Juden in Wien
In einem (nicht gezeichneten) Bericht für den Joint wird die dramatische Lage der Juden in Wien zum Jahresende 1939 dargestellt:
Die Juden in Österreich Ende 1939
Es sind immer noch etwa 60 000 Juden in Wien, die unter unvorstellbaren Umständen leben. Die meisten von ihnen wurden gezwungen, ihre Wohnung zu räumen und eine Unterkunft zur Untermiete zu finden. Im 2. und 20. Bezirk werden manchmal zwei oder drei Familien, bestehend aus acht bis zwölf Personen, in einem einzigen Zimmer zusammengepfercht.
Offiziell steht Juden eine Kündigungsfrist von drei Monaten zu, was der üblichen Frist entspricht, doch in der Praxis werden Juden aufgefordert, im Wohnungsamt der Gemeinde Wien zu erscheinen, wo sie versprechen müssen, ihr Heim „freiwillig“ in ein, zwei Wochen zu verlassen. Um dies zu erreichen, kommen alle hinlänglich bekannten Druckmittel der Nazis zur Anwendung.
Die Männer müssen stundenlang an der Wand stehen und bekommen Drohungen zu hören, dass sie noch am selben Tag erschossen werden. Sie werden von den wachhabenden SS- und SA-Männern zusammengeschlagen oder gezwungen, die Treppen zu putzen, herumzulaufen und sich gegenseitig zu beschimpfen und anzuspucken. Neue Unterkünfte werden willkürlich verteilt und sind oft bereits belegt, was zur Folge hat, dass die bisherigen Bewohner ausziehen müssen. Daher kann es Vorkommen, dass bedürftige Menschen die Räume, die sie als Untermieter bewohnen, binnen weniger Monate mehrmals wechseln müssen, ein Vorgang, der sie ihre letzten Ersparnisse kostet.
Bei Kriegsausbruch wurden Männer polnischer Staatsangehörigkeit und Staatenlose polnischer Herkunft verhaftet und in primitiven, provisorischen Lagern untergebracht. Ungefähr 2000 Personen im Alter von 16 bis 87 Jahren wurden verhaftet, etwa die Hälfte von ihnen schickte man Anfang Oktober in das Konzentrationslager Buchenwald. Was die Bedingungen dort angeht, reicht der Hinweis, dass dort innerhalb von sechs oder sieben Wochen 300 Personen starben. Täglich schickt der Lagerkommandant Telegramme an Verwandte [von Insassen] in Wien, in denen er ihnen mitteilt, dass ein Vater, Bruder oder Sohn verstorben ist. Unter dem - möglicherweise zutreffenden - Vorwand, dass in Buchenwald eine Ruhrepidemie herrsche, ist jeglicher Kontakt zu den Gefangenen untersagt, und sie dürfen nicht einmal kleinere Geldbeträge oder Päckchen erhalten. Angesichts der Epidemie, des schlechten Wetters und der dortigen Behandlung (sie müssen in unbeheizten Zelten schlafen) besteht große Gefahr, dass auch, wer noch lebt, zum Tode verurteilt ist. Außerdem befinden sich etwa 200 Personen in Dachau und Buchenwald, die dort [schon] vor dem Krieg einsaßen. Sie sind etwas besser untergebracht, aber es besteht kaum Hoffnung, dass sie in naher Zukunft freigelassen werden.
Ende September wurde die Wiener Jüdische Gemeinde aufgefordert, die Männer im Alter zwischen 18 und 60 Jahren aufzulisten und sie unter Aufsicht der Zentralstelle für jüdische Auswanderung nach Polen zu schicken. Die Anweisungen lauteten dahingehend, dass wöchentlich zwei Transporte mit je 1000 Personen losfahren sollten. Den ersten beiden, nur aus Männern bestehenden Transporten sollten weitere mit Frauen und Kindern folgen. Dazu lässt sich sagen, dass ähnliche Transporte in Böhmen und Mähren angeordnet wurden und auch tatsächlich abgegangen sind. Dank der Bemühungen der Wiener Jüdischen Gemeinde wurden innerhalb von vier Wochen in zwei Transporten nur 1500 der eigentlich vorgesehenen 8000 Männer nach Polen verschickt. Aus Böhmen und Mähren gingen im gleichen Zeitraum 3500 ab. Ein dritter Transport, bestehend aus Männern, Frauen und Kindern, wurde im letzten Moment gestrichen; die Menschen wurden im Asyl der Jüdischen Gemeinde untergebracht. Nach Aussage der Behörden werden sie nur freigelassen, wenn sie eine Einreiseerlaubnis in ein anderes Land vorweisen können. Die Transporte nach Polen wurden aufgeschoben und sollen im März wieder aufgenommen werden. Es kursieren unterschiedliche Gerüchte über die Gründe für diesen Aufschub. Es heißt, die Militärbehörden seien gegen die Transporte und die Ansiedlung der Juden im Gebiet zwischen dem San und der Weichsel (Nisko, Lublin). Dieses Gebiet ist in keinerlei Weise für die Ansiedlung größerer Menschenmassen geeignet. Die meisten Dörfer und Städte liegen in Trümmern, es gibt keine Unterkünfte oder Möglichkeiten, den Lebensunterhalt zu bestreiten. Lebensmittel sind knapp und schwer erhältlich. Polnische Bauernbanden treiben sich in den Wäldern und auf den Landstraßen herum, rauben die durchreisenden Juden aus und nehmen ihnen den größten Teil der 50 kg Gepäck ab, welche ihnen die deutschen Behörden mitzunehmen erlaubten.
