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Chronik und Quellen
1940
Juni 1940

Brief aus Berlin

Valerie Scheitel aus Berlin schreibt ihrem Freund Karl Wildmann in den USA am 7. Juni 1940 einen sehnsüchtigen Brief:

Mein geliebter einziger Junge!

Du wirst mit mir sein in dieser Welt! Dieser eine Satz Deines letzten Briefes ist überall und immer um mich herum. Ich höre, sehe, fühle ihn. Immer wenn ich das tue, was ich all die Tage vorher auch tat, wenn ich Kinder verbinde, wenn ich nachts zu ihnen gerufen werde, wenn ich nachher nicht schlafen kann und krank vor Sehnsucht am Fenster hocke. Immer tröstet mich Dein: Du wirst mit mir sein ...; tröstet mich und quält mich dabei, denn wann werde ich denn bei Dir sein, sag mir doch, ich bitte Dich, Geliebter, wann? Ich weiß darauf keine Antwort, und das Konsulat weiß nur etwas von 1-2 Jahren, also unendlich, unvorstellbar, unausdenkbar, gleichbedeutend mit 100 Jahren für mich, die in allerkürzester Zeit, sofort, jetzt, bei Dir sein muß.

Nun beginnt der dritte Sommer ohne Dich. Und anstatt, daß ich jetzt mit Dir schwimmen, rudern, in den Wald gehe und alles Schöne, was es hier gibt, mit Dir erlebe, wie es doch so selbstverständlich ist, sitze ich hier und hacke irrsinnig traurig und wütend in die Maschine hinein. Und dabei ist der Sommer gerade heuer so wunderschön. Ach, ich habe Dir ja noch eine ganze Menge zu erzählen: Meiner Mama wurde die Leitung eines Altersheimes in Babelsberg, bei Potsdam (eine Stunde von Berlin) übertragen. Und dieses Heim ist in der Villa eines ehemaligen russischen Diplomaten untergebracht. Das Haus ist märchenhaft gelegen. Am höchsten Punkt des Ortes, unmittelbar neben der Universitätssternwarte, umgeben von einem riesengroßen, ganz verwilderten, urwaldähnlichen, märchenhaften Garten. Das Haus selbst ist wie eine Burg gebaut (ich werde hier allgemein das Burgfräulein genannt). Ganz oben gibt es eine große Kuppel, ein blaues Zimmer mit vielen, vielen kleinen Fenstern, früher ein Musikzimmer. Und hier bin ich am liebsten. Hier singe ich Solvey’s Lied und alle die Lieder, die Du so lieb hattest. Hier sitze ich lange, lange Zeit und träume von Dir. Und dann gehe ich herauf auf das Dach oder steige auf die allerhöchste Spitze der Kuppel. Von hier hat man einen unwahrscheinlich schönen Blick über Villen, Wälder und Seen. Es ist ganz unfaßbar schön. Und es tut so weh, daß ich das alles allein sehen muß und es Dir nicht zeigen darf. Ich werde Leute hier herausbringen müssen. Vielleicht werde ich, wenn ich nicht alleine bin, doch ab und zu mal vergessen können, daß nicht Du es bist, der mit mir hier ist...

Rein sachlich ist die Übertragung der Heimleitung auf meine Mutter eine wunderbare Lösung. Meine Mama bekommt zwar nur ein kleines Gehalt, aber wir sind dadurch wenigstens die ganz schlimmen, bohrenden und manchmal beinahe dramatischen Existenzsorgen los. Und dann, was ganz und gar nicht zu unterschätzen ist, meine Mama hat wieder eine ihr entsprechende Arbeit. Sie hat wieder eine Leitung, sie kann wieder organisieren, dirigieren, eine ihr gestellte Aufgabe aufs beste lösen, steckt bis über den Hals in Arbeit und hat wieder mal absolut keine Zeit. Und das ist wunderbar so! Es gibt viel Arbeit hier, aber ich hoffe, sie kann es ohne Überanstrengung leisten. Und für ihre – zwar sehr kurze - Freizeit hat sie Garten und Balkons. Ich bin unendlich froh und dankbar, daß das alles so kam, d. h. daß meine Mutter diesen Posten bekam.

Ich kann leider nicht in Babelsberg wohnen. Ich mußte mir ein kleines möbliertes Zimmer in der Nähe des Krankenhauses mieten - das erste möblierte Zimmer für mich allein ohne Dich -, komme aber jedes Wochenende - ab und zu mal auch unter der Woche -heraus.

