Stimmungslagen auf der „St. Louis“
Eduard und Emma Weil berichten in ihrem Tagebuch vom 5. bis 11. Juni 1939 über das Hoffen und Bangen der Passagiere des Flüchtlingsschiffs „St. Louis“:
Montag, den 5. Juni 1939
Immer noch an Borde des M.S. St. Louis kreuzend zwischen Habana und Florida. „Wenn man eine Reise tut, kann man was erzählen.“ Der Schluss unseres Berichtes sagte, dass wir am Samstag in Habana landen, doch mit des Geschickes Mächten ist kein ewiger Bund zu flechten. Am Samstag, den 27. Mai, trafen wir pünktlich um 4 Uhr vor Habana ein. Das Frühstück war auf 5 Uhr angesagt, so dass man annehmen konnte, wir werden bald ans Land kommen. Zuerst glaubten wir, dass wirklich wegen Pfingsten die Ausbootung noch nicht stattfinden konnte, aber als es Dienstag wurde, erfuhr man, dass es Schwierigkeiten mit der kubanischen Regierung waren, die daran Schuld trugen. So waren wir noch bis Freitag in Erwartung, dass es doch noch zum Ziele kommen sollte. Am Freitag früh aber erfuhren wir, dass das Schiff den Hafen verlassen müsse, & erst dann die Verhandlungen aufgenommen werden könnten. So sind wir jetzt seit diesem Tage bis heute auf hoher See & warten der Dinge ab, die da kommen. Ob wir überhaupt nach Habana kommen, ist heute noch unsicher, aber eines soll sicher sein, dass eine Rückkehr nach Deutschland ausgeschlossen ist. Nun einen Bericht, was sich inzwischen ereignete: Auf dem Schiffe Bestürzung und Aufregung. Grosses Durcheinander von Befürchtungen, Vermutungen, & der Phantasie war Spielraum im höchsten Masse gegeben. Menschen mit Haltung (und deren gab es glücklicherweise viele), verängstigte Gemüter, Lebensmüde und ein Opfer wiederum. Während wir im Hafen von Habana stillstanden & die Verhandlungen gepflogen wurden, kamen ununterbrochen Boote mit kleineren & grösseren Menschengruppen, ganz dicht daran durften sie nicht, aber doch soweit, um mit ihren Zurufen uns zu ermuntern. In einem solchen kam tagtäglich zweimal mit Herrn Gutmann unser Vetter Emil und sein Bruder Simon. Während wir in den ersten Tagen zuversichtlich glaubten, dass es sich nur um eine kleine Verzögerung handeln würde, erkannten wir aus den Mienen der Besucher recht bald die Hoffnungslosigkeit unseres Zustandes, & Freitag früh wurde keines der Boote zugelassen, um uns nicht noch mehr zu betrüben. Auf 10 Uhr war die Abfahrt aus dem Hafen uns zugesagt, eine Fahrt ins Blaue, da geschah eine unerwartete Begebenheit. Die Passagiere wurden in der grossen Halle versammelt, und auf der Tribüne erscheint ein Komitee: Dr. Goldschmidt vom Joint, ein zweiter massgebender Herr vom Joint, die Herren der Schiffsleitung & ein Beamter der kubanischen Polizei. (Wir waren bis dahin auf dem Schiff von einer grossen Anzahl kubanischer Polizisten bewacht.) Die Ansprache war herzergreifend, beruhigend und brachte den meisten die Gewissheit, dass wir geborgen sind im Schutze des Joint und anderer Institutionen, wie auch die Würfel fallen mögen. Der Aufruf zur guten Haltung wirkt nachhaltig bei vielen, die Ungewissheit aber bedrückt jeden einzelnen, denn in Wirklichkeit schaukeln wir seit 10 Tagen auf offenem Meere hin & her. Einige Telegrammanschläge sollen [,..] Die Schiffsleitung und besonders der Kapitän erfüllen in herzlicher Anteilnahme ihr Möglichstes. „Verhandlungen in Kuba dauern weiter, nicht ungünstig, behaltet Mut, wir tun alles Menschenmögliche für Euch.“ Der Kapitän wird von der Ha-pag ermächtigt, seine Reiseroute nach den Verhältnissen täglich zu ändern. Das Schiff fährt jetzt in der Rich[tun]g zwischen gleicher Entfernung von Habana, Haiti & New York. Gestern war der Kapitän an der Floridaküste ganz nahe an Miami, um den Passagieren diesen wunderschönen Badeort zu zeigen. Der Anschlag, dass das Schiff keinesfalls wieder nach Hamburg zurückfährt, hat grosse Beruhigung ausgelöst. Der heutige Anschlag lautet: Joint Komitee in Unterhandlung mit Präsidenten. Ergebnis wahrscheinlich erst Montag bekannt. Für den Kapitän bestimmt: „Fahren Sie langsam bis auf weitere Ordre.“ So stehen wir heute, Montag früh und hoffen, endlich ein erlösendes Wort zu hören. Ein anderer bisher ungenannter Staat hat angeboten, die Passagiere an Land zu nehmen. Man meint, es handle sich um Haiti.