Nur 400 bis 500 Handwerker konnten in dem einzigen Arbeitslager in Nisko selbst untergebracht werden, alle anderen Juden mussten in den Norden und Osten von Nisko ziehen, ohne eine Vorstellung davon zu haben, wohin es sie verschlägt. Die meisten der nach Polen Verschleppten ließen ihr Gepäck zurück und marschierten 60 bis 80 km bis zur russischen Grenze, die sie heimlich überquerten. Über ihr Schicksal ist wenig bekannt. Die Organisation dieser schlecht vorbereiteten Transporte wird von den Wiener Juden natürlich als großes Unglück betrachtet, und sie blicken deren möglicher Wiederaufnahme im März 1940 voller Angst entgegen. Die deutschen Behörden wissen selbst nicht, wie der Transfer vonstatten gehen soll, und es scheint sich hierbei um eine planlose Aktion zu handeln, die durchgeführt wird, ohne sich um die Ergebnisse zu kümmern. Eine Reihe von Juden beging Selbstmord, um der Deportation nach Polen zu entgehen. Sofort nach Kriegsbeginn wurde es den Wiener Juden untersagt, nach acht Uhr abends die Straße zu betreten. Nach dem versuchten Anschlag im Münchner Bürgerbräukeller am 9. November wurde die Sperrstunde für Juden auf vier Uhr nachmittags festgelegt. Diese Maßnahmen sind äußerst belastend, da den Juden so nur ein paar Stunden Zeit bleiben, um ihre Einkäufe und ihre persönlichen Angelegenheiten zu erledigen.
Auf die an die Juden ausgeteilten Lebensmittelkarten wurde im November ein „J“ gestempelt. Trotz dieser Karten haben Juden große Schwierigkeiten, Lebensmittel zu kaufen. An vielen Geschäften sind Schilder mit dem Hinweis angebracht, dass Juden nichts verkauft wird, und jüdische Frauen, die in der vorgeschriebenen Zeit ihre Einkäufe zu erledigen versuchen, bekommen zu hören, es gebe nichts mehr, weil die Arier schon alles aufgekauft hätten. Dass Juden Restaurants, Kaffeehäuser oder andere öffentliche Orte nicht betreten dürfen, versteht sich von selbst. Bereits seit Langem sind ihnen Kinos und Theater verschlossen. Alle Juden wurden gezwungen, ihre Radios bei der Gestapo abzugeben.
Die Sterblichkeit unter den Juden steigt, ungeachtet der Tatsache, dass zwei Drittel der Bevölkerung bereits ausgewandert sind. Unterernährung macht sich, vor allem bei den Kindern, bemerkbar.
Zusammenfassend muss man sagen, dass die Wiener Juden unter furchtbaren Bedingungen leben und dass die seelische Folter, der sie ausgesetzt sind, unerträglich ist. Ihres Besitzes beraubt, obdachlos und ohne jede Erwerbsmöglichkeit, sind sie kaum in der Lage, dem ständig steigenden Druck etwas entgegenzusetzen, und warten sehnsüchtig auf ihre Auswanderung. Dieser Druck seitens der Behörden setzte mit dem Anschluss im März 1938 ein und hält seither an. Die Behörden sprechen offen aus, dass Österreich seine Juden loswerden muss und sie sich über das Jahr 1940 hinaus nicht mehr im Land aufhalten dürfen.
Auswanderung bleibt also für die Juden die einzige Möglichkeit, sich zu retten. Eine große Anzahl ist bereits gegangen, und wenn wir diejenigen berücksichtigen, die in Österreich werden bleiben und sterben müssen, dann geht es hier nur noch um 30 000 Personen. 10 000 davon hoffen, 1940 in die Vereinigten Staaten, 5- bis 6000 nach Palästina und 4- bis 5000 nach Shanghai und nach Mittel- und Südamerika auswandern zu können. Es ist daher eine absolute und mit überschaubaren Kosten verbundene Notwendigkeit, in einem der neutralen Länder ein Durchgangslager für etwa 10 000 Personen zu errichten. Damit wäre es möglich, im Jahr 1940 das ganze Problem der jüdischen Auswanderung aus Österreich zu lösen und die Durchführung der geplanten Deportation der Juden nach Polen zu verhindern.