge war zunächst nicht zu beschaffen. Ohne Flagge konnten wir nicht über die Meere fahren. Reichsvereinigung und Palästina-Amt wollten daher nicht die Verantwortung für die Abfahrt übernehmen. Da griff wieder die Gestapo ein und erteilte am 3. August 1940 den Befehl zur Abfahrt in Gruppen. Nach Anordnung der Gestapo durfte am 18. August von den 500 niemand mehr im Altreich sein. Die erste Gruppe sollte bereits am nächsten Tage abfahren.

Nun wurde es wirklich ernst. Die erste Gruppe, eine chaluzische aus der Provinz, reiste vorschriftmäßig ab nach Wien. Andere Gruppen folgten. Vor Abfahrt der Berliner Gruppe veranstalteten Reichsvereinigung und Palästina-Amt eine Abschiedsfeier, bei der immer wieder die Kaltblütigkeit und der Mut hervorgehoben wurden, mit dem die 500 einem ungewissen, gefahrdrohenden Schicksal entgegensahen. Bei der Abschiedsfeier sprach auch der führende Kopf der Reichsvereinigung, Dr. Paul Eppstein, der einige Tage nach der Feier von der Gestapo verhaftet wurde. Es wurde ihm wahrscheinlich zum Vorwurf gemacht, daß er den Abgang des Transportes nicht genügend beschleunigt habe. Meine Frau und ich fuhren mit der letzten Gruppe am Abend des 17. August ab. ln Wien, wo wir Station machen mußten, weil die Flaggenfrage noch nicht geregelt war, wurden sämtliche 500, statt in den erwarteten Massenquartieren, in Hotels untergebracht und verpflegt. Die Kosten trug die Reichsvereinigung. Selbstverständlich geschah auch in Wien nichts ohne Wissen und Willen der Gestapo. Auch die Unterbringung in Hotels geschah auf Anordnung der Gestapo, aber nicht etwa, um uns den Abschied von Hitlerdeutschland zu erleichtern, sondern um die leeren Hotels der ehemaligen Fremdenstadt zu füllen. Aus diesem Grunde drängte die Gestapo auch zunächst nicht auf Weiterfahrt. Nach etwa einer Woche gemütlichen Lebens, in der wir in Wien ungehindert spazieren konnten, allerdings keine Lokale aufsuchen durften, änderte sich das Bild. Die Härte und Unbequemlichkeiten einer S.H. fingen an. Auf Befehl der Gestapo mußten die Hotels innerhalb weniger Stunden von uns geräumt werden, weil von auswärts die Besucher zur Wiener Messe kamen, deren Eröffnung am 1. September bevorstand. Wir wurden nunmehr in Häusern der Jüdischen Gemeinde untergebracht, meine Frau und ich in einer Schule in der Kasteletzgasse. Hier mußten wir in den Klassenzimmern auf dem Fußboden schlafen und die sonstigen Unbequemlichkeiten in Kauf nehmen, die mit Massenquartieren verbunden sind. Auch das Ausgehen wurde erheblichen Beschränkungen unterworfen - ich weiß nicht mehr, ob auf Anordnung der Gestapo oder weil unsere Transportleitung es für richtig hielt, jedes Aufsehen auf den Straßen zu vermeiden.

Ich erwähnte unsere Transportleitung und möchte über sie noch einiges nachtragen. Als oberster Transportleiter war mit autoritärer Machtbefugnis ein junger Mensch von etwa 30 Jahren namens Erich Frank eingesetzt, der an führender Stelle im Hechaluz gearbeitet und die wesentlichen Vorarbeiten für den Transport geleistet hatte. Ihm zur Seite standen 2 Stellvertreter, gleichfalls junge Menschen aus dem Hechaluz. Die Teilnehmer waren in Gruppen eingeteilt. An der Spitze einer jeden Gruppe stand ein Gruppenleiter, der für Ordnung und Disziplin seiner Gruppe verantwortlich war und für ihr Wohl im Rahmen der bestehenden Möglichkeiten sowie für die Durchführung der Anordnungen der Transportleitung zu sorgen hatte. Ich war als einer der Gruppenleiter eingesetzt. Eine Gruppe war die Haganah, bestehend aus 30 besonders kräftigen jungen Menschen, gewissermaßen eine Polizeitruppe, die, erforderlichenfalls mit Brachialgewalt, Ordnung und Disziplin aufrechtzuerhalten hatte.