Beruflich geht es mir gut. Ich hatte jetzt durch zwei Wochen die Kinderstation allein geführt. Eine Ärztin war auf Urlaub, die andere krank. Während dieser Zeit wohnte ich auch im Krankenhaus. Leider hat das nun aufgehört. Gerade während meiner Vertretung gab es maßlos auf der Station zu tun. Wir hatten - Multiplizität der Fälle - drei Empyeme, zwei seröse Pleuritiden, zwei schwere Pneumonien bei Frühgeburten - neben den gewöhnlichen Sachen: Otitis, Bronchitis, Drüsenabzesse, Ekzem usw. Das war so eine kleine Kraftprobe! Ich hätte nie gedacht, daß ich sie bestehen würde. Und ich habe sie doch ganz gut bestanden! Natürlich kam der Chef der Station täglich auf eine Stunde zur Visite. Aber er kam auch nicht öfter und blieb auch nicht länger, als bei Anwesenheit der Stationsärztin. Eines der schwierigsten Probleme für mich waren die Schwestern: Das ist eine eigene Gattung Mensch, so eine Schwester, zumindest auf der Kinderstation. Sie sind privat ja alle recht nett, aber auf der Station hat erst einmal nur die Oberschwester zu sagen, dann kommt lange nichts und dann die anderen Schwestern und schließlich evt. auch mal wir. Die werden noch mal sterben vor Wichtigkeit, diese Schwestern!

Liebling, ich habe mich ja schon so oft erkundigt, wann meine Nummer an die Reihe kommt. Ich erfahre aber immer nur so dilatorisch, daß das in ein - zwei Jahren der Fall sein dürfte. Aber verlängern wirst Du wahrscheinlich das Affidavit nicht müssen. Das soll angeblich jetzt nicht nötig sein. Aber all das ist ja noch leider so gar nicht aktuell. Aber [ich] werde nochmals aufs Konsulat gehen und mich erkundigen.

Bitte schreibe mir doch bald und viel. Du ahnst nicht, wie unbeschreiblich ich mich über Deine Briefe freue! Bitte schreibe sehr bald. Ich möchte so gerne wissen, was mit Deiner Praxis wird und was Du sonst für Pläne hast. Wie geht es Deiner 1. Mama? Grüße sie bitte aller-allerherzlichst von mir. Und Zilli und Karl auch. Kommst Du mit Kollegen von uns zusammen? Ist Lonka Schlüssel schon in USA? Grüße bitte auch sie recht herzlich! Und nun leb wohl - für heute und sei unendlich viele Male geküßt Deine Valy

Liebling, ich habe soeben von Herrn Jurmann, dem Schwager von Paula, erfahren, daß unsere Affidavits getrennt werden müssen, d. h. eines für mich allein und eines für meine Mutter allein, und daß dies erst von USA aus beantragt werden muß. Diese Erledigungen dauern oft sehr, sehr lange u. es ist besser u. zeitsparender, wenn alle diese administrativen Fragen jetzt schon in Angriff genommen werden u. erledigt sind, sobald ich aufgerufen werde. Und dann meinte er, daß mehrere gute Verwandtschaftsaffidavits die Chancen natürlich verbessern. Könntest Du mir bitte den genauen Verwandtschaftsgrad meiner Affidavitgeber bekanntgeben, da ich ja diese Verwandten nicht so genau kenne und man genaue Angaben über den Grad der Verwandtschaft machen muß. Und bitte sei so lieb und veranlasse - falls nötig - eine Trennung unserer Affidavits.

Nochmals alles Liebe!

Deine Valy

Entschuldige bitte, mein Liebster, wenn dieser Bogen zerknittert ist. Ich schrieb auf der Dachterrasse während eines heftigen Windes - der tat diesem Papier nicht sehr gut. Ich kann mich nicht entschließen, mit dem Schreiben an Dich aufzuhören. Ich will wenigstens dieses intensive An-dich-denken u. dieses In-Gedanken-bei-Dir-sein so lange als möglich ausdehnen! Mein geliebter einziger Junge, ich möchte so wahnsinnig gerne zu Dir! - Jeder Tag bringt mich ja dem Rüberkommen näher. Und jetzt ist wieder bald ein Tag vorbei.

Vielleicht wird es doch noch einmal werden?!

Küsse u. gute Nacht!

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