Lage der Juden in Deutschland
Der Geschäftsträger der US-Botschaft in Berlin unterrichtet seinen Außenminister am 6. März 1940 über die Lage der Juden in Deutschland:
Betrifft: Die Lage der Juden in Deutschland zu Kriegszeiten.
Exzellenz,
mit Bezugnahme auf das Botschaftstelegramm Nr. 529 vom 1. März, 14 Uhr, und vorherige Telegramme, die die Juden in Deutschland betrafen, habe ich die Ehre, zum eventuellen Nutzen des Ministeriums eine zusammenfassende Darstellung zur Situation der Juden in Deutschland zu Kriegszeiten zu unterbreiten. Diese Bestandsaufnahme basiert auf Informationen aus Berlin, und obwohl die Bedingungen in Österreich, im Protektorat Böhmen und Mähren sowie in Polen angesprochen werden, bezieht sie sich hauptsächlich auf die Lage der Juden im Gebiet des früheren „Altreichs“.
Infolge der Ende 1938 in Kraft getretenen antijüdischen Gesetzgebung sind die deutschen Juden, d. h. die Personen, die per Gesetz aufgrund der Tatsache, dass sie drei oder mehr jüdische Großeltern haben oder dem jüdischen Glauben angehören, zu Juden erklärt wurden, praktisch aus der Geschäftswelt, dem Gewerbe und den akademischen Berufen ausgeschlossen worden. Eine Ausnahme bilden die Heilberufe, die medizinische Behandlung von Juden ist ihnen noch erlaubt. Daher leben viele Juden von Ersparnissen oder den Wohlfahrtsleistungen der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland, jenem Verband, der von der deutschen Regierung ernannt wurde, um die öffentlichen Angelegenheiten der Juden zu verwalten und von ihnen die Beiträge für die jüdische Fürsorge einzutreiben. Im Spätsommer des vergangenen Jahres und vor allem seit Kriegsausbruch sind etwa 20000 Juden wieder als Tagelöhner in der Industrie angestellt worden und werden bei Meliorationsarbeiten und auf dem Bau eingesetzt. Juden sind vom Wehrdienst ausgeschlossen.
Kurz nach Kriegsausbruch wies die deutsche Regierung die verschiedenen jüdischen Einrichtungen an, mit allen Mitteln die Auswanderung voranzutreiben. Dies hat sich jedoch als schwieriger als zuvor erwiesen, zum einen, weil die Feindstaaten als direkte Aufnahmeländer versperrt sind, zum anderen wegen neuer Hindernisse, die sich aus Komplikationen hinsichtlich Transport und Devisenbeschaffung ergeben.
Im Hinblick auf die Auswanderung von Juden deutscher Staatsangehörigkeit aus dem Gebiet des Altreichs hat die Regierung bisher keine Alters-, Berufs- oder sonstigen Beschränkungen festgelegt.
Aus der unten stehenden Tabelle wird die - durch Auswanderung oder Flucht reduzierte - Anzahl der Juden (d. h. Juden im Sinne der vorstehenden Definition) ersichtlich, die noch in den verschiedenen deutschen Gebieten verblieben sind. Diese Statistiken, die wir von der Reichsvereinigung der Juden in Berlin bekommen haben, sind in Bezug auf das Altreich mehr oder weniger exakt, die Zahlen für die anderen Gebiete beruhen auf einer ungefähren Schätzung.
Jüdische Bevölkerung im Deutschen Reich (Altreich)
Anzahl zu Beginn des Jahres 1933 522.700
Volkszählung vom 16. Juni 1933 499.682
plus im Saarland 5.000 504.700
Anzahl Ende 1939 202.400
Auswanderung von Anfang 1933 bis Ende 1939 281.900
Auswanderung seit Kriegsbeginn
a. bis Ende 1939 6.000
b. Januar und Februar 1940 zusammen 2.000
Überschuss Sterbefälle gegenüber den Geburten
von Anfang 1933 bis Ende 1939 38.400
Jüdische Bevölkerung in der Ostmark
Anzahl im Jahr 1933 191.481
vor der Eingliederung in das Deutsche Reich 170.000
derzeitige Anzahl 56.000
in der Stadt Wien im Besonderen:
Anzahl im Jahr 1933 176.034
vor der Eingliederung in das Deutsche Reich 160.000
derzeitige Anzahl 55.000
Jüdische Bevölkerung im Protektorat
vor Angliederung an das Deutsche Reich 250 – 270000
derzeitige Anzahl 160000
Jüdische Bevölkerung in Danzig
frühere Anzahl 8 - 10.000
derzeitige Anzahl 1.400
Prinzipiell hat sich seit Kriegsbeginn an der Behandlung der Juden im Altreich nicht viel geändert. In der Regel erhalten sie die gleichen Essensrationen wie der Rest der Bevölkerung, gleichwohl sind sie alltäglichen Diskriminierungen ausgesetzt: So sind sie gezwungen, sich wegen ihrer Lebensmittelkarten an das Reichsministerium für Ernährung zu wenden und ihre Einkäufe zu festgelegten Zeiten zu erledigen. Zudem erhalten die Juden weder zusätzliche Lebensmittelrationen an Schokolade, Honig und Kuchen noch an Fleisch, darüber hinaus wurden ihnen bis auf Weiteres Kleiderkarten verweigert. In bestimmten Teilen Berlins haben jüdische Familien und Mietshäuser, die vor allem von Juden bewohnt werden, keine Kohlenlieferungen erhalten. Während der kürzlich herrschenden strengen Witterung wurden mehrere tausend Juden in Berlin zur Zwangsarbeit eingeteilt, zum Schneeschaufeln und zum Be- und Entladen der Kohlenwagen.