Diese ganze Organisation und ihre personelle Zusammensetzung beruhte auf Beschlüssen der großen Palästina-Amts-Kommission, in der auch Vertreter der Reichsvereinigung und der jüdischen Gemeinde maßgeblichen Einfluß hatten. Jeder Teilnehmer hatte in dem schon erwähnten Revers mit den Transportbedingungen auch die geschilderte Organisation der Leitung und ihre personelle Zusammensetzung als für sich verbindlich anerkannt. Eine so straffe Organisation und Disziplin war für eine so ungewöhnliche Fahrt, wie wir sie vorhatten, unbedingt notwendig.

Ich komme nun zurück auf unseren Aufenthalt in Wien. Nach einem Warten, das uns unendlich lang erschien und allen möglichen Gerüchten Tür und Tor öffnete - es wurde sogar von unserem Rücktransport ins Altreich gesprochen - kam endlich die Nachricht, daß die Schiffe an der Donaumündung in Ordnung seien und der ehrenwerte Staat Panama die Einwilligung zur Führung seiner Flagge gegeben habe. Natürlich hatte auch dies wieder [die] Reichsvereinigung oder den Joint Geld gekostet. Nun glaubten wir wirklich, am Ende aller Hindernisse zu sein. Es entstand aber ein neues, mit dem wir am allerwenigsten gerechnet hatten. Für unsere Weiterfahrt nach Preßburg benötigten wir das slowakische Visum. Dies war früher durch einen gewandten Vertreter des Wiener Ausschusses stets glatt erreicht worden. Dieses Mal verweigerte es die Behörde. Die Gestapo Wien drohte nun tatsächlich mit unserem Rücktransport ins Altreich, falls wir nicht bis zum 3. September endgültig weiterfahren würden, ln letzter Stunde gelang es, das slowakische Visum zu erhalten; und am 3. September fuhren wir in einem Sonderzuge von Wien nach Preßburg. Auf der Grenzstation wurden wir einer sehr gründlichen Paß-, Zoll- und Devisenkontrolle unterzogen. Bei einzelnen Männern und Frauen wurden Leibesvisitationen vorgenommen. Aus den Gepäckstücken wurden Zigaretten, Lebensmittel, Medikamente, neue Feuerzeuge, Bücher und anderes konfisziert.

Am späten Abend fuhren wir weiter und kamen nachts im Hafen von Preßburg an. Wir bestiegen noch in der Nacht ein Schiff, das uns die Donau hinunter bis zum Schwarzen Meere bringen sollte. Es war ein Ausflugsschiff der Donau-Dampfschiffahrtsgesellschaft mit dem Namen „Uranus“. Auf dem Schiff fanden wir bereits 700 Passagiere vor - „Passagiere“ natürlich ein euphemistischer Ausdruck. Es waren jüdische Leidensgefährten, die zum größten Teil bereits 9 Monate in einem Lager bei Preßburg, der sogenannten Patronka, einer verwahrlosten Patronenfabrik, interniert gewesen waren. Diese Menschen waren im Dezember 1939 vom Wiener Ausschuß nach Preßburg geschickt worden, weil man gehofft hatte, daß sie sich bis zur Ermöglichung der Weiterfahrt in Preßburg würden aufhalten können; sie waren aber sogleich nach der Ankunft von der Hlinkagarde festgenommen und in der Patronka interniert worden. Darunter waren einige hundert Polen, die im KZ Sachsenhausen gewesen waren. Auf Grund von Bescheinigungen des Berliner Palästina-Amtes, daß sie dem nächsten S.H.-Transport angeschlossen würden, waren sie entlassen worden und nach Wien gefahren, um sich dem Transport nach Preßburg anzuschließen und auf diese Weise zunächst einmal aus Deutschland herauszukommen. Diese Leute von der Patronka trafen wir nun also auf der „Uranus“ an, ferner eine Anzahl Wiener. Unter den 700 waren ferner 75, die die Gestapo Wien aus Gefängnissen unmittelbar auf das Schiff geschickt hatte. Zum Unterschiede von uns 500 [des] Berliner Altreich-Transportes nannten wir die 700 Wiener den „Wiener Transport“. 700 und 500 waren wir also zusammen 1200 Menschen auf einem Schiff, das normalerweise für etwa 300 Ausflügler berechnet war.

