Tätigkeit des Berliner Kulturbundes
Hermann Samter, Redakteur beim Jüdischen Nachrichtenblatt, schildert Hanna Kobylinski (Koppenhagen) am 12. September 1940 die Tätigkeit des Jüdischen Kulturbunds in Berlin:
Liebe Hanna,
jahrelang habe ich nun nichts mehr von Dir gehört. Vor einigen Tagen bekam ich nun einen Brief von meiner Tante Cläre Samter aus San Domingo, in dem sie so nebenbei erwähnt, daß Eva an Liesel Feist geschrieben hätte, sie möchte sich doch bemühen, Dir die Einreise nach USA zu verschaffen. Dem Brief meiner Tante lag ein Bogen an Fried-länders bei. Die Gelegenheit der Weiterbeförderung benutzte ich, um mich bei Fried-länders nach Deiner Adresse zu erkundigen. Kürzlich habe ich übrigens schon mal den Versuch gemacht, Deine Anschrift herauszubekommen: An Deinem Geburtstag fuhr ich nach Heidelberg. Dabei fiel mir ein, daß ich schon so lange nichts mehr von Dir gehört habe. Aber wie sollte ich zu Deiner Adresse kommen? Ich entsann mich, vor 11 Jahren mehrmals mit Richard bei Euern Verwandten Jabionskis gewesen zu sein. Also ging ich kurz entschlossen zu ihnen. Sie konnten sich zwar nicht mehr auf mich besinnen, waren aber sehr nett zu mir. Deine Adresse konnten sie mir allerdings nicht sagen, wie sie überhaupt sehr wenig über Euch Bescheid wußten. So erfuhren sie erst von mir, daß Deine Eltern gar nicht bei Dir in Kopenhagen sind, wie sie angenommen hatten. Ihr eigener Sohn ist übrigens auch dort, wo Deine Eltern sind, während seine junge Frau bei ihnen wohnt.
Ja, es hat sich viel verändert, seit wir uns das letzte Mal sahen. Wie lange ist das eigentlich her? Von Deinen Eltern hast Du sicher gehört, daß ich mich zur Zeit ihrer Auswanderung auch sehr bemüht habe, nach Südamerika zu kommen. Bisweilen sah es im vorigen Jahr schon ganz aussichtsreich aus, aber dann scheiterte schließlich doch alles. Ich habe aber wenigstens Glück gehabt, daß ich fast ununterbrochen Beschäftigung hatte. Im November 1938 hörte das Berliner Jüdische Gemeindeblatt ebenso wie alle anderen jüdischen Zeitungen auf zu existieren. Aber schon Anfang Januar 1939 bekam ich eine Anstellung beim neugegründeten Jüdischen Nachrichtenblatt. Die Tätigkeit ist ziemlich ähnlich wie die frühere. Wir wohnen in den Räumen der früheren „Jüdischen Rundschau“, gedruckt wird das Blatt in der - arisch gewordenen - Druckerei des Israelitischen Familienblattes. Das Personal stammt von den verschiedenen Zeitungen und dem Kulturbund. Das Unternehmen - der Jüdische Kulturbund - ist ein ganz interessantes Gebilde. Es zerfällt in „Künstlerischer Betrieb“ (Film und sonstige Veranstaltungen wie Theater, Konzert) und „Verlag“. Der Verlag, das sind wir hier in der Meinekestr., gliedert sich in Zeitung und Buchverlag. Da sämtliche jüdischen Verlage und Buchhandlungen aufgehört haben, sind sämtliche Bücher und ihr Vertrieb auf den Kulturbund übergegangen. In unserm Hause sind etwa 40 Leute beschäftigt. - Im August hatte ich 14 Tage Urlaub und fuhr, wie schon erwähnt, nach Heidelberg. Ich kannte es nur von den 8 Tagen her, in denen ich 1929 bei Richard war. Da ich damals dauernd in Vorlesungen lief, habe ich damals nur wenig von Heidelberg kennengelernt. So war eigentlich fast alles neu für mich, als ich dieses Mal hinkam. Es waren jetzt ja Universitätsferien, aber ich glaube, auch sonst merkt man nicht im entferntesten mehr so viel vom Universitätsbetrieb wie einst. Damals im Jahre 1929 habe ich auch nicht geahnt, in welch’ veränderter Situation ich einst wiederkommen würde. Ich habe die 14 Tage sehr ausgenutzt und war fast zu jeder Stunde unterwegs. Es gefiel mir so gut, daß ich wirklich bis zur letzten Minute in Heidelberg blieb: Eine Stunde vor Arbeitsbeginn kam ich am Anhalter Bahnhof an. Es läßt sich dort sehr gut leben. Mir kam es oft wie ein Märchen vor, daß heute noch so etwas möglich ist. Es kommt mir jetzt vor, als ob dies alles nun schon wieder Jahre zurückliegt. Nun muß ich mich wieder mit Havel und Spree statt mit dem Neckartal begnügen. Die schöne Berliner Umgebung ist ja das Letzte, was einem noch geblieben ist. Heute weiß ich das besser zu würdigen als früher. So fahre ich denn auch jeden Sonntag ins Freie. Sonstige Abwechslungen gibt es nicht allzuviele. Einmal in der Woche gehe ich ins Kulturbund-Kino, das die Filme oft gleichzeitig mit dem Uraufführungstheater bringt. Alle zwei Monate gibts ein neues Theaterstück, natürlich alles viel primitiver aufgemacht als etwa noch vor 2 Jahren. Schließlich habe ich merkwürdigerweise noch eine Reihe Bekannter, mit denen ich oft zusammen bin, merkwürdig insofern, als doch die vernünftigen Leute größtenteils schon längst ausgewandert sind.
Meine Tante schreibt, sie hätte schon solange nichts mehr von ihrer Schwester Frau Feist gehört und wüßte gar nicht, ob sie noch in Kopenhagen wäre. Du bist doch sicher öfter bei Feists. Was machen Wechselmanns? Vor allem interessiert es mich, zu hören, was aus Deiner Tätigkeit geworden ist.
Sie hat doch hoffentlich nicht aufgehört. Also bitte, berichte mir recht bald und ausführlich! Von Lotte habe ich schon lange nichts mehr gehört. Sie war wohl nicht viel mit Deinen Eltern zusammen, da das Fahrgeld für sie zu teuer ist.
Herzlichen Gruß!