Auswanderungsbemühungen
Siegfried Wolff aus Eisenach schildert am 25. Juli 1939 in einem Brief einer Bekannten seine Bemühungen um Emigration:
Liebe Hanne!
Vielen Dank für Deine liebe Karte, die uns riesig erfreut hat. Wie kannst Du nur denken, daß ich Dir böse wäre! Das ist doch bei unserer Freundschaft ganz ausgeschlossen. Du hast, wie ich weiß, enorm zu tun, und da sich auch nicht jeder so viel mit Schreiben abgibt wie ich, habe ich Dir Dein langes Schweigen auch nicht übelgenommen. Von Jacob, der jetzt öfter bei Käthe war, haben wir die so beglückende Nachricht von der Verlobung Deiner Tochter schon gehört, und ich hätte natürlich sofort geschrieben, wenn Jacob Deine Adresse gewußt hätte. Und so wünsche ich Dir und Deiner Tochter, aber auch Euch allen auch im Namen meiner 1. Mutter zu diesem Ereignis von ganzem Herzen alles Gute. Möge der l. Gtt. seinen Segen zu diesem Bunde geben. Marianne sehe ich noch vor mir, wie sie um Deine gute Mutter besorgt war, sie hat mir in ihrer ganzen Art so gut gefallen, sie war auch eine so gute Tochter, daß sie unbedingt eine gute Frau sein wird. Sie wird sicher ihrem Manne viel Süßes geben - man kann sie eigentlich nur mit dem Worte süß richtig bezeichnen - und sie wird viel Sonnenschein in sein Leben zaubern. Besonders herrlich ist es, daß Du sie in Deiner Nähe behältst; ich sehe jetzt, wie schwer es ist, sich von den Seinen trennen zu müssen. Du hast in Deinem Leben auch so viel Schweres durchgemacht, daß ich Dir ganz besonders diese Freude gönne. Du hast ja auch Deine Mutter so rührend und aufopfernd gepflegt, daß das nun der Lohn ist, Dich im Glücke Deines Kindes sonnen zu können. Daß auch Du nun dauernde Arbeitserlaubnis dort bekommen hast, ist auch etwas, was mich ganz besonders freut. Also nochmals alles erdenklich Gute für Euch alle, und vergeßt mich nicht, der ich ja immer mich so ganz und absolut zu Eurer Familie gehörig fühle. Wie hätten sich Deine Eltern gefreut, wenn sie das erlebt hätten!
Wie Du Dir denken kannst, haben wir viele Sorgen; wir haben eben mit dem Aufbruch zu lange gewartet und sind jetzt natürlich schlimm daran. Ich habe mir die Finger wund geschrieben, dachte, daß ich mit meinen über 100 wissenschaftlichen und auch heute noch anerkannten Arbeiten und meinen 50 unglaublich guten Zeugnissen irgendeine kleine Stelle wenigstens mit freier Station bekommen würde; alles vergebens. Georg Engländer hat mir für meine Mutter und mich Visa für Chile verschafft, um die uns viele beneiden. Aber dort muß ein größeres Depot nachgewiesen werden, was ich nicht habe, und dann darf ich dort weder direkt noch indirekt Arzt sein. Leider habe ich aber trotz aller Forschungen noch nicht die Möglichkeit gefunden, von der Luft zu leben, was ja überhaupt wohl allgemein angenommen wird. Unsere Wartezeit für USA ist infolge der polnischen Quote sehr lange, und so wollte ich gern nach England als Übergang. Es sind auch eine Menge von Freunden dorthin gekommen, z. B. alle Ärzte vom jüdischen Krankenhause in Frankfurt/Main, darunter mein Freund Isaac; ich habe auch bereits am 6.1. beim Woburn House den Antrag für Mutter, Käthe, Ludwig und mich gestellt, die Wartezeit dort verbringen zu dürfen; ich möchte mich in dieser Zeit in der Sprache vervollkommnen und wissenschaftlich arbeiten. Aber nach ewiger Korrespondenz kam dann heraus, daß dort eine Garantie geleistet werden müßte. Daraufhin habe ich mit vieler Mühe erreicht, daß meine amerikan. Verwandten das machten. Diese haben erst angefragt, welche Summe für uns 4 nötig sei und haben dann die geradezu phantastische Summe von 530 £ im März hingesandt. 2 Monate später bekam ich erst die Nachricht, daß diese Summe, die doch das Committee selbst angegeben hatte, nur für mich ausreichen würde, und als ich mich zu dem schweren Entschluß durchgerungen hatte, allein zu gehen, in der Hoffnung, dann die ändern schon nachzubekommen, schreibt das C., daß auch für mich allein noch mehr als 200, nämlich 250 £, also zusammen 780 £ mehr nötig sein. Ich finde, das ist „neither aid nor help, it is nothing”. Und dazu man mehr als 6 Monate. Nun habe ich aber auch nur für mich die vorübergehende Aufenthaltsbewilligung für Holland bekommen. Das ist natürlich ein kleiner Lichtblick; aber was soll aus meiner Familie werden? Ich bin ganz unglücklich darüber, daß wir uns trennen sollen. Außerdem weiß ich auch nicht, was ich dort machen soll, wovon man leben soll. Ich dachte, ob es nicht möglich sei, dort eine Pension aufzumachen; aber das soll ja auch nicht möglich sein. Wir haben ja auch niemanden, der sich irgendwie für uns draußen interessiert, und wenn man alles allein machen soll, kommt man eben nicht weiter. Meine Schwester ist ja wohl auch schon zu alt, um eine Stelle als Hausangestellte dort zu bekommen. Was soll man also tun? Ludwig wird vielleicht an das Konservatorium nach Jerusalem kommen; es geht ihm G. L. gesundheitlich recht gut. Aber trotzdem möchte man ihn ja lieber unter den Augen behalten. Eva kommt als Schwester an das Chest-Hospital in London; die Stelle ist ihr fest zugesagt; aber seit 7 Wochen wartet sie auf ihr permit, was ja auch nervös macht. Sie war im Winter lange Zeit als Schwester in der streng orthodoxen Lungenheilstätte in Nordrach und ist dort auch durch den Betrieb und den sehr frommen Arzt so fromm geworden, und sie weiß mit allem so gut Bescheid, daß sogar Dein guter Vater seine Freude gehabt hätte. So, nun weißt Du Bescheid über uns. Der Brief ist zwar etwas lang geworden, aber ich hoffe, Du nimmst es mir nicht übel, daß ich Dir aus Anlaß eines so frohen Ereignisses, an dem wir so ganz teilnehmen, auch gleich mein Herz ausschütte. Jacobs Frau wollte mir auch mal schreiben und eine Adresse sagen, um die ich sie bat; bisher ist das nicht geschehen; vielleicht erinnerst Du sie mal daran.
Und nun nochmals alles, alles Gute für Euch alle - all kind of happiness - und viele herzlichste Grüße auch von meiner l. Mutter Dein alter, Euch immer treu ergebener