Außer den Menschen war auch das Gepäck auf dem Schiff unterzubringen. Die Wiener hatten viel Gepäck bei sich, während wir Berliner nur so viel hatten mitnehmen dürfen, als wir selbst hatten tragen können. Es ist klar, daß der Raum, der den Menschen und Gepäckstücken zur Verfügung gestellt werden konnte, äußerst begrenzt war. Für Schlafstellen mußte jeder Fußbreit Boden ausgenutzt werden. Selbst die für 2 Personen berechneten Kajüten, in den[en] Ältere untergebracht wurden, wurden mit 6-8 Personen belegt, wobei noch die Fußböden zu Hilfe genommen werden mußten. Auch die Gänge wurden als Schlafstellen benutzt, natürlich auch das Deck. Auf Deck nächtigten einige hundert, meist Jüngere. Dies war nur dadurch möglich, daß wir während der ganzen Donaufahrt das wunderbarste Sommerwetter hatten. Der Ausdruck „wunderbar“ ist wörtlich zu nehmen; denn es war ein Wunder, daß auch nicht ein Tropfen Regen fiel. Hätte es nachts geregnet, so daß die Hunderte das Deck hätten verlassen müssen, - so wäre der Aufenthalt in den anderen Räumen des Schiffes, in denen ja schon jeder Flecken besetzt war, unerträglich geworden. Hätte es gar ein[en] Dauerregen gegeben, so wäre eine Weiterfahrt mit 1200 Personen unmöglich gewesen. Ein großer Teil hätte das Schiff verlassen und an Land gehen müssen. Die Küstenstaaten hätten aber ein An-Land-Gehen nicht zugelassen. Wir hatten ja für die Küstenländer keine Visen, und Menschen ohne Visum sind keine Menschen. Wir als jüdische Emigranten waren noch besonders verfemt. Auch epidemische Erkältungskrankheiten und dergleichen wären in einer Regenzeit unausbleiblich gewesen; aber, wie gesagt, wir erlebten das Wunder einer völlig regenlosen Zeit. Eine solche war, wie uns der Kapitän sagte, auf der Donau eine Seltenheit. Wir blieben auch von sonstigen Krankheiten im allgemeinen verschont. Es gab zwar eine größere Anzahl Darmerkrankungen, sie verliefen aber harmlos. Dies lag hauptsächlich dran, daß die Ernährungsverhältnisse auf dem Donauschiff noch leidlich waren. In verschiedenen Donauhäfen, in deren Nähe wir anlegten - in die Häfen durften wir nicht hinein -, kaufte der arische Schiffrestaurateur immer wieder frische Lebensmittel ein und ließ sie an Bord bringen.