Die Situation der sogenannten „Mischlinge“ und Halbjuden, von denen allein im Altreich etwa eine Million leben, scheint von Ort zu Ort unterschiedlich zu sein. Insgesamt werden sie etwas besser behandelt als die Juden nicht gemischter Abstammung, aber in bestimmten Bezirken sollen sie unter inoffiziell auferlegten Behinderungen leiden.
Was Österreich betrifft, so ist der rechtliche Status der Juden dem der Juden im Altreich inzwischen praktisch angeglichen worden, und der gleiche Prozess ist offenbar auch im Protektorat Böhmen und Mähren im Gange. Die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland darf sich weder in Österreich noch im Protektorat um die Versorgung der Juden kümmern, und es heißt, dass die Juden aufgrund der noch vergleichsweise ungefestigten Parteidisziplin der Nationalsozialisten in diesen Gegenden, vor allem in Österreich, in erheblich stärkerem Maße als im Altreich illegalen Verfolgungen und Einschränkungen ausgesetzt sind.
Kurz nach der Eroberung Polens kursierten Berichte, es gebe Pläne für eine allgemeine Deportation der Juden aus Deutschland in das neue jüdische „Reservat“, das in Ostpolen im Bezirk um Lublin errichtet worden ist. Eine von der Polizei durchgeführte, detaillierte statistische Erfassung der jüdischen Familien im Altreich hielt man für einen Hinweis auf eine derartige Entwicklung. Doch bislang durfte die jüdische Bevölkerung in den verschiedenen reichsdeutschen Städten, mit Ausnahme Stettins, in Deutschland bleiben.
In Stettin wurde die gesamte, 1200 Personen umfassende jüdische Bevölkerung, darunter auch Juden, die zufällig die Stadt besuchten, und Juden, deren Vorbereitungen zur Emigration ins Ausland abgeschlossen waren, binnen sieben Stunden in der Nacht des 12. Februar zusammengetrieben und per Sonderzug nach Polen verschickt. Sie durften nur eine kleine Menge Gepäck mitnehmen, ihre Wohnungen wurden nach ihrer Abreise versiegelt, und es wurde offiziell erklärt, dass ihr Besitz in Stettin liquidiert und die dadurch gewonnenen Mittel auf einem Sperrkonto deponiert würden. Es war zu erfahren, dass die Stettiner Juden Ostpolen erreichten, wobei mindestens eine Person auf der Strecke starb, und inzwischen in den Städten Piaski, Biala und Terespol im Distrikt Lublin untergebracht sind. Sie werden von den in diesen Städten bestehenden jüdischen Gemeinden versorgt, und es heißt, dass sie unter beträchtlichen Entbehrungen und Nöten leiden.
