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Chronik und Quellen
1940
November 1940

Deportation nach Frankreich

Esther Cohn aus Offenburg beschreibt am 3. November 1940 in ihrem Tagebuch ihre Verzweiflung über die Deportation ihrer Mutter und ihrer Schwestern nach Frankreich:

3.11.40.

Oh, Furchtbares ist in der Zwischenzeit geschehen! Alle Juden aus Baden sind fortgekommen und zwar am 22. Oktober. Es ist ganz schrecklich, einfach unglaublich! Es ist jetzt schon fast 14 Tage, und ich habe immer noch keine Adresse. Ich kann dies Leben jetzt bald nimmer aushalten! Viele Leute schrieben mir, aber was hilft’s mir denn? Wann werde ich meine süße Musch und meine Geschwister Wiedersehen? Werde ich es überhaupt nochmals? Oh, lieber Gott, gib doch, daß wir bald wieder Zusammenkommen, oder falls es nicht sein soll, dann mache doch meinem armen Leben ein Ende. Was habe ich denn davon, wenn ich niemanden mehr habe? Oh, daß ich doch nie geboren wäre, um solches Elend zu erleben! Mein armer süßer Vati ist auch nicht da, hoffentlich bekomme ich bald ein Lebenszeichen von ihm und meinen Lieben, die wahrscheinlich in Südfrankreich jetzt weilen müssen.

Lieber Gott, behüte und beschütze meine einzigen Menschen, die ich liebe, gib ihnen satt zu essen und ein Bett zu schlafen. Bei jedem Bissen, den ich zu mir nehme, denke ich, hat denn mein Mutterle auch was zu essen? Oh, wie grausig ist doch das Schicksal! Lieber Gott, führe mich bald wieder mit ihnen zusammen. So allein kann und werde ich nicht leben. Oh, Mutti, warum haben wir uns in den Ferien nicht besser verstanden? Jetzt, wo ich dich so nötig habe!!!

Am 18. Oktober bin ich unwohl geworden, meine Mutti wollte das doch gerne wissen. Am 13. November hat Frl. Bendix Geburtstag, da sollen wir wieder etwas aufführen, wenn das doch nur schon rum wäre!

Jetzt bin ich schon ein Backfisch. - Frl. Rubens, unsere Englisch-Lehrerin, gibt mir viel Englisch zu lesen, dadurch habe ich mir das Romanlesen ganz abgewöhnt. Wie oft wollte mir Günter schon einen anbieten, aber willensfest sage ich immer nein. Da bin ich nun sehr froh, daß [ich] mir das abgewöhnt habe.

Günter ist zur Zeit mein einziger Liebling. Keinen hab ich so lieb wie ihn. Und wenn mich die ändern noch so deswegen verhöhnen, das ist mir ganz egal.

In letzter Zeit habe ich zwei wunderschöne Bücher gelesen: „Abraham“ und „Dienst auf den Höhen“, eins ist schöner wie das andere. Morgen beginnt die Schule erst [um] 8.50 Uhr. Das ist für den ganzen Winter. Ebenfalls morgen kommen zwei neue Mädels ins Heim. Die „Ruthenburgs“ werden sie bei uns genannt. Ich mag sie sehr gerne, sie waren bei Mirz in der Klasse.

So gute Nacht für heute, liebes Tagebuch.

Den Günter kann ich gar nicht mehr riechen.

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