Wenn man von den zahlreichen Unbequemlichkeiten absah, die das Zusammenleben von 1200 Menschen auf engem Raum mit sich brachte - z. B. die erwähnten Schlafstellen, das Essenholen, Benutzung der Waschräume und der Toiletten -, so war auch sonst das Leben auf dem Donauschiff noch erträglich. Es war sogar zeitweise ein Genuß, wie man ihn auf Erholungsreisen hat, als wir an dem architektonischen Budapest und dem wegen des Geburtstages des Königs festlich erleuchteten Belgrad sowie an den abwechslungsreichen Donaulandschaffen vorbeifuhren. Natürlich brachte das enge Zusammenleben auch Reibungen und Streitigkeiten aller Art mit sich. Wiederholt mußte die Haganah eingreifen, Ruhestörer und Disziplinlose mit Gewalt anpacken. Schon am ersten Tage war es so. Die Wiener, die vor uns auf dem Schiffe waren, hatten auch die für uns bestimmten Kajüten und andere für uns bestimmte Plätze in Besitz genommen. Ein Teil der Wiener weigerte sich, sie zu räumen; sie gaben an, sie hätten in neun Monaten Patronka und vorher im KZ mehr durchgemacht als wir Berliner. Die eigene Transportleitung der Wiener ließ diese Argumente nicht gelten. Da die Disziplinierungslosen ihre Weigerung aufrechterhielten, wurden sie von der Haganah mit Gewalt von den für die Berliner bestimmten Plätze entfernt.

Auch sonst gab es zwischen Wienern und Berlinern fast täglich Schimpfereien und auch Tätlichkeiten, einmal sogar eine versuchte Messerstecherei. Wir Gruppenleiter hatten bei der Schlichtung von Streitigkeiten oft mitgewirkt. Meine Frau und ich waren mit den Wienern gut ausgekommen. Wir gehörten zu den wenigen älteren Berlinern, nur etwa 25, die koscher lebten. Unter den Wienern aber waren es 250. Die gemeinsamen Interessen, die meine Frau und ich mit einer so großen Zahl von Wienern hatten, brachten es mit sich, daß wir mit ihnen friedlich auskamen. Übrigens gab es trotz der großen Zahl von 350 Interessenten auf dem Donauschiff keine koschere Küche. Wir mußten uns im Gegensatz zu den anderen, die täglich eine warme Mittagsmahlzeit erhielten, während der ganzen Donaufahrt mit kalten Eiern und Ölsardinen begnügen, sicherlich nicht eine Ernährung, die die Kalorien- und Vitaminforschung vorschreibt.

Als wir wieder einmal in der Nähe eines Donauhafens lagen, und zwar in der bulgarischen Stadt Rustchuk, hatten wir ein Erlebnis, das unsere jüdischen Herzen grausam packte und unsere Nerven aufwühlte. Wir sahen in einer Entfernung von ca. 200 Metern die „Pencho“ liegen. Dies war das schon erwähnte Schiff, das die S.H.5 an Bord hatte. Bekannt war uns bereits, daß die „Pencho“ nicht seetüchtig war und irgendwo liegengeblieben war. Bekannt war uns ferner, daß auf dem Schiff mehrere auf Grund von Berliner Pal[ästina]-Amts-Bescheinigungen aus dem K.Z. entlassene Polen waren, deren Frauen sich auf unserem Schiff befanden. Diese Frauen waren auf Grund der erhaltenen Nachrichten schon stark besorgt um das Schicksal ihrer Männer. Die „Pencho“ -Leute erkannten uns als Schicksalsgefährten und versuchten, sich durch Sprechchöre mit uns zu verständigen. Auf unserem Schiff trat lautlose Stille ein. Wir verstanden, daß man zurief: „Wir hungern, schickt uns Brot und andere Lebensmittel.“ Wir antworteten im Sprechchor: „Wir werden schicken.“ Es fand sofort eine Sammlung statt. Obwohl wir selbst keinen Überfluß hatten, kamen große Mengen von Brot, Ölsardinen, Schokolade und Zigaretten zusammen. Jeder fühlte sich, daß sich drüben auf dem Schiffe eine der großen Tragödien unseres Volkes abspielte. Besonders betroffen waren die Frauen, deren Männer auf der „Pencho“ waren. Sie weinten, schrieen und flehten unsere Transportleiter sowie den Kapitän an, dafür Sorge zu tragen, daß ihre Männer auf unser Schiff umgeladen würden. Alle Bemühungen waren aber vergeblich. Der Kapitän erklärte, jede Berührung mit dem Schiff vermeiden zu müssen, weil ansteckende Krankheiten an Bord seien. Selbst die gesammelten Lebensmittel ließ er erst nach längerem Drängen und nach Fühlungnahme mit der bulgarischen Polizei an Bord der „Pencho“ schaffen.