Heute, Freitag, den 9. Juni, halten wir immer noch an der Alef. Wir schwimmen weiter, & wohin wir kommen, wissen wir auch heute nicht. Aber einmal werden wir landen & wieder festen Boden unter die Füsse bekommen, aber wann dies der Fall sein wird, das ist die grosse Frage, die alle Passagiere bewegt. Die täglichen Nachrichten widersprechen sich, & wenn alle Passagiere die Ruhe behalten würden wie wir, dann wäre es gut, aber man kann auch die verzweifelten verstehen, denn immer wieder tritt die Frage auf, ob wir nicht doch wieder in D. landen werden. Das Wetter hat sich auch verschlechtert, es regnet, wir sind in Richtung auf die Azoren, also bald wieder näher an Europa. Seit gestern sind auch die Wellen etwas rebellisch geworden, die Windstärke 6, keine grosse Sache, aber es hat wieder viel Seekranke gegeben. Die Leute sind nicht mehr so widerstandsfähig. Wir selbst als alte Seefahrer sind immer gesund gewesen & hoffen, es auch weiter zu sein, auch wollen wir Geduld üben & weiter ausharren, zumal uns kein anderer Weg übrigbleibt. Depeschen werden überall hingesandt, an hohe und höchste Personen und Stellen, aber bisher haben wir nur Trostesworte gehört. Sehr enttäuscht sind wir von Amerika, das bis heute nur die pekuniäre Seite behandelt, aber keinerlei Anstalten macht, uns in das Land aufzunehmen. Jetzt wollen wir Schabbos halten & warten, was weiter kommt.
Sonntag, den 11. Juni. Der Schabbos war gut. Am Freitag abend um 5 Uhr Versammlung der Passagiere, bei welcher Gelegenheit ein Herr des Schiffkomitees sprach, auch der Kapitän, aber alles nur Trostesworte und viel Beruhigungspillen zum Schlucken, aber der Magen ist für solche Medikamente nicht mehr so aufnahmefähig. Anschliessend war ein würdiger Freitagabendgottesdienst & auch ein solcher am Samstag früh. Bei beiden Gelegenheiten wurde ein[e] kurze Ansprache gehalten, die recht schön war, es geht aber so, wie es auch in Stuttgart bei Predigten immer oder meistens war, diejenigen, welche es anging oder in der Hauptsache angehen sollte, waren nicht anwesend. So ist auch der Schabbos vorüber, die Woche hat angefangen, aber wie wird sie enden, wo werden wir am nächsten Sonntag sein? Jetzt hat sich Warburg eingeschaltet, aber auch nur theoretisch, das Praktische fehlt noch immer. Heute kommt die Nachricht, allerdings nicht offiziell, dass Kuba und San Domingo erledigt sei, was deshalb anzunehmen ist, weil wir 7 Tage von Habana weg sind. Es wurden Aufnahmen gemacht, wieviel Passagiere Visum & wieviel Permits nach England haben. Auch wegen Affidavits nach Amerika wurde schon nachgeforscht. Es wäre ein Witz der Weltgeschichte, wenn wir, um nach England zu kommen, die fünfwöchentlich [e] Seereise gemacht hätten. Aber wir warten mit Geduld ab. Natürlich hören wir nichts von der Aussenwelt. Erfreut waren wir gestern, als ein Telegramm unseres Mitbewohners Bloch ankam, der sich nach unserm Befinden erkundigte. Unsere Post liegt in Habana und ist nicht zu kriegen. Grau ist alle Theorie. Tatsachen möchten wir endlich einmal sehen, aber ich befürchte, davon sind wir noch weit entfernt. Jetzt wollen wir abwarten, was der Sonntag bringt & wenn wieder nichts kommt, dann warten wir eben in Gottes Namen weiter ab.
Hoffentlich sind auch unsere Verwandten und Freunde in Deutschland gesund. Dass wir dasselbe von unsern Kindern erwarten, ist selbstverständlich. Von diesen haben wir aus England überhaupt noch nichts gehört.