Die Reichsvereinigung der Juden in Berlin wurde offiziell davon in Kenntnis gesetzt, dass diese Aktion vom Gauleiter des Bezirks Stettin, Herrn Schwede-Coburg, veranlasst worden sei, und da die Reichsbehörden nicht „verantwortlich“ seien, könnten sie die bereits durchgeführten Maßnahmen nicht rückgängig machen. Des Weiteren wurde erklärt, dass die Stettiner Juden in Polen bleiben müssten und dass derzeit all jenen, die ihre Vorbereitungen zur Emigration ins Ausland abgeschlossen hätten, keine Ausreiseerlaubnis erteilt werden könne. Ungefähr am 15. Februar wurde in Schneidemühl, das sich auch im Bezirk von Herrn Schwede-Coburg befindet, die Anordnung erlassen, die dortigen Juden sollten sich für eine Deportation, vermutlich ebenfalls nach Ostpolen, binnen einer Woche bereithalten. Nachdem sie sich in Berlin sachkundig gemacht hatten, erfuhren die jüdischen Dienststellen, dass Herr Schwede-Coburg plane, alle Juden aus der Grenzmark auszusiedeln, jener Region, die im ehemaligen polnischen Grenzgebiet liegt und zu der auch Schneidemühl gehört, und dass ihr Platz dort, ebenso wie in Stettin, von zurückkehrenden Baltendeutschen eingenommen werden solle. Den zentralen jüdischen Institutionen ist es offenbar gelungen, eine Änderung des ursprünglichen Plans, dem zufolge die Schneidemühler Juden nach Polen geschickt werden sollten, zu erwirken. Derzeit werden Maßnahmen geprüft, diese Juden weiter ins Innere des Reichs zu schicken und in kleinen Städten und auf Gütern in jüdischem Besitz anzusiedeln. Es liegen keine Informationen darüber vor, wie viele Juden insgesamt in das Lubliner Reservat geschickt wurden. Bekannt ist, dass ungefähr 4500 aus Wien verschickt wurden und 1000 aus Mährisch-Ostrau im Protektorat. Es gab auch große Deportationen aus den ehemals polnischen Gebieten, insbesondere im Korridor und Posen, darunter Lodz, das nun formal in das Reich eingegliedert worden ist. Die Juden werden zusammen mit einer großen Anzahl Polen aus diesen Regionen entfernt, um für die Baltendeutschen Platz zu machen. Offiziellen Andeutungen zufolge sollen etwa 1400 Juden aus Danzig ebenso wie die Juden aus Ostpreußen am Frühlingsanfang nach Polen abgeschoben werden.
Nach offiziellen deutschen Schätzungen leben etwa zwei Millionen Juden in dem ehemals polnischen Gebiet, das heute das Generalgouvernement ausmacht. Soweit es sich ermitteln lässt, haben bislang keine umfangreichen Transporte von Juden aus dem Generalgouvernement in das Lubliner Reservat stattgefunden, wo sich zusätzlich zu den aus Stettin, Österreich und dem Protektorat verschleppten Juden viele alteingesessene jüdische Gemeinden befinden. Die Juden im Generalgouvernement sind gezwungen, Armbinden zu tragen, müssen Zwangsarbeit leisten und viele Einschränkungen hinnehmen. Obwohl sie aus den Führungspositionen in Handel und Industrie vertrieben wurden, sind sie anscheinend immer noch im Handel tätig.
Die zu Beginn des Polenfeldzugs in Deutschland aufgegriffenen polnischen Juden wurden umgehend verhaftet, einige von ihnen in Arbeitslager gesperrt, aus denen sie später entlassen und nach Polen zurückgeschickt wurden. Einige wurden in Konzentrationslagern interniert, wo sich immer noch etwa ein- bis zweitausend befinden. Obwohl Regierungsvertreter in Berlin der jüdischen Reichsvereinigung versichert haben, es gebe keine Pläne, Juden aus dem Altreich nach Polen zu deportieren, haben die jüdischen Stellen Bedenken, dass im Laufe des Jahres Schritte in diese Richtung unternommen werden könnten. Diese Sorge gründet sich unter anderem auf 1) die vor Kurzem abgeschlossene, bereits erwähnte statistische Erfassung jüdischer Familien im Reich, die, wenn auch nicht erklärtermaßen, genau dem Zweck dienen könnte, eine solche Massendeportation durchzuführen; 2) die Möglichkeit, dass andere Gauleiter versucht sein könnten, miteinander in Wettbewerb zu treten, um dem Stettiner Beispiel nachzueifern; 3) Berichte über den Bau von Baracken in polnischen Kleinstädten, die angeblich für die Aufnahme von Juden vorgesehen sind, die dann in der Umgebung bei Meliorationsprojekten eingesetzt werden sollen; 4) die Tatsache, dass es mit dem Fall der Baltendeutschen und der Deutschen aus Kongresspolen ein Vorbild für die Umsiedlung und Verschiebung von Bevölkerungsgruppen gibt, bei dem darüber hinaus die Organisation und das Instrumentarium, die für die Deportation der Juden erforderlich wären, sozusagen einer Bewährungsprobe unterzogen werden und nun zum Einsatz bereitstünden. Auch wenn zu erfahren ist, dass der Druck aus radikalen Parteikreisen zugunsten einer Massenabschiebung der deutschen Juden nach Polen steigt, insbesondere angesichts der kriegsbedingt nachlassenden Auswanderung, ist bislang nichts über eine endgültige Entscheidung in dieser Angelegenheit bekannt. Man hält es für wahrscheinlich, dass die weitere Erwägung entsprechender Maßnahmen zumindest bis zum Frühjahr verschoben wird, wenn andere Witterungsbedingungen weitere Bevölkerungsverschiebungen begünstigen würden.
Hochachtungsvoll