Auch das weitere Schicksal der „Pencho“ war besonders traurig. Nachdem sie nach einiger Zeit doch einigermaßen instand gesetzt worden war und das Ägäische Meer erreicht hatte, zerschellte sie an den Klippen einer Insel. Einige gingen unter, die Überlebenden wurden von den Italienern nach Rhodos gebracht und interniert. Auf diese Internierten bezieht sich eine Notiz, die in voriger Woche in der „Hashavua“ zu lesen war. Danach sollten diese vom Schicksal besonders schlimm Verfolgten nach Deutschland zurücktransportiert werden.

Ich komme nun zu unserer Fahrt über die Meere. Wir waren Mitte September mit unserer „Uranus“ an der Donaumündung angekommen bei Tulcea, der rumänischen Stadt, die jetzt öfters von russischen Flugzeugen bombardiert worden ist. In Tulcea wurden wir auf eines der bereits wartenden griechischen SchifFe umgeschifft, und zwar auf die „Pacific“. Die beiden anderen Schiffe hießen „Atlantic“ und „Milos“. Die „Atlantic“ wurde in der Hauptsache belegt mit einem Transport, der aus Danzig gekommen war, die „Milos“ mit einem Transport aus der Tschechoslowakei. Die Passagiere der „Atlantic“ sind die Unglücklichen, die später nach Mauritius transportiert wurden. Die drei Schiffe wollten und sollten nun gemeinsam das Wagnis unternehmen, nach Erez Israel zu gelangen.

Die „Pacific“ war ein Frachtschiff von 700 Tonnen, das normalerweise außer für Frachten für [die] Aufnahme von etwa 50 Menschen bestimmt war. Als wir auf das Schiff kamen, waren wir entsetzt bei dem Gedanken, daß wir 1200 der „Uranus“ darauf Platz finden sollten. Keine Beschreibung kann ein Bild davon geben, wie schließlich doch jeder auf engstem Raum eine Schlafstelle hatte. Das Dichterwort von der „drangvoll fürchterlichen Enge“ wurde hier Wahrheit. Soweit Raum vorhanden war, waren Pritschen aus Holz hergerichtet, die zweifach oder dreifach übereinanderlagen, und zwar so dicht, daß man sich nur in waagerechter oder knieender Haltung bewegen konnte. Eine Trennung nach dem Geschlecht war nicht durchgeführt, aus den verschiedensten Gründen auch nicht durchführbar. Teilweise war die Unterbringung geradezu menschenunwürdig. Es mußten nämlich auch zwei licht- und luftlose Bunker, die nur für Frachten bestimmt waren, als Schlafräume mit verwendet werden. Auch die Decks wurden hierzu verwendet. Diese hatten zwar Licht und Luft in Fülle, in den Nächten aber empfindliche Kälte. Auch jeder Platz auf den Fußböden in den engen Gängen diente zum Schlafen. Wer nachts gezwungen war, die Toilette aufzusuchen, mußte über die auf der Erde schlafenden Menschen hinwegspringen.

Auch am Tage war es kein Vergnügen, die Toilette aufzusuchen und zu benutzen. Es war meist ein so großer Andrang, daß man Schlange stehen und bisweilen bis zu einer Stunde warten mußte, bis man an die Reihe kam. Ganz besonders schlimm war dies, als eine Zeitlang viele von Durchfall mit Fieber befallen waren. Es war wieder einmal ein Wunder, daß bei solchen Toiletten-Verhältnissen keine Seuchen ausbrachen, und es war wieder ein weiteres Wunder, daß wir auch fast während der ganzen „Pacific“-Fahrt das schönste Sommerwetter hatten. Das Schwarze Meer, das als stürmisch gilt, war tagelang so ruhig und spiegelglatt wie der „Neue See“ in Berlin. Der Kapitän sagte uns, daß er dies nur selten gesehen habe. Wir hatten nur eine einzige stürmische Nacht. Der Sturm war gar nicht einmal heftig, aber das kleine, nicht ganz seetüchtige Schiff kam so ins Schwanken, daß wir dem Untergange nahe waren. Der Sturm und eine Welle rissen sogar einen Teil einer Seitenwand weg. Das eingedrungene Wasser wurde aber sofort von unserer todesmutigen „Haganah“ entfernt. Und vor weiteren Gefahren schützte uns eine nahe türkische Bucht, in die wir fuhren und in der wir das Ende des Sturmes abwarteten. Wir hatten also keine Verluste zu beklagen. Im Gegenteil, unser Bestand an Menschen wurde in dieser Schicksalsnacht um einen vermehrt: eine unserer Reisegefährtinnen wurde von einem Kinde entbunden.

Unser Schiff war, um dies nachzutragen, überhaupt nicht gut ausgerüstet. Die Tatsache, daß wir froh sein mußten, aus Nazi-Deutschland herausgekommen zu sein und überhaupt noch ein Schiff bekommen zu haben, war skrupellos ausgenutzt worden. Es war nur ein nichtfunktionierender Kompaß vorhanden. Es fehlten vollständig ein Sextant, die sonstigen nautischen Instrumente und auch ein Radioapparat. Infolgedessen kam es vor, daß der Kapitän die richtige Fahrtrichtung verlor; auch die Heizer waren nicht genügend ausgebildet. Ferner fehlte es oft an Kohlen und Maschinenöl. Infolgedessen fuhren wir manchmal so langsam, wie einstmals ein alter Berliner Droschkengaul eine „Taxe zweiter geute“ zog. Trotz aller dieser Mängel kamen wir aber glücklich durch den Bosporus, das Marmarameer und die Dardanellen ins Ägäische Meer.

Noch einiges über das Leben auf der „Pacific“. Es war ein ständiger Kampf um die primitivsten Lebensbedürfnisse. Immer mußte man anstehen und warten, bis man an die Reihe kam, beim Waschen, beim Zähneputzen, beim Rasieren, beim Essenholen, morgens, mittags und abends, beim Trinkwasserholen, beim Waschen von Wäsche. Das Waschwasser mußte für jeden einzelnen aus dem Meere geschöpft werden, das Trinkwasser war mitunter so knapp, daß tagelang keines ausgeteilt werden konnte, sondern nur zum Kochen ausreichte. An manchen Tagen gab es Trinkwasser nicht einmal zum Kochen, es mußte Meerwasser mit seinem unangenehmen Salzgeschmack verwendet werden.

Eine besondere Plage war das Essenholen. In den engen Gängen, in denen sich auch sonst ein großer Teil des Lebens abspielte, schoben sich täglich dreimal die Hunderte von Menschen aneinander vorbei, richtiger, sie quetschten sich aneinander vorbei. Aus der einen Richtung kamen diejenigen, die ihr Essen bereits empfangen hatten und in ihren Gefäßen den heißen Tee oder die heiße Suppe trugen. Aus der entgegengesetzten Richtung kamen die anderen, die ihr Essen noch empfangen wollten. Wieder ein Wunder, daß nicht täglich Verbrühungen vorkamen, durch Anstoßen an den heißen Tee- und Suppengefaßen. Nur einige wenige Male kam es zu solchen Verbrühungen, die aber nur leichter Natur waren. Weitere Wunder: Wir liefen auf keine Mine, wir begegneten keinem italienischen Schiff. Seltsamerweise sahen wir überhaupt auf all den Meeren, die wir durchfuhren, niemals ein anderes Schiff. Wir kamen uns vor wie die Alleinherrscher des Meeres, anstelle des „meerbeherrschenden“ Albion.

Ein Wunder war auch die Rettung unseres Schiffes, als im Ägäischen Meer einmal auf Deck ein „Neschef“ stattfand, an dem einige Hunderte teilnahmen. Es war dies ein Leichtsinn gewesen. Der Kapitän hatte immer vor größeren Ansammlungen auf Deck gewarnt. Das Schiff legte sich stark auf die Seite, auf der zu viel Menschen waren, und schlug dann nach der anderen Seite noch stärker aus, so daß bereits Gepäckstücke und alles, was lose lag, von den Plätzen fiel. Wir befürchteten, daß das Schiff bei einem nochmaligen Pendeln auf die andere Seite umkippen würde. Auch der Kapitän befürchtete es, es gelang ihm aber, durch geschickte Verteilung der Menschen das Schiff auszubalancieren. Bei einem Umkippen des Schiffes wäre kaum jemand gerettet worden, da wir allein auf hoher See waren, ohne Funkgeräte und mit nur wenigen Rettungsgürteln an Bord.

Auch ein anderer aufregender Vorfall ging ohne Menschenverluste ab. Als wir wieder einmal in der Nähe eines Hafens lagen, um Lebensmittel, Trinkwasser und Kohlen einzuladen, standen fünf ältere Männer und Frauen an der Reling und schauten zur Hafenstadt hinüber, angelehnt an eine Klappe, die zum Ein- und Ausladen von Frachten bestimmt war. Plötzlich gab die Klappe nach, und die Fünf stürzten ins Meer. Sofort sprang ein Dutzend guter Schwimmer nach und rettete die Verunglückten.

Inzwischen waren wir ins Mittelländische Meer gekommen. Unsere Spannung, ob wir ans Ziel gelangen, ob wir Erez Israel sehen, ob wir unsere Kinder, unsere Eltern, unsere Freunde Wiedersehen würden, wurde immer größer. Wir befürchteten immer wieder, unser Kapitän, der noch ohne Kompaß fuhr, würde uns statt nach Erez Israel an die Küste von Nordafrika bringen. Dazu kam noch, daß in den letzten Tagen des Oktobers die Kohlen ausgingen und alles nur irgendwie entbehrliche Holz, einschließend der als Lagerstätten dienenden Pritschen, zur Heizung der Maschinen verwendet werden mußte. Dies hatte zur Folge, daß fast alle Passagiere nunmehr auf dem Fußboden schlafen mußten. Nur die Kranken behielten ihre Holzpritschen. Als auch die Holzvorräte zu Ende zu gehen drohten, sahen wir uns vom nächsten Tage ab wehrlos dem Wetter und Wind und etwaigen neuen Stürmen preisgegeben, ohne Kompaß und ohne Radio und ohne Sicht eines Hafens. Unsere Nerven waren zum Zerreißen gespannt.

Da geschah in der frühen Morgendämmerung des ersten November 1940 das größte aller Wunder. Der Kapitän sagte den in seiner nächsten Nähe Stehenden, daß in weiter Ferne die charakteristischen Höhenzüge des Karmel in Sicht seien. Nach einer halben Minute wußte es das ganze Schiff. Zunächst wollte es niemand glauben, aber nach kurzer Zeit war der Karmel mit bloßem Auge erkennbar. Nun wechselten Tränen der Rührung und Äußerungen der Freude miteinander ab, aber es war kein lauter Jubel und noch weniger ein Freudentaumel. Wir fühlten noch einmal, daß wir viele Male am Abgrunde vorbeigekommen waren. Es war fast ein ehrfürchtiges Schweigen, als wir nach einer weitern Zeit vor dem Hafen von Haifa Anker legten.

Ich bin am Ende meiner Ausführungen. Der weitere Verlauf, unsere Umladung auf die „Patria“, die Gefahr des Weitertransports nach Mauritius, die Explosion auf der „Patria“ mit ihren Folgen, unsere Internierung noch am Tage des Unglücks, am 25. November 1940, sind Ihnen genau bekannt. Genau hundert Tage nach Antritt unserer Fahrt hatten wir das Ziel erreicht, den Boden von Erez Israel zu betreten.

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